Israel: „Wir haben den Frieden aus den Augen verloren“

Interview

Am 7. Oktober 2023 tötete die Hamas die Friedensaktivistin Vivian Silver in ihrem Haus im Kibbuz Be’eri. Ihr Sohn Yonatan Zeigen setzt sich seitdem für ein Ende des Krieges in Gaza und eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ein.

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Foto: Ein Mann mit kurzen Haaren und Bart steht mit verschränkten Armen vor einem Fenster, schaut ernst in die Kamera.
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Yonatan Zeigen nutzt seine Stimme als Hinterbliebener, um die Botschaft seiner Mutter weiterzutragen: Frieden.

Das Interview führte Hannah El-Hitami.

Am 7. Oktober wurde Ihre Mutter von der Hamas getötet. Wie kamen Sie nach diesem schmerzhaften Verlust dazu, eine der lautesten Stimmen für Frieden in Israel zu werden?

Vor dem 7. Oktober war ich politisch nicht aktiv. Aber nach dem Verlust meiner Mutter hatte ich zum einen ein persönliches Bedürfnis nach Heilung. Ich wollte der Hilflosigkeit etwas entgegensetzen, die ich an jenem Tag verspürt hatte. Zum anderen empfand ich eine politische Verantwortung, eine Dringlichkeit, aktiv zu werden. Der 7. Oktober war für mich eine sehr persönliche Erfahrung, aber sie wurde schnell öffentlich. Zunächst engagierte ich mich zusammen mit den Familien der Geiseln für deren Freilassung. Ich habe viele Interviews gegeben und Diplomaten getroffen.

Weil Sie bis November keine Gewissheit über das Schicksal Ihrer Mutter hatten?

Genau. Nachdem Vivian identifiziert worden war, hatte ich das Bedürfnis, Verantwortung zu übernehmen. Ich hatte plötzlich den Status eines Hinterbliebenen. Das war traurig, aber es bot mir zugleich eine Plattform. Ich beschloss, meine Stimme zu nutzen, um die Botschaft meiner Mutter weiterzutragen.

Welche ist das?

Ganz einfach: Frieden. Ich setze mich dafür ein, dass wir diese Tragödie als Ausgangspunkt für etwas Neues nutzen. Wenn ich nicht persönlich betroffen wäre, würde sich vermutlich niemand dafür interessieren, was ich zu sagen habe. Aber weil es Menschen interessiert, bin ich es meiner Mutter, meinen Kindern und unseren Völkern schuldig, dass ich mich für Veränderung einsetze. Ich sehe nicht, wie ich einfach in mein vorheriges Leben zurückkehren und untätig sein kann. Das Leben hier kann nicht weitergehen, ohne dass die Besatzung und der Konflikt enden. Ich möchte ein Teil davon sein und beitragen, was ich kann.

Unter den aktuell führenden Friedensaktivist*innen in Israel sind einige wie Sie, die am 7. Oktober selbst geliebte Menschen verloren haben. Wie gelingt es Ihnen und anderen, trotz dieser schmerzhaften Verluste weiterhin Frieden zu fordern, statt zum Beispiel Rachegefühle zu empfinden?

Das werde ich oft gefragt. Diese Frage geht davon aus, dass das anstrengend für mich ist. Aber das ist es nicht. Ich denke einfach so. Ich kann Wut fühlen, Trauer, Verzweiflung, vielleicht auch Rachsucht. Meine Gefühle und mein Verstand sind aber nicht dasselbe, auch wenn sie sich gegenseitig beeinflussen. Wenn ich Schmerz empfinde, überlege ich mir, wie ich mit diesem Schmerz umgehe. Dazu benutze ich meinen Verstand. Wird mein Schmerz gelindert durch mehr Leid und Krieg? Zweifellos nicht. Der einzige Weg, meinen Schmerz zu heilen und ihm eine Bedeutung zu geben, ist, eine Situation zu schaffen, in der er sich nicht wiederholt. Das ist nur durch Frieden möglich.

Ein Jahr ist seit dem Angriff der Hamas vergangen, ein Jahr dauert der Krieg in Gaza an. Haben Sie erwartet, dass sich die Lage so entwickeln würde?

Ja und nein. Alles fühlt sich so naturgegeben an und zugleich so überraschend. Wenn Krieg ausbricht, kann man erwarten, dass er immer komplizierter und grausamer wird und nicht nach einer Woche endet. Gleichzeitig bin ich überrascht, dass er jetzt schon ein Jahr andauert und kein Ende in Sicht ist. Ich schwanke immer hin und her zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Ich hatte erwartet, dass der 7. Oktober und die heftige Reaktion Israels ein entscheidender Wendepunkt in diesem Konflikt sein würde. Und vielleicht stecken wir da gerade mittendrin. Es braut sich etwas zusammen. Ich denke, wir befinden uns auf der Schwelle – entweder zu einer völlig neuen, besseren Realität für Israel und Palästina. Oder das Schlimmste kommt erst noch.

Vor einem halben Jahr sagten Sie in einem Interview, dass Israelis keinen Frieden wollen. Sehen Sie das immer noch so?

Eigentlich wollen die Menschen ein gutes Leben.

Hieran hat sich nichts geändert. Das ist das Ergebnis jahrelanger Entmenschlichung auf beiden Seiten. Sowohl die israelische als auch die palästinensische Gesellschaft haben zu viel Macht und Legitimität an fundamentalistische Extremisten abgegeben. Dadurch haben wir die Möglichkeit eines Friedens aus den Augen verloren. Jetzt sagen wir, es ist zu kompliziert. Aber eigentlich wollen die Menschen ein gutes Leben. Sie würden sich einem Frieden nicht entgegenstellen. Wir brauchen eine starke Zivilgesellschaft und eine politische Vision, die deutlich macht, dass Israelis nur sicher und Palästinenser nur frei sein können, wenn wir zu einer aufrichtigen und dauerhaften Einigung finden. Sobald sich die politische Führung dafür einsetzt, wird sich auch die öffentliche Meinung ändern.

Ist das mit der aktuellen Regierung möglich?

Nein. Darum brauchen wir die internationale Gemeinschaft. Wenn ich mit Repräsentanten in anderen Ländern spreche, sagen sie: Der Wandel muss von euch kommen. Aber ich frage: wie soll der Wandel von uns kommen, wenn wir einen blinden Fleck haben, den ihr die ganze Zeit befeuert? Die internationale Gemeinschaft investiert Ressourcen in den Status quo. Ihre finanzielle und diplomatische Unterstützung ist bedingungslos. Wir genießen die Privilegien einer Besatzungsmacht. Warum sollten wir das ändern, wenn uns niemand klarmacht, dass das ein Problem ist? Wir Israelis denken, dass wir ein Sicherheitsproblem haben und mehr Waffen brauchen, um es zu lösen. Deutschland, Europa, die USA unterstützen uns in diesem Glauben. Dabei ist Sicherheit nur das Symptom. Das Problem ist die Besatzung, aber das verstehen Israelis nicht von alleine.

Wie konkret könnten Signale der internationalen Gemeinschaft aussehen?

Sie könnte Banken sanktionieren, und diplomatische Beziehungen abbrechen, bis sich etwas ändert. Sie könnte stattdessen mehr Ressourcen in gemeinsame politische und zivilgesellschaftliche Projekte von Israelis und Palästinensern investieren. Dann hätten auch politische Akteure im Land einen Anreiz, sich für eine Lösung einzusetzen. Sie könnten ihren Wählern klarmachen: es gibt ein Paket. Wir bekommen Unterstützung von außen, um eine neue Realität zu schaffen, die sicherer, wirtschaftlich entwickelter und besser ist. Das einzige, was wir dafür aufgeben müssen, ist die irre Vorstellung, dass wir die Palästinenser dominieren müssen. Das ist alles! Doch solange wir uns selbst überlassen sind, wird jeder Mensch, der Frieden möchte, als Verräter gesehen. Es gibt weder Anreize noch Legitimation, sich dafür einzusetzen.

Es ist schwer, in Israel gerade über Frieden zu sprechen.

Werden auch Sie als Verräter bezeichnet?

Ich gucke mir keine Kommentare in den sozialen Medien an. Aber unsere Arbeit wird marginalisiert, sogar in linken Kreisen. Es ist schwer, in Israel gerade über Frieden zu sprechen.

Wie genau würde so ein Frieden aussehen?

Die Details werden sich regeln lassen, sobald wir entscheiden, dass wir ernsthaft eine Lösung wollen. Es könnte immer noch eine Zweistaatenlösung geben. Ich persönlich bin eher für eine Föderation oder Konföderation. Es gibt verschiedene Ideen. Für mich ist am wichtigsten, dass wir uns überhaupt an einen Tisch setzen, mit dem Willen, eine Vereinbarung zu treffen, die beiden Seiten passt. Israel will Sicherheit, die Palästinenser brauchen Menschenrechte, Freiheit, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Wenn wir mit diesen Ideen zusammenkommen und nicht mit Religion und Ideologie, dann ist es ganz einfach. 

Die meisten Israelis haben noch nie mit einem Palästinenser gesprochen, schon gar nicht mit einem ohne israelische Staatsbürgerschaft. Durch meine Friedensarbeit habe ich zum ersten Mal Beziehungen zu Palästinensern aufgebaut. Wir sind ganz normale Menschen und es ist so einfach für uns, einander zu begegnen. Wenn wir so zusammensitzen, scheint alles möglich.

In welchen Momenten haben Sie das Gefühl, dass Ihre Arbeit sich lohnt?

Es ist ein hartes Brot, immer wieder an verschlossene Türen zu klopfen. Aber ich spüre, dass das, was ich tue, etwas bewirkt. Manchmal sehe ich am Ende einer Veranstaltung ganz deutlich, dass sie die Teilnehmenden verändert hat. Vor kurzem war ich zu Gast in einer jüdischen Gemeinde in Los Angeles. Als ich sagte, dass sie als jüdische Menschen ihren politischen Einfluss nutzen müssen, um die amerikanische Regierung unter Druck zu setzen, haben sie alle applaudiert. Ich sehe kleine Veränderungen im Diskurs und in der internationalen Politik. Klar war das nicht nur ich, aber ich bin Teil einer kollektiven Anstrengung, die das möglich macht. Es geht zu langsam und es ist nicht genug, aber es gibt eine Entwicklung in die richtige Richtung. Und ich hoffe, dass ich sie weiter anschieben kann. 

Es ist auch sehr erfüllend für mich, zu merken, dass meine Kinder stolz auf mich sind. Sie stehen hinter mir und interessieren sich für die Idee des Friedens. Mein Sohn muss gerade ein Referat für die Schule vorbereiten. Vor etwa einem Jahr hielt er sein Referat über Fabelwesen. Diesmal hat er sich entschieden, über Frieden zu sprechen. Das hat er sich ganz allein überlegt, ohne meinen Einfluss. Das berührt mich sehr. 

Wie verbringen Sie den 7. Oktober 2024?

Mit meiner Familie und der Gemeinschaft im Kibbuz. Im November werde ich des Todes meiner Mutter gedenken. Dann werden wir zum ersten Mal den Vivian-Silver-Impact-Award an zwei Frauen verleihen. Den Preis sollen von nun an jedes Jahr eine jüdische und eine palästinensische Person erhalten, die sich für Koexistenz, Frieden und die Förderung von Frauen einsetzen.