In welche Richtung steuert die liberale US-Demokratie nach Bidens Rücktritt?

Analyse

Mit dem Rückzug Joe Bidens und dem Abschied vom etablierten Fahrplan gehen die Demokraten ein Risiko ein. Doch die Kandidatur von Kamala Harris setzt einen liberalen Kampfgeist frei, der eine ungeahnte Wendung im Wahlkampf ermöglichen könnte.

Foto: US-Präsident Joe Biden geht von einem Rednerpult weg, auf dem das Siegel des Präsidenten der Vereinigten Staaten zu sehen ist.
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US-Präsident Joe Biden verlässt die politische Bühne zum Ende seiner Amtszeit.

Selten war ein Sommer so dicht an politischen Ereignissen und Wenden, wie die letzten drei Juliwochen. Das Attentat auf Donald Trump, der Republikanische Parteitag mit der Nominierung von J.D. Vance, Joe Bidens Rückzug aus dem Rennen und Kamala Harris rasanter Aufstieg zur demokratischen Spitzenkandidatin: Der Drang, die historische Signifikanz von Ereignissen sofort zu benennen war hoch. Doch der Blick auf die letzten Wochen und Tage zeigt uns die Grenzen zeitgenössischer Gegenwartsdeutungen und lässt uns gleichzeitig erleben, wie aufregend es sein kann, wenn Geschichte geschrieben wird.

Ein Attentatsversuch, der kaum etwas ändert

Es ist erst eine Woche her, dass ein junger Mann auf den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump schoss und ihn nur knapp verfehlte. Der unmittelbare Schock war groß - ebenso mitreißend schien der Sog zu sein, diesen Moment und die dabei entstandenen Bilder zur historischen Zäsur zu erklären. „Der Moment, der alles verändert“ und „Aufgewacht in einem anderen Land“ hieß es auch in den internationalen Schlagzeilen am Morgen danach. Nicht wenige Kommentator*innen sagten Trump einen Wahlsieg voraus.

Eine Woche später spielt das Ereignis in der politischen Berichterstattung und dem gesellschaftlichen Diskus kaum noch eine Rolle. Die Republikanische National Convention (RNC) hätte Gelegenheit geboten, das Attentat im Zentrum der politischen Debatte zu halten – das hätte allerdings auch eine qualitative Veränderung im Tonfall, Auftreten oder der Choreographie bei den Republikanern erfordert. Zu dieser schienen weder die Führung noch die Basis bereit oder in der Lage zu sein. Stattdessen belegten Trumps enthemmte Rachefantasien und der Führerkult seiner Basis erneut die Radikalität der Partei.

Der Versuch, das Attentat trotzdem zur Zäsur zu erklären, zeigt aber etwas über die Reflexe und den Zustand der politischen US-Beobachtung: Noch immer scheint das Bedürfnis vieler Kommentator*innen groß zu sein, die politische Auseinandersetzung im Land in eine Normalität einzuschreiben, die es längst nicht mehr gibt.

Ein Vize-Kandidat, der sehr schnell verblasst

Die Entscheidung für J.D. Vance als Trumps Vizekandidat wurde von zahlreichen Beobachter*innen in Milwaukee als gelungene Personalentscheidung kommentiert: jung, gebildet und zugleich ein vermeintlicher Kenner der weißen Arbeiterklasse. Vance schien nicht nur ein geeigneter Kompagnon, sondern auch ein potentieller Nachfolger für Trump zu sein.

Nur wenige Tage später aber stechen offensichtliche Defizite von Vance unübersehbar hervor. Seine politischen Positionen sind erkennbar radikal. Gleichzeitig ist er offensichtlich opportunistisch. Der aggressive Senator aus Ohio vertritt weder einen der wichtigen Swing States, noch hat er Einfluss auf einen politischen Flügel außerhalb von Trumps MAGA-Kosmos. Seine Nominierung erschließt den Republikanern keine neuen Wählergruppen, vielmehr lässt sie das autoritäre ideologische Projekt einer zweiten Trump-Administration noch klarer erscheinen. Abseits vom inszenierten Propagandarausch des Parteitags ist offen, welche strategische Rolle Vance im republikanischen Wahlkampf spielen soll.

Bidens Unterstützung von Netanjahu

Seit der Eskalation des israelischen Kriegseinsatzes in Gaza wird in den USA auf innenpolitischer Ebene darüber debattiert, welche Verantwortung der Präsident für den Tod der palästinensischen Menschen trägt. „Genocide Joe“ wurde das Schlagwort, mit dem vor allem junge Menschen und Mitglieder der arabisch-amerikanischen Community ihre Wut über Bidens Unterstützung von Netanjahu ausdrückten. Die sichtbarste politische Manifestation fand dieser Protest bei den Vorwahlen der Demokraten in Michigan, als Anfang des Jahres knapp 100.000 Wähler*innen Biden ihre Stimme verweigerten. Auch jetzt melden sich die politischen Anführer dieses Protests zu Wort und fordern von Kamala Harris eine sichtbare Abkehr von Bidens Israel-Politik.

Doch obwohl der Krieg in Gaza in den letzten Monaten sichtbar weiter eskaliert ist, mehr als 35.000 Menschen gestorben sind und der Einsatz der israelischen Armee inzwischen mehrfach durch internationale Institutionen verurteilt wurde, ist aus den „uncommitted“ Stimmen und den pro-palästinensischen Campus-Protesten keine Massenbewegung geworden. Seit einigen Monaten zeichnet sich ab, dass das Entsetzen über das Sterben in Gaza zwar bei jungen Menschen größer ist als bei älteren Generationen – dass Gaza allein aber auch bei jungen Amerikaner*innen nicht wahlentscheidend ist. Bidens mangelnde Beliebtheit bei jungen Menschen spielte in den vergangenen Wochen eine große Rolle. Meinungsforscher*innen und Strateg*innen gehen aber davon aus, dass sich das weniger durch Bidens Unterstützung von Netanjahu, sondern vor allem mit seinem Alter begründet. Auch prominente progressive Unterstützer*innen des Protests und Kritiker*innen von Biden haben ihre Kritik nicht an seine Außenpolitik geknüpft, sondern an sein Alter.

Der Protest gegen den israelischen Einsatz in Gaza wurde zuletzt oft als Beleg dafür gesehen, dass internationale Ereignisse die innenpolitischen Debatten der USA heute stärker prägen als zuvor. Doch bisher bestätigt sich diese These nicht. Es waren nicht die pro-palästinensischen Protestwähler*innen, die Biden zum Rückzug gebracht haben. Trotzdem ist es ein wichtiges Zeichen, dass sich Kamala Harris schon zu Beginn ihrer Kampagne sichtbar von Bidens Partnerschaft mit Netanjahu abgrenzt.  

Do not blame the Left

Es war nicht der linke Flügel der Demokratischen Partei, der Biden zum Rückzug bewegt hat. Nur wenige politische Akteure haben sich so klar hinter den amtierenden Präsidenten gestellt, wie die beiden linken Führungsfiguren Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez. Noch zwei Tage vor Bidens Rücktritt sprach sich die Abgeordnete Ocasio-Cortez in einem LiveGespräch auf Instagram vor ihren Millionen Followern gegen Bidens Rücktritt aus – obwohl der amtierende Präsident bei vielen ihrer jungen Anhänger*innen extrem unbeliebt ist.

Ocasio-Cortez‘ Hauptargument: Keine Experimente! Fantasien von einer open convention oder mini-primaries seien naiv und unrealistisch - ein Wunschdenken des politischen Feuilletons und ein Bedürfnis nach Spektakel, das dem Ernst der Lage nicht gerecht werde. Die junge Abgeordnete wies zurecht darauf hin, dass viele von Bidens einflussreichsten Kritiker*innen sich bisher nicht klar hinter Harris positioniert hätten. Sie traute dem Establishment der Demokraten nicht zu, sich hinter der amtierenden Vizepräsidentin zu vereinen. Das Chaos und die innerparteilichen Machtkämpfe, die nach einem Rückzug Bidens beginnen könnten, seien ein unzumutbares Risiko. Vor allem für marginalisierte Menschen und Minderheiten in Amerika, die am meisten unter einer zweiten Amtszeit Trumps zu leiden hätten. Biden müsse deshalb bleiben.

Inzwischen hat die gewaltige Welle an Zuspruch aus dem Parteiestablishment, die Kamala Harris diese Woche erlebt, die Befürchtungen von Sanders und Ocasio-Cortez widerlegt. Trotzdem ist die sich hier ausdrückende Loyalität der beiden gegenüber dem amtierenden Präsidenten bemerkenswert.

Basis versus Biden?

Es ist auffällig, dass die Unterstützung für Biden an der weißen Demokratischen Basis auch in den letzten Wochen kaum nachgelassen hat. Trotz misslungener TV-Debatte blieb die Zustimmung für Biden bei älteren Wähler*innen und weißen Bevölkerungsgruppen ohne akademische Ausbildung relativ stabil. Das sind genau die Wählergruppen, denen Biden 2020 Zugewinne im rust belt – der größten Industrieregion der USA – zu verdanken hatte und auf die ein großer Teil seiner Industriepolitik abzielte. Man sollte Bidens Rückzug also nicht als Ergebnis eines Aufstandes an der versammelten demokratischen Basis verklären.

Bidens Rückzug ist auch kein Votum über die Bilanz seiner Amtszeit. Als er im Januar 2021 ins Weiße Haus einzog, unmittelbar nach dem rechten Terrorangriff auf das Kapitol, war die US-Gesellschaft bis ins Mark zerrüttet. 80.000 Menschen starben in Amerika damals monatlich an Covid, die Arbeitslosenrate lag bei über sechs Prozent, das Wirtschaftswachstum war extrem schwach. 

Trotz des maximalen Widerstandes der republikanischen Fraktion ist es der Biden-Administration gelungen, die Erneuerung der amerikanischen Infrastruktur einzuleiten, eine Renaissance der Gewerkschaften anzukurbeln und eine historische Dekarbonisierungsreform zu verabschieden. Zu Recht wird Biden als einer der erfolgreichsten amerikanischen Präsidenten in die amerikanische Nachkriegsgeschichte eingehen – sein später Rückzug wird daran nichts ändern.

Erst die wochenlange Fixierung etablierter Leitmedien wie New York Times und CNN auf das Alter und den Gesundheitszustand des Präsidenten und schließlich Bidens schlechter Auftritt bei der TV-Debatte Ende Juni brachen den Rückhalt für seine erneute Kandidatur. Diese politische Wende sollte mehr als Machtdemonstration zentristischer und liberaler Eliten interpretiert werden, denn als Revolte von unten.

Der Harris-Moment

Die Kandidatur von Kamala Harris ist eine wichtige Erinnerung an jenen Moment, an dem sie die nationale politische Bühne betrat: Im Mai 2020 hatten Polizisten vor laufender Kamera den Afroamerikaner George Floyd ermordet. Es folgten eine breite Solidarisierung mit der Black Lives Matter-Bewegung in ganz Amerika und wochenlange Straßenproteste. So gewaltig der politische Schaden der ersten Amtszeit Trumps auch war, so groß war auch der gesellschaftliche Lernprozess, den sein Wahlsieg auslöste: #MeToo und #BlackLivesMatter zeigten einer amerikanischen Mehrheit erstmals, dass Diskriminierung, Machtmissbrauch und struktureller Rassismus Gegenwart waren und es höchste Zeit war, sie zu überwinden. Die Nominierung von Kamala Harris 2020 als Vizepräsidentin war eine Anerkennung dieser politischen und kulturellen Verschiebungen. Und sie signalisierte, dass die Demokraten bereit waren, für eine pluralistische, liberale Gesellschaft zu kämpfen.

Doch seit 2020 hat sich der politische Zeitgeist in den USA merklich gedreht: Sowohl die #MeToo-Bewegung als auch Black Lives Matter sind von einem gewaltigen reaktionären Backlash erschüttert worden. Die rechte Kampagne gegen Gleichberechtigung, Integration und Teilhabe sind in der politische Mitte Amerikas angekommen – in Form von diffuser Kritik an DEI-Maßnahmen (Diversity, Equality, Inclusion) sowie in einem aggressiven Kampf gegen „Wokismus“.

Parallel fand in den vergangenen Jahren eine konsequente Marginalisierung jener Kandidatin statt, die den Moment im Jahr 2020 wie keine andere repräsentierte: Die Vizepräsidentin Kamala Harris war vier Jahre lang so gut wie unsichtbar im politischen Establishment in Washington, das mediale Urteil über ihre Arbeit einhellig abfällig und negativ.

Umso bemerkenswerter ist die jetzige Euphorie über Harris‘ Kandidatur. Die Rekordmeldungen überschlagen sich: Spendensummen und ehrenamtliche Wahlkampfunterstützung waren selten so hoch wie in diesen Tagen. Das Geld und die Energie an der Basis helfen, die gewaltigen organisatorischen und strategischen Herausforderungen zu stemmen vor denen die Demokratische Kampagne jetzt steht. Die Netzwerke der Partei rüsten sich so gut es geht für den enthemmten Rassismus und den misogynen Furor, die sich bereits jetzt im rechten Amerika gegen die schwarze Kandidatin aufbauen.

Harris‘ jetzige Positionierung als demokratische Spitzenkandidatin steht in enormem Kontrast zum politischen Diskurs der vergangenen Jahre: Sie stellt eine längst überfällige Positionierung gegen den reaktionären Backlash seit 2020 dar.

Bis zur Wahl sind es nur noch knapp 100 Tage - und vor allem die Demokraten gehen mit ihrem Abschied vom etablierten Fahrplan ein Risiko ein. Die vergangenen Jahre waren von liberalen Niedergangserzählungen und multipler demokratischer Krisendiagnostik gekennzeichnet. Doch es reicht allein an die Offenheit der Gegenwart zu erinnern, um liberalen Kampfgeist und demokratische Zuversicht neu zu wecken.