Antisemitismus und Israelkritik: Schuld, Unschuld, Post-Schuld

Essay

Dani Kranz beschreibt ihre Erfahrungen nach dem 7. Oktober 2023 und ordnet diese in das Spannungsfeld Antisemitismus - Israelkritik ein. Sie attestiert Deutschland eine weit verbreitete historische und aktuelle Ignoranz gegenüber der Lebenswirklichkeit von Israelis und Palästinensern, die mit einer Ignoranz gegenüber jüdischen und muslimischen Lebenswelten einhergeht.

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Protest Hamburger Bahnhof
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Am 11. Februar 2024 wurde die 100-Stunden-Lesung von Hannah Arendts Werk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ im Hamburger Bahnhof zweimal von Demonstranten mit Hasstiraden gestört. Die Lesung wurde abgebrochen. Foto: Instagram

Dieser Essay ist vor dem Wissen des 7. Oktober 2023 geschrieben und vor dem, was danach in Deutschland, in Europa, im Nahen Osten, eigentlich global, passierte. Wie schreibt man mit solchem Wissen? Es ist bezeichnend, dass mir als erstes das Buch After Such Knowledge: Memory, History, and the Legacy of the Holocaust (2005) von Eva Hoffman einfällt.

Es geht mir nicht darum, das von der Hamas verübte genozidale Massaker, an dem eine signifikante Anzahl von terroropportunistischen Zivilisten aus Gaza teilhatte, mit der Shoah gleichzusetzen. Dennoch ist die Shoah mein Referenzpunkt, und zwar deshalb, weil Juden ermordet wurden und weil die Shoah nicht nur von SS, SA und Wehrmacht sowie ihren Kollaborateuren in den von Nazi-Deutschland besetzten Gebieten verübt wurde, sondern auch damals signifikante Anteile der lokalen, zivilen Bevölkerung opportunistisch am Terror gegen Juden, deren Vertreibung und Ermordung teilhatten. Die Archäologin Katrin Kleibl rekonstruierte, dass sich etwa 100.000 Menschen allein in Hamburg das von Juden geraubte Eigentum zu eigen machten. Die historischen Soziologen Volha Charnysh und Evgeny Finkel stellten 2017 dar, dass die KZs in Polen bis dato zum materialen Wohlstand der lokalen Bevölkerung beitragen. Ihr Artikel trägt den bezeichnenden Titel The Death Camp Eldorado: Political and Economic Effects of Mass Violence.

Die Marginalisierung und Ausbeutung der jüdischen Bevölkerung auf sozialer, rechtlicher und ökonomischer Ebene ist detailliert dokumentiert: Raul Hilberg fasst sie in The Destruction of European Jewry (1961) zusammen. Auch der Widerstand von Nichtjuden gegen den Holocaust ist dokumentiert. Er fand auf verschiedenen Ebenen statt. Er reichte von Diplomaten, die Visa und Pässe ausstellten, über Nachbarn, die jüdische Kinder versteckten, zu Ehepartnern und Familien, die ihre jüdischen Angehörigen schützten: 85 Prozent aller deutschen Juden, die im „Reich“ überlebt hatten, waren mit Nichtjuden verheiratet (Strnad 2015). Dennoch blieb Juden nach der Shoah das Wissen, sehr allein gewesen zu sein. Die Mehrheit hatte ihnen eben nicht geholfen und nach der Shoah behauptet, nichts gewusst zu haben. Diese (deutsche) Lebenslüge ist dokumentiert, analysiert und eben als Lebenslüge identifiziert worden, wie von dem Historiker Peter Longerich (2006) deutlich gemacht. Es ist kein Zufall, dass Longerich einen Lehrstuhl in Großbritannien und nicht in Deutschland hatte. Das ist Teil des Unwillens, sich mit der Shoah, ihren Folgen und den eigenen, familiären Verstrickungen auseinanderzusetzen (Grünberg 2010).

Interessant ist die Rolle der westdeutschen Historiker in dieser Gemengelage. Der Historiker Nicholas Berg (2003) hat das hervorragend herausgearbeitet. Es ist nicht so, dass kein Wissen über die Shoah und die Verwicklungen der Bevölkerung verfügbar war (Kellner 2011) – im Schlechten wie im Guten, denn es gab auch Hilfe für Juden, wie etwa Hans Rosenthal (1980) und lange vor ihm, schon 1949, Else Behrend-Rosenfeld in ihren Autobiographien schilderten. Der in Österreich geborene Anthropologe Robert Harry Lowie – Robert Heinrich Löwe – mischte sich im Auftrag der USA im deutschsprachigen Europa unters Volk. Lowies Ethnographie Toward understanding Germany (1954) ist so beeindruckend, wie bedrückend, weil er deutlich macht, dass Antisemitismus ein allgemeines europäisches Phänomen und weit verbreitet ist. Er ist ein kultureller Code, wie es die Historikerin Shulamit Volkov (1978) nannte. In der Gegenwart ist Antisemitismus – mit und ohne Israelbezug – der kleinste gemeinsame Nenner in einer von Post-Schuld strukturierten, postnationalsozialistischen Gesellschaft (Messerschmidt 2016).

Brücken bauen – und begehen?

Das Wissen, dass es auch andere gab, die halfen, ließ Juden Brücken zu Nichtjuden bauen und begehen. Die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit stammt aus dieser Zeit. Nur darf das Ungleichgewicht zwischen nichtjüdischer Mehrheit und jüdischer Minderheit nie übersehen werden.

Doch nach dem 7. Oktober 2023 und dem, was folgte, stellt sich wieder die Frage, welche Brücken man bauen und begehen kann. Bündnispartner erwiesen sich als wenig empathisch oder latent bis offen antiisraelisch, antisemitismuskritische Bildungsansätze fehlten, und zwar vor allem im linken, post- und dekolonialen und postmigrantischen Spektrum. Während der rechte Antisemitismus klar und unübersehbar war, wurde der linke, anti-imperialistische und postmigrantische, islamistische, türkische, arabische Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023 deutlich sichtbar und hörbar.

Dass Israel das Existenzrecht, wenn auch meist in kodierter Form, abgesprochen wird, dass man das Massaker der Hamas im Kontext sehen müsse, dass Israel der Täter und Palästina das Opfer sei, war nicht selten zu hören – die Entmenschlichung und tumbe Generalisierung von beiden, Israelis und Palästinensern, ist kaum zu überbieten. 

Kaum zu überbieten ist auch die Enttäuschung darüber, wie sich viele Akteure in der postmigrantischen und postkolonialen Szene verhielten und verhalten. Aus heutiger Sicht mag es naiv gewesen sein: Meine natürlichen Verbündeten hatte ich eher unter den anderen, progressiven Minderheiten lokalisiert, als unter konservativen Migranten und Nichtmigranten.

Die Erfahrung der Enttäuschung mit bedeutenden Teilen der globalen Linken, der ich mich wie andere Juden und Israelis eben als Juden und/oder Israelis zugehörig fühlte, teile ich mit anderen Juden und Israelis in Deutschland und darüber hinaus. Die israelische Soziologin Eva Illouz (2023) sowie die in den USA arbeitende türkisch-jüdische Philosophin Seyla Benhabib (2023) haben diese Enttäuschung ebenso beschrieben wie die Spaltung der (progressiven) Linken entlang ideologisierter Konfliktlinien. Juden und, noch mehr, Israelis fielen aus der gemeinsamen Schnittmenge heraus, die von Judith Coffey und Vivien Laumann konzipierte Gojnormativität, die jüdische Erfahrungen unsichtbar macht, griff mit aller Heftigkeit. Dieses Konzept hatten die beiden entwickelt, um das Phänomen der Unsichtbarmachung jüdischer Erfahrungen vis-à-vis nichtjüdischer in den aktivistischen, linken, queeren Kreisen, in denen sie sich bewegten, greifbar zu machen. Das Nichtjüdische ist die Norm, an der jüdische Erfahrungen bemessen werden.

Das von Katja Sigutina beschriebene Schweigen großer Teile der Gesellschaft bei gleichzeitiger Relativierung des Massakers und der Shoah schmerzt nicht nur, es retraumatisiert. Das erklärte eingängig der Psychoanalytiker Kurt Grünberg – genauso, dass die Pseudo-Identifikation mit Palästinensern eine (neue) Form deutscher Schuldabwehr ist – einer intergenerationellen Abwehr dessen, was ich als Post-Schuld konzeptualisiere. Indem man Palästina von deutscher Schuld befreit, befreit man sich selbst von der ererbten Schuld gegenüber ‚den Juden‘ und dem jüdischen Staat: Es ist durchaus so, dass Israel als jüdisches Kollektiv verstanden wird und Juden als Stellvertreter für Israel.

Erfahrungen

Der 7. Oktober 2023 ist eine Zäsur. Für Israelis ebenso wie für Palästinenser. Der 7. Oktober 2023 ist auch eine Zäsur für Juden und für Muslime in Deutschland. Der 7. Oktober 2023 manifestierte sich auf deutschen Straßen, in deutschen Schulen ebenso wie in deutschen Universitäten, im gesellschaftlichen Miteinander. Während das Massaker an der israelischen Bevölkerung am 7. Oktober 2023 eine völlig neue Form des Terrors darstellt – es ist das erste Pogrom auf israelischem Staatsgebiet – ist das, was wir in Deutschland sahen, sehen und auch weiter sehen werden, so neu nicht. Quantitative Erhebungen zeigen immer wieder, dass stabile 20 Prozent der deutschen Wohnbevölkerung antisemitische Einstellungen haben, (Mittestudie), wobei Antisemitismus nach 1945 gesellschaftlich tabuisiert wurde. Dass man von dem, was eigentlich nicht sein durfte, nicht unbedingt etwas wissen wollte, zeigte die Weigerung des Fernsehkanals ARTE, den vom Sender selbst in Auftrag gegebenen Film Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa (2017) auszustrahlen. Das größte Manko des Films war, dass er Antisemitismus in seiner ganzen Bandbreite aus jüdischer Sicht darstellte. Dass Antisemitismus Teil der Populärkultur ist, wurde spätestens mit dem Echo-Eklat 2018 deutlich; dass „Du Jude!“ ein gängiges Schimpfwort auf Schulhöfen ist – und Gewalt Teil der Schulerfahrung von Juden –, wurde von der Anthropologin Julia Bernstein zwei Jahre später, 2020, empirisch belegt und veröffentlicht.

Israel wurde indes bei eben jener Wohnbevölkerung immer unbeliebter, was sich statistisch in den Reports der Bertelsmann Stiftung von 2015 und von 2022 nachlesen lässt. Da antisemitische Ressentiments gegen Juden und gegen Israel sich vermischen, lässt dies den Schluss zu, dass sie relativ unabhängig vom Handeln der jeweiligen israelischen Regierungen und Militärs sind, nur dass sie bei Kriegshandlungen im Nahen Osten offener geäußert werden: Terror gegen Juden (Steinke 2021) chronologisiert die allgegenwärtige Gewalt gegen Juden in der Bundesrepublik.

Damit sollte auch die These des Historikers A. Dirk Moses vom Katechismus der Deutschen, also der staatlich reglementierten und verinnerlichten Erinnerung an den Holocaust empirisch hinterfragt werden. Neben einer stabilen Abneigung gegen Juden, einer wachsenden Abneigung gegen Israel, ist auch die deutsche Erinnerungskultur und die Zentralität des Holocaust nicht erst seit dem ersten Historikerstreit in den 1980ern umstritten. Mit anderen Worten, auch die nicht-migrantische Erinnerung war immer multidirektional, da Erinnerung nur multidirektional sein kann – wie der Literaturwissenschaftler Michael Rothberg (2009) festgestellt hat. Und es erscheint so, dass die Mehrheitsdeutschen keine sonderlich guten Katecheten sind, die von der staatlich propagierten Holocausterinnerung abweichen.

Schon lange vor den heutigen Erinnerungskämpfen gab es Erinnerungsspannungen und unterschiedliche Erinnerungsgemeinschaften: Erstmals haben der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik und die Schriftstellerin Petra Kunik (1988) Erinnerungen an die Naziverfolgung aus jüdischer Perspektive in einem Sammelband zusammengetragen. Diese Erinnerungen unterschieden sich, wenig überraschend, vom deutschen Mainstream und der deutschen Erinnerungskultur. Die jüdischen Erinnerer waren für die deutschen Erinnerungskollektive unbequem (Corsten 2023). Sie sprachen das an und aus, was von der Mehrheit der Gesellschaft verschwiegen wurde, wobei das Schweigen der ehemaligen Tätergruppe ein generelles Kernmerkmal nach Massengewalt ist. 

Die Deutschen als Täter und ihre Nachkommen folgen keinem anderen Muster. Die Tatsache jedoch, dass der ersten (west)deutschen Regierung von den USA zu verstehen gegeben wurde, dass die Wiederaufnahme Deutschlands in die Liga der zivilisierten Länder an dem Verhalten der Deutschen gegenüber den in Deutschland verbliebenen Juden und dem jüdischen Staat - Israel - gemessen würde, verstärkte die Tabuisierung des Antisemitismus im öffentlichen Raum. In dieser Konstellation entstanden performative, verfestigte Erinnerungsrituale: Ein ehrlicher Austausch findet in diesem Rahmen nicht statt (Kranz 2021).

Mangelndes Wissen

Seit Jahren wird festgestellt, dass Antisemitismus verschiedene Formen annimmt und dass sich in der deutschen Gegenwartsgesellschaft der nach wie vor vorhandene traditionelle, rechte Antisemitismus mit anti-imperialistischem, linkem Antisemitismus und islamistischem, arabisch/türkischem Antisemitismus vermischt. Das negative Judenbild hat in allen drei Varianten unterschiedliche Konnotationen, das negative Israelbild hat jedoch in allen drei Varianten an Bedeutung gewonnen. Die Kombination dieser Elemente ergibt einen zeitgeistigen Antisemitismus. Das lässt sich an den Reaktionen auf die Israel-Hamas-Kriege 2014, 2021 und auch seit dem 7. Oktober 2023 beobachten. Es bilden sich Schulterschlüsse, die ein gemeinsames Feindbild kennen – Israel – und sich in ihrer Empathielosigkeit gegenüber Israelis in nichts nachstehen, wobei Israelis immer als Juden gesehen werden. Diese Empathielosigkeit wird auf Juden insgesamt, also auch auf Diasporajuden übertragen, wie sich nach dem 7. Oktober 2023 zeigte. Während geschlossen antisemitische Weltbilder und struktureller Antisemitismus diese Gemengelage unterfüttern, haben beide einen stillen Begleiter: Unwissen über die Geschichte, die Gegenwart, die Völker, Kulturen und Religionen des Nahen Ostens.

Der Mangel an Wissen über den Nahen Osten, einschließlich Israel und Palästina, ist enorm, die binäre Konzeptualisierung von Israelis und Palästinensern ist weit verbreitet, die Hoffnung, auf der richtigen Seite, auf der Seite der Schwächeren zu stehen, ist so hoch, wie das Wissen über die Auswirkungen auf die real lebenden Menschen niedrig ist. Unterstützt wird all dies durch ein Bildungs- und Wissenschaftssystem, in dem Schüler und Studenten Redebedarf über den Themenkomplexes Naher Osten haben, Lehrer – inklusive Hochschuldozenten -  das Thema aus Unsicherheit lieber beschweigen oder ausweichen möchten, während andere gleich entweder ‘anti’ oder ‘pro’ sind. Einstellungen sind emotions- oder ideologiegeleitet: Wissenschaftlich oder auch nur sachgerecht ist beides nicht.

Leerstellen in der Wissenschaft

Bis heute gibt es keine einzige Professur für Israel-Studien an einer deutschen Universität, wie Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte an der Ludwig-Maximilian-Universität München in der Süddeutschen beklagte. Dabei ist der Titel seines Beitrags Woher sollen sie es denn wissen? nicht einmal polemisch gemeint, wie Bildungsexperten aus der außeruniversitären (Lehrer-)Bildung immer wieder bestätigen. Es gibt auch keine einzige Professur für die „Jüdische Gegenwart“: Der Mangel an jüdischer Gegenwartsforschung besteht europaweit, wie in ein Expertenbericht der Europäischen Kommission dargelegt. Allerdings lehnte das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) den Vorstoß von meiner Kollegin und mir bis dato ab, eine Ressortforschungseinrichtung des Bundes für jüdische Gegenwartsforschung einzurichten, auch vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) erhielten wir eine abschlägige Antwort. Wissen über gegenwärtige jüdische – und israelische – Lebenswelten bleibt ein weit verbreitetes Desiderat, was dem Abbau von antisemitischen Vorurteilen nicht zukommt – Woher sollen sie es auch wissen?

Es bewahrheitet sich eine Aussage der nach Deutschland zurückgekehrten, jüdischen Politikwissenschaftlerin Eleonore Sterling aus dem Jahr 1965: „Die philosemitische Methode der Kritikabwehr ist nicht mehr die Vernichtung des Jüdischen als „Artfremdes“, sondern die Konservation des Jüdischen durch Versteinerung. Den Juden wird ein Denkmal gesetzt, wobei gerade der Götzenkult, den man damit betreibt, das tatsächlich „Jüdische“ unterschlägt – eben den Mut zum Anderssein und die zur Kritik zwingende Liebe zur Gerechtigkeit. Die zweite philosemitische Stereotype vom „Leidenden“, vom „Auschwitzjuden“, ist ebenso bedenklich wie die vom „Kulturträger.““

Überlebende Juden – oder Israelis –, ihr gelebtes Jüdischsein bzw. Israelischsein, ihr Selbstverständnis werden so nicht erfahrbar und es wird auch nicht bewusst, dass Juden vielfältig und lebendig sind und eben nicht nur aus dem medial gerne vorgeführten jüdischen Token der einschlägigen Talkshows bestehen – für die der eingeladene Jude qua Jüdischsein und qua (bekannter) Einstellungen eine Tokenfunktion erfüllt, die selten etwas mit Expertise zu tun hat. So funktioniert keine Debattenkultur und auch keine Annäherung an jüdische Realitäten.

Gescheiterte Dialoge

Aus Sicht der Betroffenen funktioniert es nicht, das Durchstreichen des Staates Israel und der israelischen Flagge damit zu entschuldigen, dass das dies eine Reaktion auf die nie erfolgte Anerkennung eines Staates Palästina sei – wie es eine Kollegin tat. Ebenso wenig funktioniert es, den in Deutschland lebenden Israelis als Antwort auf ihre Existenzangst an den Kopf zu werfen, dass die Siedlungen doch auch schrecklich seien – die meisten dürften dem ohnehin zustimmen, da sie sich als politisch moderat bis links verorten (Rebhun, Kranz & Sünker 2022) - oder die Existenzangst nach dem 7. Oktober 2023 mit den Worten zu pathologisieren, dass die USA schon eingreifen werden.

Ebenso wenig hilft es, die Existenzangst der Palästinenser in Deutschland in Deutschland abzutun oder aus eigener, ererbter Schuld – aus Post-Schuld – Plakate mit der Aufschrift ‚Free Palestine from German Guilt‘ zu versehen, ohne Wissen über das britische Mandatsgebiet vor 1948, den Staat Israel nach 1948 einschließlich der Nakba und der Nicht-Integration der Palästinenser in die arabischen Nachbarstaaten zu kennen, oder auch nur zu wissen, warum Juden (auch aus diesen Nachbarstaaten) ins Mandatsgebiet oder nach Israel geflohen sind, – oder den vereinfachenden Thesen anzuhängen, Israel sei ein Fall von Siedlerkolonialismus, Gaza ein Konzentrationslager oder die Palästinenser seien nur Opfer. 

Oder auch zu übersehen, dass es Judenfeindlichkeit in arabisch-muslimischen Mehrheitsgesellschaften schon vor der Staatsgründung Israels gab – ein Blick in die französischsprachige Geschichtswissenschaft, etwa in die Schriften des in Marokko geborenen, französisch-jüdischen Historikers George Bensoussan (2017/2019), würde Abhilfe schaffen.

Es fehlt Wissen über die israelische Realpolitik und die Erkenntnis, dass der Staat Israel das Versprechen, seine Bürger zu schützen, aus deren Sicht am 7. Oktober 2023 gebrochen hat (Sznaider 2024) und der derzeitigen Regierung ihr Machterhalt wichtiger ist, als die Befreiung der Geiseln in Gaza – und dass sich Israelis gegen eben diese Regierung und auch gegen militante Siedler in der besetzen Westbank stellen, die die Situation nun kriegsopportunistisch für sich ausnutzen.

Nichts, aber auch gar nichts, ist einfach nur schwarz-weiß und ohne Innensicht in seiner Eigenlogik verständlich. Die Komplexität der aktuellen Situation, aber auch die Geschichte des Konflikts beißen sich mit der vereinfachenden Täter-Opfer-, Schwarz-Weiß-Dichotomie, die in vielen post- oder dekolonialen Ansätzen hinein interpretiert wird. Postkolonialismus ist, wie der Philosoph Olúfẹ́mi Táíwò (2022) feststellt, ein europäisches und nordamerikanisches Label, das Afrikanern ihrer agency entzieht und an ihrer Stelle interpretiert, was originär afrikanisch sein soll. 

Die in Großbritannien arbeitende ägyptische Anthropologin Heba Abd el Gawad (2024) ist nicht weniger direkt: Ausgehend von ihrer Feldforschung konstatiert sie nüchtern, dass ihre gelebte Erfahrung von Dekolonialisierung dadurch gekennzeichnet ist, dass sie auf eurozentrischen Perspektiven von Ethik und Gleichheit beruht – und einen strategischen Narzissmus der Europäer ausdrückt, da Machtverhältnisse aufrecht erhalten bleiben. Die Ironie ist nicht zu übersehen.

Universitäten als Orte des Wissens und der Aufklärung

Diese Vereinfachung findet sich auch in einseitigen Veranstaltungen an Universitäten, die in bestimmten Fachbereichen besonders konzentriert sind. Es wird der Vorwurf von Kriegsverbrechen gegen Israel gepuscht, der Terror gegen Israelis – einschließlich der andauernde Misshandlungen der noch lebenden Geiseln – aber ausgeblendet. Diese Art von Stimmungsmache, die auch an deutschen Universitäten stattfindet, bereitet den diskursiven Boden für Gewaltexzesse wie in Berlin, wo im Februar 2024 ein jüdischer Student von einem Kommilitonen krankenhausreif geschlagen wurde: Eigentlich sollten Universitäten der Information und Diskussion dienen und nicht der Ideologisierung der Studierenden. Während insbesondere Kunsthochschulen stark in der Kritik stehen, sind sie längst nicht die einzigen Bildungsstätten, an denen einseitige Israelbilder existieren, die dann als israelkritisch verklärt werden, obwohl sie als antisemitisch einzuordnen sind.

Insofern ist es kein Zufall, dass das Bild des indonesischen Künstlerkollektivs Ruangrupa auf der „documenta fifteen“ erst einmal nicht als antisemitisch gelesen wurde. Das liegt nicht nur am Unwillen des Mainstreams, Antisemitismus zu erkennen. Über Indonesien und über die Figur des Juden oder des Israelis in Indonesien ist in Deutschland wenig bekannt – genau dieselbe Litanei lässt sich für Palästinenser aufführen, nur eben anders: Die Symbolik der Kufiya zu lesen und sie nicht als Fashion Statement, als warmen, politisch korrekten Schal für die im Winter in Gaza Frierenden zu verstehen und im „Eine-Welt-Laden“ schon grau gewordenen Za’tar zu kaufen, ist eine Essentialisierung einer heterogenen, palästinensischen Kultur, die in Deutschland selbst existiert. 

Das Wissen über sie ist rudimentär, und über palästinensische Normalität in Deutschland, auch die gibt es, ist noch weniger bekannt als über die israelische Normalität im Land. Die in der Öffentlichkeit stehenden Meinungsführer sind nicht die Mehrheit, und sie sind auch nicht diejenigen, die offene Briefe initiieren.

Keines der Stereotype löst die Probleme, aber es führt dazu, dass sich die Distanzierten in ihren In-Groups und/oder ins Private zurückziehen und näher zusammenrücken: Brücken, die schon vorher marode waren, brechen vollends zusammen. 

So mancher, den manche von uns als Verbündete in multireligiösen und multiethnischen Allianzen als Bündnispartner gesehen hatten, zeigte sein wahres Gesicht: eine empathielose Maske. Die Aussage eines jüdischen Mitaktivisten, dass wir als Juden verdammt einsam sind, und meine Erfahrungen nach dem 7. Oktober 2023 sind ebenso persönlich wie verallgemeinerbar: Wären wir in anderen Bündnissen, in anderen gesellschaftlichen Kreisen gewesen, wären unsere Erfahrungen andere.

Insofern war es meine Erfahrung und die Erfahrung von Juden und Israelis in ähnlichen Konstellationen, dass Deutsche ohne Migrationshintergrund eher zu einem ‚Ja, aber‘ neigten und damit sehr schnell in eine Opfer-Täter-Umkehr gerieten, und diejenigen mit Migrationshintergrund eher zu eisigem Schweigen; beide Gruppen unterschrieben offene Briefe, in denen der 7. Oktober 2023 und die Hamas nicht beim Namen genannt, aber das Leid und die Toten in Gaza beklagt wurden. Kollegen verteidigten die pro-palästinensischen Encampments von Studenten als friedlichen Ausdruck der Meinungsfreiheit, die absolut sei. Ich bezweifle, dass sie diese Meinungsfreiheit genauso verteidigt hätten, wenn es sich um rechte oder proisraelische Protestcamps gehandelt hätte.

Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich gezeigt, dass es Ausnahmen gibt, aber nur wenige. Die beiden häufigsten Reaktionen, Schuldumkehr und Schweigen, sind auf unterschiedliche Weise verletzend und unempathisch, wobei die Verletzung noch tiefer ist, wenn sie von langjährigen Freunden oder Kollegen kommt. Sie scheinen nichts zu wissen über jüdische Geschichte und Gegenwart, über die Shoah und ihre Langzeitfolgen, über Trauma, Traumatradierung und Intergenerativität. 

Das sollte mich aber nicht wundern, da Schweigen und Agnotologie, eine kulturell getragene Ignoranz, die deutsche Gesellschaft nach 1945 strukturiert und ‘man‘ angeblich nichts wusste von dem, was zwischen 1933 und 1945 geschehen war. Diese bewusste Ausblendung des Gewussten führt bis heute zu Verschiebungen auf die Anderen. Asylsuchenden und Migranten werden falsche oder gefälschte Papiere unterstellt, während verschwiegen wird, wie Deutsche – Arier – nach 1945 ihre Identitäten fälschten und auf verschiedenen Wegen versuchten, „Persilscheine“ zu erhalten. Es scheint, als sei man nun am Ende der eigenen Lebenslügen angekommen und als seien die Brücken, die man mit ihnen aufgebaut hat, eingestürzt.

Brücken über die Post-Schuld?

Was kommt nach der Erkenntnis? Welche Brücken können wir bauen, über welche können wir gehen? Es ist klar, dass diese Brücken anders aussehen werden, als die, die es vor dem 7. Oktober 2023 gab: Sie werden ein anderes Design haben, denn die Zeit der Symbolpolitik ist vorbei – ebenso wie die Zeit mancher Diskussionen. Das zeigt sich auch in einer Reihe von Sammelbänden, die gerade erschienen sind und allesamt Einblicke geben, dass man eben nicht miteinander redet, auch wenn die Titel das versprechen, sondern dass ‚man‘ miteinander redet, wenn man Werte teilt. Nach der sehr hitzigen Diskussion um die Ausladung des Philosophen Achille Mbembe von der Ruhrtriennale im Jahre 2020 waren Natan Sznaider und ich noch davon ausgegangen, dass man miteinander diskutieren und eine gemeinsame Basis finden könne. Nun geht Sznaider (2024) wie ich davon aus, dass dem nicht so ist: Mit Menschen, die mich als Jüdin und/oder Israelin im Nahen Osten auslöschen wollen, die meine Existenz aberkennen oder kein Wort über den Terror gegen israelische Zivilisten, die Massenvergewaltigungen israelischer Frauen, den Mord und Entführung auch von Kleinstkindern verlieren, gibt es keine gemeinsame Basis mehr.

Der Theologe Björn Krondorfer hat dies in Unsettling Empathy (2020) dargestellt: Versöhnung und Kommunikation gelingen nur, wenn es ein gemeinsames Verständnis gibt, den Willen, die Vergangenheit für zukünftige Generationen in gemeinsamer Anerkennung zu deuten und die Gegenwart so zu gestalten. Diese pragmatische Feststellung geht Hand in Hand mit seiner Prämisse, dass Versöhnung – und ich würde sagen, respektvolles Zusammenleben – nur dann funktioniert, wenn es auf Ehrlichkeit beruht. Diese Ehrlichkeit ist, bei allem Entsetzen über die ‘neuen’ Verhältnisse, bei mir definitiv eingetreten.

Mein Fazit

Die nicht mehr relevanten Bündnispartner sind weg, bei den anderen ist klar, dass mit mit ihnen gemeinsame Brücken gebaut werden können, die zu gemeinsamen Zielen führen. Ist das eine pessimistische Sicht? Vielleicht. Auf jeden Fall ist es eine realistische Sichtweise, und vielleicht wird es in der Generation meiner Tochter oder meiner zukünftigen Enkel eine Versöhnung mit den Kindern und Enkeln meiner ehemaligen Bündnispartner geben. Bis es so weit ist, sollten wir uns einfach aus dem Weg gehen und denen, gegen die wir eigentlich Verbündete waren, nicht noch mehr Nahrung geben, denn diese radikalen, antidemokratischen Kräfte sind es, die von den Auswüchsen der Post-Schuld, der ahnungslosen, leichtfertigen Identifikation und der Empathielosigkeit profitieren. So viel Gemeinsamkeit sollte es noch geben – wobei meine Hoffnung immer mehr schwindet.