„Die Demokratie in Israel ist schwach. Es ist eine schlechte Demokratie, aber sie wird fortbestehen”, sagt der bekannte Soziologe Sammy Smooha. Michael Elm hat mit ihm über den Zustand der Demokratie in Israel gesprochen.
Als Soziologe und bekannter Experte für arabisch-jüdische Beziehungen in Israel beschäftigt sich Sammy Smooha u. a. mit Israel als jüdischem und demokratischem Staat. Er war bis zu seiner Emeritierung Professor für Soziologie an der Universität Haifa und erhielt 2008 den renommierten Israel-Preis. Um das verwobene Geflecht aus Religion, Ethnizität und Demokratie inner- und außerhalb Israels zu beschreiben, hat er das Modell der ethnischen Demokratie entwickelt. 1951 ist Sammy Smoohas Familie mit ihm als neunjährigem Jungen aus der großen jüdischen Gemeinde Bagdads nach Israel migriert. Bei einem Treffen am 15. April in seiner Wohnung in Giv’atayim, mit Blick auf Jaffa und Tel Aviv, hat der renommierte Wissenschaftler Michael Elm mit ihm gesprochen.
Jüdischer und demokratischer Staat heute
Wie beurteilst Du die Zeit, seitdem Netanjahu und seine rechts-außen Regierung aus Kahanisten und Ultraorthodoxen 2022 an die Macht gekommen sind? Erleben wir eine Transformation, in der die bereits lang schwelenden Konflikte der israelischen Gesellschaft zu einer gewaltsamen Resolution finden, oder handelt es sich um ein kurzzeitiges Aufflammen, das mit dem Ende der gegenwärtigen Koalition auch wieder abkühlt?
Was auf der Makroebene wirklich passiert, ist, dass der eigentlich demokratische und jüdische Nationalcharakter Israels immer mehr in Richtung des Jüdischen tendiert - auf Kosten der Demokratie. Diese Entwicklung existiert seit der Staatsgründung. Unter der jetzigen Regierung und insbesondere bei Netanjahu ist jedoch zu beobachten, dass sich diese Dynamik beschleunigt. Neu ist, dass die radikale Rechte zum ersten Mal an der Macht ist. Das ist eine einschneidende Veränderung. Ob inner- oder außerhalb der Regierung, die radikale Rechte wird auch in den kommenden Jahren eine entscheidende Kraft in Israel bleiben. Der Konflikt über den nationalen Charakter des Staates wird sich dabei kontinuierlich fortsetzen, weil es keine wirkliche Lösung gibt.
Um das Spannungsfeld zwischen Ethnizität, Religion und Demokratie beschreiben zu können, hast Du das Konzept der ethnischen Demokratie im Rahmen Deiner wissenschaftlichen Arbeit entwickelt. Wie hilft uns dieses Konzept dabei, die politische Realität Israels zu begreifen?
Eine ethnische Demokratie ist eine prozedurale Demokratie mit einer ethnischen Mehrheit. Diese Mehrheit kontrolliert den Staat und stellt diese Kontrolle auch zukünftig sicher - ganz gleich was passiert. Das ist die Idee. Es handelt sich also um keine reguläre Demokratie, denn die ethnische Mehrheit beansprucht die Macht auch unabhängig von nationalen Wahlen für sich.
In Deutschland und Europa wird Israel vorwiegend als jüdischer und demokratischer Staat verstanden. Obwohl die jüdische Identität dominiert, meint man, die Quadratur des Kreises aus Religion und Staat könne ähnlich wie in laizistischen Ländern gelingen. Folgt man Deinem Konzept der ethnischen Demokratie, scheint dieses Verständnis jedoch nicht ganz zutreffend.
Worum es hier geht, übersteigt Fragen von Religion und Staat. Es geht um das Verhältnis von Jüdischsein als ethnischer Identität der Bürger:innen und dem Judentum als religiöse Tradition. Juden und Jüdinnen sind beides - eine Nation und eine Religion. Aus der Perspektive der jüdischen Mehrheit steht der nationale Aspekt im Vordergrund. Israel als ethnische Demokratie impliziert das Zusammenfallen des jüdischen und des demokratischen Charakters. Um diesen Unterschied zu begreifen, muss die Unterscheidung zwischen Jüdischsein und Judentum präzise getroffen werden. Der Zionismus hat das alte Verständnis vom Jüdischsein als jüdisches Volk an die Rahmenbedingungen des modernen Nationalstaats angepasst und dadurch transformiert. Juden und Jüdinnen haben sich ihren eignen Staat erschaffen. Nach der andauernden Bedrohung versprach der jüdische Staat ein Gefühl der Sicherheit. Zionismus umfasst also weitaus mehr als die Idee eines Staates, der das Judentum zur Religion hat.
Bruderkrieg
Das Konzept der ethnischen Demokratie beschreibt also die grundlegende Ideologie des zionistischen Staates. Die sogenannte Justizreform als jüngster Konflikt wurde auch als ein Krieg unter Brüdern charakterisiert [מלחמת אחים]. Es schien, als ginge die größte Gefahr für den jüdischen Staat von innen aus. Israel hat seit seiner Gründung und nach 1967 maßgeblich dazu beigetragen, dass unterschiedliche Strömungen des Judentums entstanden sind: die modernen aschkenasischen und sephardischen Ultraorthodoxen, die Kahanisten, die Nationalreligiösen nach 1967 und die sogenannten "Traditionellen", die tief in die Identität der säkularen Bevölkerung hineinreichen. Der Punkt ist, dass einige der Strömungen eindeutig inkompatibel mit anderen sind. Zum Beispiel versuchen die ultraorthodoxen Parteien ein Gesetz durchzusetzen, das die Yeshiva-Schüler von der Militärpflicht befreit. Das ist auch der Grund, warum sie versuchen, die Kontrollfunktion des Obersten Gerichtshofes als Wächterin des Gleichheitsprinzips zu schwächen. Angesichts solch fundamentaler Gegensätzlichkeiten mit dem säkularen Lager scheint der bisherige Status quo aus ‘leben und leben lassen’ Geschichte zu sein.
Der Konflikt dauert seit 1948 an. Die Widersprüchlichkeit zwischen Jüdischsein und Demokratie ließ sich für eine lange Zeit verwalten. Heute aber bricht der interne Widerspruch mit voller Kraft auf. Dabei stellt sich die Frage, welche gesellschaftlichen Gruppen hinter diesem Ringen stehen und wie sie sich politisch organisieren. Die Antwort übersteigt religiöse Gründe bei weitem. Ich unterteile die israelische Gesellschaft in drei Blöcke. Jeder dieser Blöcke ist mit politischen Parteien assoziiert und stützt sich auf eine gesellschaftliche Basis. Am größten ist der rechte Block. Das ist der, der heute an der Macht ist. Er besteht aus Likud, den zwei rechtsradikalen Kahanisten-Parteien und den zwei Haredi-Parteien (Shas und Vereinigtes Thora-Judentum). Zusammen repräsentieren sie über 60 Prozent der Jüdinnen und Juden in Israel. Ihre Unterstützung beziehen sie vor allem aus der Arbeiter:innenklasse, den sozioökonomisch Schlechtergestellten und der unteren Mittelschicht. Dem Kern ihrer Ideologie nach soll Israel demokratisch sein, solange das nicht mit dem Jüdischsein in Konflikt steht. Die Demokratie ist demnach ein sekundärer Wert. Sie ist hinzunehmen, wenn sie den jüdischen Charakter des Staates nicht gefährdet. Darüber hinaus ist der rechte Block gegen die territoriale Aufteilung Israels. Eretz Israel soll unter jüdischer Herrschaft vereint bleiben - from the river to the sea. Welche Lösung gibt es für die palästinensische Frage? Die politische Rechte gibt uns keine Antwort. Wenn auch mit anderen Vorzeichen existiert in Gaza und in der Westbank ein Zustand der Apartheid. 1 Gaza wird nur unterschiedlich kontrolliert.
Wie wird das Jüdischsein des Landes realisiert? Durch das weltweit geltende Rückkehrrecht für alle Jüd:innen, durch Begünstigungen für jüdische Einwanderer:innen oder Hebräisch als einzige offizielle Landessprache; Arabisch wurde 2018 durch das Nationalstaatsgesetz untergeordnet, oder den Bau jüdischer Siedlungen, um so eine Mehrheit überall im Land zu erreichen. Im Gebiet Galiläa zum Beispiel bilden die Araber:innen eine Mehrheit. Das wird nicht akzeptiert. Also unterstützt der Staat den Siedlungsbau, um auch da eine jüdische Mehrheit durchzusetzen. Das Gleiche passiert in der Negev-Region. Dieser politische Rechtsblock wird ethnisch von Mizrachi-Juden, Russ:innen, Äthiopier:innen und revisionistischen Aschkenasim unterstützt. Die meisten von ihnen sind traditionelle Juden und Jüdinnen.
Im Vergleich zu dem, was Du beschreibst, scheint der Revisionismus von Jabotinsky moderat.
Das sind keine Revisionist:innen nach Jabotinskys Verständnis. Sie sind Nachkommen von Revisionist:innen. So wie Netanjahu.
Wie steht es um den zweiten Block?
Der zweite politische Block wird als Mitte-links bezeichnet. Die Mitte überwiegt dabei eindeutig. Weiter links davon gibt es eigentlich kaum etwas. Seine Ideologie befürwortet ein Gleichgewicht aus Jüdischsein und Demokratie. Sie glauben, Israel sei eine liberale Demokratie. Sie verstehen aber nicht, dass in Israel keine liberale Demokratie existiert. Ihr Verständnis einer liberalen Demokratie beschränkt sich auf eine funktionierende Verfahrensdemokratie. Außerdem befürworten sie eine Ideologie, wonach der Staat für immer jüdisch bleiben soll. Gleichzeitig berücksichtigen sie die Interessen der arabischen Bevölkerung auf individueller und kollektiver Ebene. Ihrem Verständnis nach hat die arabische Minderheit in Israel ein Recht auf Repräsentation. Zwar sind sie Bürger:innen zweiter Klasse, berücksichtigt werden sollen sie aber trotzdem. Auf nationaler Ebene sind die Unterstützer:innen des Mitte-links-Blocks überzeugt, dass Israel das Westjordanland nicht auf ewig besetzen kann. Obwohl sie hinter einer Aufteilung des Landes stehen, wird es aus politischem Kalkül heraus nicht offen vertreten.
Welche Parteien zählst Du zu diesem Block?
Alle anderen Parteien. Avoda, Meretz, Jesh Atid, National Unity (Benny Gantz). Aber es gibt auch Parteien, die eigentlich nicht zu diesem Block zählen — die rechten Parteien New Hope von Gideon Saar und Avigdor Liebermanns Israel Beitenu. Sie gehören diesem Block nur aufgrund eines Konflikts mit Netanjahu an.
Sozial fußt dieser Block auf der Mittelschicht und aufwärts. Die Klasse der Arbeiter:innen und die der sozioökonomisch Schlechtergestellten zählen nicht mit dazu. An dieser Stelle zeichnet sich der zugrundliegende Klassenkonflikt zwischen den beiden Blöcken ab. Ethnisch betrachtet sind es überwiegend säkulare aschkenasische Juden und Jüdinnen. Gleichzeitig ist der Säkularismus in Israel von einer starken jüdischen Tradition mit religiösen Wurzeln eingefärbt.
Die Situation arabischer Israelis
Der dritte politische Block setzt sich aus den arabischen Bürger:innen zusammen. Mit einer Ausnahme sind sie in der Regel nicht an den Regierungen beteiligt. In der sogenannten ‘Regierung der Veränderung’ unter Yair Lapid und Naftali Bennett als wechselnde Premierminister war eine arabische Partei in der Koalition vertreten. Ungefähr 80 Prozent der Araber:innen wählen arabische Parteien, die nicht Teil der Regierungen sind. Als abweichende Minderheit lehnen sie den zionistischen Charakter des Staates ab. Von der Mehrzahl der zionistischen Parteien werden sie als potenzielle Feind:innen des Staates betrachtet.
Die Araber:innen in Israel sehen die Situation im Nahen Osten sehr klar. Dabei genießen sie auf paradoxe Weise Privilegien in doppelter Hinsicht. Zum einen im Vergleich mit den Palästinenser:innen im Westjordanland und in Gaza. Ihnen ist bewusst, dass ihr Leiden nicht mit dem der Palästinenser:innen in den besetzten Gebieten vergleichbar ist. Sie sind Teil von Israels Demokratie. Trotzdem erfahren sie Diskriminierung und werden von Machtpositionen ausgeschlossen. Zum anderen sind sie privilegiert, da sie vom Militärdienst befreit sind. Das ist nicht nur ein ökonomischer, sondern vor allem ein lebensrettender Vorteil. Juden und drusische Männer dienen drei Jahre verpflichtend und stehen der Reserve noch viele weitere Jahre zur Verfügung. Als Angehörige der unteren Einkommensschichten erhalten sie außerdem doppelt so viel an staatlichen Zuschüssen wie sie an Steuern zahlen.
Die Frage ist, ob arabische Bürger:innen dem Staat gegenüber loyal sind. Ja, das sind sie. Für sie ist die Loyalität gegenüber dem Staat eine rationale Entscheidung. Im Tausch für ihre Loyalität erhalten sie ein paar Vorteile. Gleichzeitig ist die Furcht vor staatlichen Autoritäten im Fall ihres Aufbegehrens sehr groß. Ihnen ist bewusst, wie schlecht Israel die Palästinenser:innen in Gaza und im Westjordanland behandelt.
Okay, sie verstehen also ihre Situation in Bezug auf die bestehenden Machtverhältnisse. Soziologisch kann man das auch als ein Pendeln zwischen Anpassung und Entfremdung beschreiben.
Sie erfahren beides. Anpassung und Entfremdung gehen Hand in Hand.
2014 schreibst Du: „Innerhalb der Grünen Linie hat Israel sich demokratisiert. Individuelle Rechte sind zentraler und besser geschützt, die Medien freier, die Gerichte unabhängiger und die Kontrolle über das Militär ist stärker. Infolgedessen sind Araber:innen gleichberechtigter und ihre Rechte besser gesichert” (Smooha 2014, 214). Zehn Jahre später ist die Situation eine andere. Das Nationalstaatsgesetz von 2018 definiert Israel als einen jüdischen und zionistischen Staat, der allein Juden und Jüdinnen ein Recht auf politische Selbstbestimmung gewährt. Im Mai 2021 kam es zu gewaltsamen Unruhen in jüdisch-arabischen Städten. Heute erreichen die Kriminal- und Mordstatistiken Rekordwerte in arabischen Städten und Ortschaften. Was ist da passiert?
Seit 2018 verschlechtert sich die Lage zusehends. Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich etwas erklären, was oft missverstanden wird. Meiner Auffassung nach ist Israels Demokratie mangelhaft, quasi eine Demokratie zweiter Klasse. Wenn ich das sage, dann stellen Leute sich schnell den Zusammenbruch der Demokratie vor. Darum geht es aber nicht. Die Demokratie in Israel ist von geringer Qualität, aber sie ist resilient!
Denkst Du dabei an die Demonstrationen? Was meinst Du mit Resilienz, also mit Widerstandsfähigkeit?
Israel hat viele Krisen erlebt und überstanden. Den Jom-Kippur-Krieg in 1973 zum Beispiel. 1977 hat das Land den Regierungswechsel von Avoda zu Likud verkraftet. Es gab keine Gewalt und keinen Kollaps der Demokratie. Auch die Wirtschaftskrise von 1984 hat Israels Demokratie ausgehalten. Und heute gibt es größere Krisen. Die Regierung ist mit der Umsetzung ihrer Justizreform gescheitert. Es gibt weiterhin eine Demokratie in Israel. Es ist eine schwache Demokratie, es ist eine schlechte Demokratie, aber sie übersteht ihre Krisen und Herausforderungen. Die Frage ist, wie und warum?
Das gleiche trifft auf die Araber:innen zu. Ihnen ist bewusst, dass sie diskriminiert und von den Entscheidungsprozessen der israelischen Gesellschaft ausgeschlossen sind. Trotzdem sind sie Teil der Demokratie. Würden sie sich nicht an die Regeln halten, wäre ihre Situation erheblich schlechter. Ich möchte damit sagen, dass die Anpassung der Araber:innen in Israel bzw. das Ausbleiben von Unruhen auf einer Kombination von negativen und positiven Faktoren beruht. Angst und Kontrolle auf der einen Seite und staatliche Zuschüsse und Anreize wie Demokratie, Modernität, Vorteile des wohlfahrtsstaatlichen Systems, Befreiung vom Militärdienst, Schutz vor islamischem Fundamentalismus auf der anderen Seite. Die Araber:innen widersetzten sich auch nicht der feindseligen rechten Regierung oder während des Krieges seit dem 7. Oktober.
Krieg und regionale Entwicklung
Lass uns nun zu der jetzigen Situation und dem Krieg kommen, der mit den furchtbaren Angriffen der Hamas und der Entführung der Geiseln begonnen hat. Die Grausamkeit der Angriffe hat Israels Bevölkerung unter Schock gesetzt und gleichzeitig die schlimmsten Albträume seit dem Holocaust heraufbeschworen. Was war das Motiv für diese Grausamkeiten und was entschied über den Zeitpunkt des Anschlags?
Ich denke, die Grausamkeit der Hamas hätte erwartet werden müssen. Nach Ihrem Verständnis und ihrer Interpretation des Islam sind Juden und Jüdinnen keine Menschen. Man muss sie loswerden und dabei ist es in Ordnung, sie zu misshandeln oder zu töten. Darüber hinaus gibt es die lange konfliktbeladene Geschichte und das, was Juden und Jüdinnen Palästinenser:innen angetan haben. Rache als Motiv mag also auch eine Rolle gespielt haben. Für die Hamas ist die größte politische Gefahr eine Zwei-Staaten-Lösung. Das sagen sie auch ganz explizit. Hier unterscheiden sich Hamas und die Fatah und die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) ganz eindeutig. Ein palästinensischer Staat würde bedeuteten, dass die Juden und Jüdinnen hier für immer bleiben würden. Das ist völlig inakzeptabel für sie.
Bei der Revision ihres Gründungsmanifestes 2017 hat die Hamas ihre Position leicht gemäßigt und einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 als Teil eines nationalen palästinensischen Konsenses akzeptiert. Ihren Widerstand gegen die ‘zionistische Entität’ und ihr unveräußerliches Recht auf das Land „from the river to the sea” hat sie jedoch nicht aufgegeben.
Die Hamas hat ihr Manifest im Kontext der Aushandlungen eines nationalen Abkommens mit der Palästinensischen Autonomiebehörde umformuliert. Diese Umformulierung muss als strategischer Kompromiss gelesen werden. Sie ermöglicht der Hamas die Teilnahme an palästinensischen Parlamentswahlen, die sie an die Macht bringen könnten. Aus israelischer Sicht ist diese Revision bedeutungslos. Die Hamas sieht die Zwei-Staaten-Lösung schlichtweg als einen Schritt auf dem Weg zur Vernichtung des jüdischen Staates.
Der zweite Teil meiner Frage hat auf den Zeitpunkt der Anschläge abgezielt. Wie Du weißt, standen Saudi-Arabien, die USA und Israel anscheinend unmittelbar vor der Unterzeichnung eines Abkommens, als die Angriffe stattfanden. Ich vermute, dass es für die Hamas eine Katastrophe gewesen wäre, wenn der sunnitische Staat mit der stärksten Bindung an den Islam ein Normalisierungsabkommen mit Israel geschlossen hätte. Wie siehst Du diesen regionalen Aspekt?
Ja. Gar keine Frage. Netanjahu hat das auch öffentlich geäußert. Die palästinensische Frage könne begraben werden, ohne Einbeziehung der Palästinenser:innen, indem Frieden mit der arabischen Welt geschlossen wird.
Die Strategie, den Konflikt zu verwalten, ist gescheitert. Zumindest auf der Ebene der internationalen Diplomatie. Weltweit zeichnet sich die unilaterale Anerkennung eines palästinensischen Staates ab. Der Preis dafür wäre, den Prozess der Staatsgründung unter Aufsicht der internationalen Staatengemeinschaft zu stellen. Netanjahus rechtsradikale Regierung ist nicht gewillt, diesen Preis zu zahlen. Warum fordert die politische Opposition in Israel einen solchen Schritt dann nicht viel vehementer ein? Sollten Oppositionsführer wie Yair Lapid oder Benny Gantz diese Botschaft nicht eigentlich an die ganz große Glocke hängen?
Das tun sie aufgrund des Krieges nicht. Gantz sagt, er verlässt das Kriegskabinett, wenn sich die Situation weiter verschlechtert. 2 Dadurch würde der Krieg heftiger und der internationale Boykott drastischer. Aber die Regierung würde nicht zerbrechen. In den ersten zwei Monaten des Krieges stimmte das. Heute, mehr als sieben Monate später, ist die Situation eine andere. Sowohl der politische Block der Mitte als auch die Mitglieder des Kriegskabinetts Benny Gantz und Gadi Eisenkot wollen die Wahlen vorziehen.
Okay, aber wie erreicht man, dass diese Regierung abdankt?
Um Netanjahu loszuwerden, müssen Wahlen abgehalten werden. Der einzige Weg, dies vor der nächsten Legislaturperiode zu erreichen, sind massive Proteste und ziviler Ungehorsam. Weit über das Maß hinaus, was wir heute erleben. Nicht 100.000 oder 200.000 Menschen müssen auf die Straße, sondern eine halbe Million. Sie müssen einen Stillstand erzwingen. Das Problem geht aber über Netanjahu hinaus. Der rechte Block hat sehr viel zu verlieren, weit mehr als ihre persönlichen Vorteile. Häufig wird behauptet, die Politiken und Einstellungen des rechten Blocks seien zynisch und selbstzentriert. Dem widerspreche ich. Sie glauben mit ganzem Herzen, dass sie die besseren Ideen für dieses Land haben.
Kein Weg zurück?
Nach mehr als einem halben Jahr der Kämpfe an mehreren Fronten war auch das vereinende Moment des Krieges nicht ausreichend, um die interne Spaltung zu überwinden. Der juristische Staatsstreich konnte zwar vorerst vereitelt werden, aber die autoritären Kräfte in den besetzten Gebieten, in Polizei und Armee haben ihre Macht ausgebaut. Bereits 2009 untersuchte der Journalist und Autor Gershom Gorenberg die rechte Strategie, staatliche und militärische Institutionen zu unterwandern und religiöse Kristallisationspunkte in säkularen Vierteln zu etablieren. Haben wir den Punkt überschritten, an dem es kein Zurück mehr gibt? Würden politische Entscheidungen für die strategische Umkehr der israelischen Politik unterlaufen werden oder direkt in einem Bürgerkrieg münden? Könnte die internationale Forderung nach einer Zwei-Staaten-Lösung das Risiko für eine solche Krise verstärken?
Nein, ich denke nicht. Was wird im Fall eines Rücktritts von Netanjahus Regierung geschehen? Ich würde behaupten, der wahrscheinlichste Ausgang von Neuwahlen wäre eine nationale Einheitsregierung. Eine solche Regierung würde nach Kompromissen zwischen den politischen Blöcken suchen. Von welchen gewaltsamen Kräften könnte ein Bürgerkrieg in Israel ausgehen? Den Siedler:innen. Aber eine Einheitsregierung würde sich weder mit den Siedler:innen noch mit einer Zwei-Staaten-Lösung befassen. Sie könnte einen Prozess anregen, um die Spielregeln für das politische System zu definieren, also Einigung bezüglich der legislativen und rechtlichen Geltung von Grundgesetzen erzielen, die Befugnisse des obersten Gerichtshofs festlegen und über demokratische Verfahren entscheiden, von denen heute noch unklar ist, welche es sind.
Zeichnet sich eine Art Balfour-Moment für einen palästinensischen Staat ab?
Das ist die Vision der Biden-Regierung. Den Palästinenser:innen fehlt es jedoch an visionärer und couragierter Führung. Der inhaftierte und teilweise von der Hamas unterstützte Marwan Barghouti könnte diese Lücke füllen. Die Palästinenser:innen werden Hilfe von außerhalb brauchen, um ihren Staat über einen längeren Zeitraum hinweg errichten zu können. Der internationale und der juristische Druck aus Den Haag sind wichtige Faktoren. Die palästinensische Frage wird aber vorrangig von innen heraus behandelt werden.
Protestwelle – Einfluss post-kolonialer Theorie und Ausblick
Es lässt sich eine Welle an universitären Protesten in den USA und Europa beobachten. Sie richten sich gegen den Krieg in Gaza und das Töten von Zivilist:innen als sogenannte Kollateralschäden. Die eine Seite beschuldigt die Hamas und ihre Strategie, sich in bevölkerungsreichen Gegenden zu verstecken. Die andere Seite verurteilt das Vorgehen der IDF als skrupellos oder beklagt die rachsüchtige Haltung der Israelis im Allgemeinen. Ich möchte diese Diskussion jetzt nicht vertiefen und denke, es versteht sich von selbst, dass antisemitische Proteste unterbunden werden müssen, während das Recht auf freie Meinungsäußerung und Protest vor allem an Universitäten zu gewährleisten ist. Mich interessiert, wie Du den Einfluss post-kolonialer Theorien auf das Verständnis des Krieges und des zugrundeliegenden Konflikts aus akademischer Perspektive betrachtest.
Die Diskussionen über Zionismus und Kolonialismus treten zunehmend in den Vordergrund. Meiner Auffassung nach ist das ein komplexes Thema. Die jüdische Besiedlung in Palästina ist ein „kolonialer Sachverhalt ohne Kolonialismus” [colonial situation without colonialism, i.O.]. Es ist offensichtlich, dass es sich um ein koloniales Projekt handelt. Europäische Juden und Jüdinnen kamen in eine unterentwickelte Region. Hier sind sie mit der indigenen Bevölkerung über das Land, das sie zu ihrer Niederlassung brauchten, aneinandergeraten. Dieser Konflikt wurde zunehmend gewaltsamer. Sie kamen mit der kolonialen Idee, Entwicklung in diese Region zu bringen. Das ist der koloniale Sachverhalt. Aber es war kein Kolonialismus, denn die Juden und Jüdinnen haben religiöse und historische Rechte in dieser Region. Vor 2000 Jahren hatten sie hier eine Art Mini-Staat. Für sie besteht eine sehr enge Verbindung mit dem Land. Sie haben sich jahrhundertelang nach ihrer Rückkehr gesehnt und dafür gebetet. Es gibt hierzu keine vergleichbare Parallele mit anderen kolonialen Projekten. Hinzu kommt, dass hier stets eine jüdische Gemeinschaft ansässig war. Für sie handelt es sich um einen heiligen Ort, dem sie sich zutiefst verbunden fühlen. Das ist auch der Grund, warum das zionistische Projekt nicht Argentinien oder Uganda als sein Heimatland ausgewählt hat. In diesem Sinne handelt es sich trotz des kolonialen Sachverhalts nicht um Kolonialismus. Die Uniproteste machen diese Unterscheidung nicht. Sie differenzieren nicht zwischen kolonialem Sachverhalt und Kolonialismus. Sie begreifen die Einzigartigkeit der Situation nicht. Würdest du den Juden und Jüdinnen sagen, Israel sei ein Kolonialstaat, würden sie das als Beleidigung verstehen. Es würde bedeuten, ihnen das Recht auf Selbstbestimmung und auf einen eigenen Staat hier vor Ort abzusprechen. Das ist der Grund, warum der Konflikt so gewaltsam ist. Aus der jüdischen Perspektive gibt es keinen Kolonialismus, aus der palästinensischen ist Israel eindeutig ein Kolonialstaat. Beide Seiten verstehen sich als Opfer des Konflikts und geben nicht auf.
Angesichts deiner Beschreibung dieser Situation: Würdest Du sagen, ein anderer politischer Ansatz ist notwendig, um mit dieser politischen Realität umgehen zu können? Der israelische Soziologe Shmuel Noah Eisenstadt hat beispielsweise das Konzept der ‘multiplen Modernen’ entwickelt. Es besagt, dass sich die Entwicklungspfade moderner Gesellschaften in Abhängigkeit von ihren historischen Erfahrungen und kulturellen Axiomen voneinander unterscheiden. Was hältst du von diesem Ansatz?
Ich befürworte Eisenstadts Konzept. Kultur spielt eine wichtige Rolle in der Entstehung eines Staates. Man muss sich nur das Beispiel Japan anschauen. Japan ist ein moderner und demokratischer Staat, unterscheidet sich jedoch sehr stark vom Westen. Das gilt auch für Israel. Israel ist weder eine westliche Gesellschaft noch eine westliche liberale Demokratie. Es ist eine hybride Kultur mit einer starken Orientierung in Richtung Westen.
Wenn Du mit deiner langen Erfahrung auf die israelische Geschichte zurückschaust, welche Veränderungen würdest Du als Vergleich für diesen Zeitraum heranziehen? Manchmal wird auf den Jom-Kippur-Krieg 1973 verwiesen, dem fünf Jahre später ein Friedensabkommen mit Ägypten folgte. Trägt dieses Desaster auch einen Keim zum Besseren in sich?
Das ist schwer einzuschätzen. Da wir uns inmitten der Krise befinden, ist es unmöglich, ihren Ausgang vorherzusagen. Sicher ist, dass sich der Konflikt zwischen den beschriebenen drei Blöcken intensivieren wird. Bis zu welchem Grad, lässt sich nicht abschätzen. Manche sagen den Zusammenbruch des Systems und der Demokratie in Israel voraus. Dem widerspreche ich. Ich denke, dass System ist resilient aufgrund seiner Flexibilität.
Wie bereits gesagt, meine Einschätzung für die Zeit nach Netanjahu ist, dass den Wahlen eine nationale Einheitsregierung folgen wird, die die notwendigen politischen Spielregeln umsetzen wird. Das ist das Minimum, das wir für eine besser funktionierende Demokratie in Israel benötigen. Eine neue Regierung wird nicht in der Lage sein, eine Verfassung zu verabschieden. Es wird jedoch möglich sein, einen Kompromiss zu finden, z.B. bei der juristischen Geltung und Verabschiedung von Grundgesetzen oder der Begrenzung der Amtszeiten des Premierministers. Die Konflikte zwischen den zionistischen Blöcken können damit verringert werden. Vielleicht gilt das auch zu einem gewissen Grad für den Konflikt zwischen Demokratie und Jüdischsein. Die grundlegende Spannung dazwischen kann nicht aufgelöst werden. Israel wird eine ethnische Demokratie bleiben, eine mangelhafte Demokratie, aber es wird ein neues Gleichgewicht entstehen.
Das Interview führte Michael Elm am 15. Mai 2024 in Giv’atayim.
Übertragen aus dem Englischen von Lea Brockmann.
Glossar:
- Mizrachim: Juden und Jüdinnen aus arabischen und nordafrikanischen Ländern.
- Aschkenasim: Juden und Jüdinnen, die überwiegend eine mittel- oder osteuropäischer Herkunft sind.
- Balfour-Erklärung: Die am 2. November 1917 vom britischen Außenminister Arthur James Balfour unterzeichnete Erklärung gilt als wichtiger symbolischer Schritt zur Anerkennung der Ziele der zionistischen Nationalbewegung durch das seinerzeit mächtige Britische Imperium.