USA: Demokratische Hochburgen stehen vor einem Dilemma - Eine Fallstudie aus Michigan

Analyse

Michigan wird von den Demokraten regiert. Doch gerade in den demokratisch dominierten US-Bundesstaaten könnte Wahlmüdigkeit die Zukunft der amerikanischen Demokratie entscheidend beeinflussen.

Foto: Der leere Sitzungssaal im Michigan State House mit hölzernen Schreibtischen und Ledersesseln, angeordnet in Reihen.
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Das Michigan State House während der Grow the Future-Studienreise im Mai 2024.

Der US-Bundesstaat Michigan kann sich eines demokratischen Dreigestirns rühmen: Die Demokrat*innen besetzen derzeit den Gouverneursposten und stellen die Mehrheit im lokalen Senat und Repräsentantenhaus. Warum also fällt Joe Biden in einem Bundesstaat, in dem die Demokrat*innen so stark sind, in den letzten Umfragen hinter Donald Trump zurück?

Dieser und anderen Fragen ging eine Delegation deutscher Demokratieaktivist*innen im Mai nach, als sie im Rahmen der Grow the Future“-Studienreise der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington, DC den Bundesstaat Michigan besuchten. Ziel war, mehr über die Bildung von breiten Allianzen für die Demokratie zu lernen und sich einige Monate vor den Wahlen ein Stimmungsbild in diesem „Swing State“ zu verschaffen. 

Wir rechneten durchaus damit, auf unzufriedene Wähler*innen zu stoßen, die sich nicht vorstellen können, im November ihre Stimme für die Demokratische Partei abzugeben. Doch das Bild, das sich in Gesprächen mit der Zivilgesellschaft, mit demokratischen Organisator*innen und politischen Vertreter*innen vor Ort ergab, zeigte sich weitaus komplexer: Ja, die Unzufriedenheit mit Präsident Joe Biden, seinem Alter und vor allem seiner Außenpolitik im Umgang mit Israel und dem Krieg in Gaza war spürbar. Aber insgesamt äußerten sich viele der Menschen, mit denen wir sprachen, überwiegend positiv über den politischen Kurs der Demokraten in ihrem eigenen Bundesstaat. 

Geringes Interesse an Präsidentschaftskandidaten

Diese divergierenden Auffassungen zwischen Bundes- und Landespolitik wurden sehr deutlich, als 101.000 demokratische Wähler*innen in Michigan (13,2 Prozent) bei den Vorwahlen im Februar „uncommitted“ (unverbindlich) ankreuzten und arabische, muslimisch-amerikanische, afro-amerikanische und junge Wähler*innen damit eine klare Botschaft an den Präsidentschaftskandidaten Joe Biden sendeten. 

Dieselbe Dynamik erklärt auch, warum eine gemeinnützige Organisation wie die League of Conservation Voters in Michigan sich entschlossen hat, ihre Demokratie- und Wahlkampagne derzeit ausschließlich auf lokale Kandidat*innen und Abstimmungen zu konzentrieren und nicht explizit zur Wahl des US-Präsidenten aufzurufen. Die Verbindung zwischen nationaler und lokaler Politik und die Frage, wie sich Michigans Wahlergebnis auf die Zukunft der US-Demokratie auswirken könnte, wird nicht berücksichtigt. 

In einer demokratischen Hochburg wie Michigan sind die Anreize noch geringer, sich für die Präsidentschaftskandidaten zu interessieren: Nachdem durch die Aufhebung des Roe v. Wade-Urteils das bundesweite Recht auf Abtreibung gekippt wurde, konnten die Demokrat*innen in Michigan trotz gegenläufiger Tendenzen in republikanisch regierten Bundesstaaten das Abtreibungsrecht in ihrem eigenen Bundesstaat sichern. Mit Hilfe bürgernaher Organisationen wie Voters not Politicians drängte Michigan auch die als „Gerrymandering“ bekannte Praxis zur Wahlmanipulation zurück, vereinfachte den Zugang zu Wahlen und bekämpfte Wahlbetrug. Auch wenn Trump 2.0 Realität wird, so das Argument, könnten sich die Demokrat*innen in Michigan gegen die vom Weißen Haus angekündigte nationale Politik wehren, wie es viele demokratisch regierte Bundesstaaten während Trumps erster Amtszeit versucht haben.

Politik hat immer auch eine lokale Komponente. Aber im größeren Kontext könnte die Verdrossenheit und Unzufriedenheit der Wählerschaft in Michigan mit der nationalen Politik Trump zu einer Rückkehr ins Weiße Haus verhelfen, da Biden den Bundesstaat im Jahr 2020 nur knapp mit 154.000 Stimmen Vorsprung gewann. Im amerikanischen Wahlsystem sind knappe Mehrheitsverhältnisse entscheidend, und oft sind sie ziemlich knapp. Das sollte eigentlich Grund genug für die Bürger*innen von Michigan sein, sich für die Präsidentschaftswahl  mobilisieren zu lassen. Zu unserer Überraschung ging es jedoch in den öffentlichen Debatten vor Ort gar nicht so sehr um den außergewöhnlichen Einfluss, den die Wählerschaft in Michigan auf das Wahlergebnis und damit auf den langfristigen Kurs Amerikas haben wird.

Abbau von Demokratie und Gewaltenteilung droht

Bürgernahe Organisatoren in Michigan sollten deshalb ihre Bemühungen noch wesentlich stärker konzertieren, um der Bevölkerung klarzumachen, was für die Demokratie in den USA landesweit auf dem Spiel steht. US-Medien warnen die Wählerschaft erst seit Juni 2024 vor dem „Project 2025“ der Heritage Foundation, obwohl der Think Tank das 900-seitige Dokument bereits im April 2023 online veröffentlicht hatte, lange vor dem US-Vorwahlkampf. “Project 2025“ ist ein Leitfaden für den Abbau des Verwaltungsstaates und schlägt eine Reihe von Maßnahmen vor, die die Demokratie und Gewaltenteilung im Land langfristig abbauen würden. Wähler*innen in Michigan und andernorts würden die Auswirkungen dieser extremen Politik in ihrem täglichen Leben spüren, ihr Rechte und Freiheiten würden stark beschnitten. 

Die Aufgabe, die bundesweiten Wahlen im Sinne der Demokratie zu gestalten, muss von vielen getragen werden. Die Gewerkschaften in Michigan gehören zu den wenigen Organisationen, in denen Menschen aus allen Gesellschaftsschichten täglich miteinander zu tun haben. Sie sind daher als Fürsprecher der Demokratie gut aufgestellt, wie uns Kevin Tolbert, der internationale Vertreter der Gewerkschaft UAW und einer der Vorsitzenden der Demokratischen Partei Michigans, versicherte.

Gewerkschaften können ihre Mitglieder mobilisieren, die Wahlbeteiligung erhöhen, das politische Engagement stärken und kollektives Handeln anregen. Sie stellen einen sichtbaren Zusammenhang zwischen den Vorteilen der Demokratie (wie Arbeitsrechte, Gesundheitsschutz und bezahlte Familienzeiten) und der Qualität von Arbeitsplätzen her. Sie können glaubhaft vermitteln, dass Demokratie mehr ist als der Gang zur Wahlurne und sich im Alltag aller Beschäftigten auswirkt. Auch das Schicksal der lokalen Gewerkschaften selbst hängt am Ausgang der nationalen Wahlen, da das Projekt 2025 eine künftige zweite Trump-Regierung dazu auffordert, den Handlungsspielraum des National Labor Relations Board (NLRB) einzuschränken.

Führend bei Projekten für die Klimawende

Abgesehen von der Rolle der Gewerkschaften hängt die Politik auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene entscheidend davon ab, was sich auf der Bundesebene abspielt. Man muss sich nur ansehen, wie sich etwa der Inflation Reduction Act (IRA) auf einen Bundesstaat wie Michigan auswirkt. Tatsächlich ist Michigan mit Investitionen in Höhe von 25 Milliarden Dollar der führende Bundesstaat bei der Akquise von Projekten für erneuerbare Energie unter dem IRA. Das Geld fließt in den Bau von Batteriewerken, die Ausweitung der Produktion von Elektrofahrzeugen und die Einführung von Wind- und Solarenergiealternativen, wobei mehr als 20.000 neue Arbeitsplätze entstehen. 

Und dennoch ist sich die Bevölkerung von Michigan dieser Erfolge kaum bewusst. Umfragen und Fokusgruppen von Climate Power vom Juni 2024 zeigen, dass nur eine*r von fünf unentschlossenen Wähler*innen in Michigan überhaupt von den Bemühungen der Biden-Regierung um die Klimawende und erneuerbare Energien gehört hat. Vertrauenswürdigen lokalen Sprachrohren wie Bridge Detroit kommt eine wichtige Rolle dabei zu, Gemeinschaften über diese komplexen politischen Maßnahmen aufzuklären. Dieses hyperlokale journalistische Projekt versteht sich auch als öffentlicher Dienstleister für die Bürger*innen von Detroit. „Der Ausgangspunkt für jeden unserer Beiträge ist die Frage, wie er die Menschen betrifft“, so Laurén Abdel-Razzaq, Geschäftsführerin von Bridge Detroit.

Bislang wurde Michigan als Erfolgsgeschichte für die Bildung starker, demokratischer Bündnisse zwischen verschiedenen Wählergruppen gefeiert. Während unserer Studienreise konnten wir uns aus erster Hand ein Bild von der Arbeit machen, die hinter diesen breiten Koalitionen für mehr Gemeinwohl steckt. „Wir müssen die Menschen daran erinnern, dass wir uns die Demokratie immer und immer wieder erarbeiten müssen“, betonte die Abgeordnete Laurie Pohutsky in unserem Gespräch. Die nächsten Monate werden entscheidend sein, da sich die Wahlentscheidung in Michigan massiv auf die weitere Entwicklung der amerikanischen Demokratie auswirken könnte.