„Eine unbequeme Wahrheit ist besser als eine falsche.“

Interview

Seit dem Verschwindenlassen 43 mexikanischer Studenten aus Ayotzinapa am 26. September 2014 sind sechs Jahre vergangen. Im Gespräch mit dem Arzt Carlos Beristain, Mitglied der internationalen Expertenkommission GIEI, die mit der unabhängigen Untersuchung des Verbrechens beauftragt wurde, zieht dieser ein Resümee der vergangenen Jahre. Beristain wirft einen kritischen Blick auf die Verstrickung zwischen Straflosigkeit, mexikanischen Behörden und der Gewalt als modus operandi.

Ausstellung Spuren der Erinnerung
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Spuren der Erinnerung - Ausstellungseröffnung zum gewaltsamen Verschwindenlassen in Mexiko (Juli 2017).

In der Nacht auf den 27. September 2014 erfolgte in Mexiko ein Verbrechen, das um die Welt ging. Von Polizeieinheiten in der Kleinstadt Iguala aufgegriffen und dem dortigen organisierten Verbrechen übergeben, gelten seit dieser Nacht 43 Lehramtsstudenten aus Ayotzinapa als verschwunden. Spuren gab es zuhauf, doch mexikanische Behörden gingen ihnen entweder nur unzureichend hinterher oder manipulierten Beweis. Die Interamerikanische Menschenrechtskommission CIDH rief damals die fünfköpfige unabhängige Expertenkommission GIEI ins Leben, die mit einem Mandat des mexikanischen Staates im Land eigene Untersuchungen antrat. Im Jahr 2016 brach die GIEI ihren Einsatz ab: Die fünf Mitglieder, allesamt international renommierte Anwälte, Richter oder Ärzte, waren während ihrer Arbeit einer medialen Hetzkampagne, Drohungen und staatlicher Manipulation von Beweisen auf verschiedenen Ebenen ausgesetzt. Unter dem jetzigen Staatspräsidenten Andrés Manuel López Obrador wurde nun zum Jahresanfang ein neues Abkommen zwischen der CIDH und dem mexikanischen Staat geschlossen, damit die GIEI den Fall neu aufrollen kann.

Im Interview spricht der spanische Arzt und Psychologe Carlos Beristain über die strafrechtlichen und politischen Folgen des Verbrechens im Zuge seiner Untersuchungen. Beristain, der jahrzehntelange Erfahrung in der Aufklärung von Menschenrechtsverbrechen in Afrika und Lateinamerika vorweist, gehört seit seiner Gründung der GIEI an. Das GIEI veröffentlichte bis 2016 zwei Berichte, die zusammen über 1000 Seiten umfassen. Sie gehören zu den detailliertesten Dokumenten, die das mexikanische System der Straffreiheit und Korruption entschlüsseln.

Carlos Martín Beristain

Carlos Martín Beristain, spanischer Arzt und Psychologe. Mitglied der Interdisziplinären Kommission unabhängiger Experten (GIEI), die 2015-2016 zur Aufklärung im Falle der 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa, Mexiko eingesetzt wurde.

Im Gespräch zieht der Psychologe immer wieder Parallelen zu Lateinamerika in den letzten 30 Jahren. Nicht, um das Verschwindenlassen in Mexiko als einen Konflikt neben vielen anderen zu klassifizieren, sondern um das Chaos der unterschiedlichen Gewaltmechanismen zu entwirren. Ziel dieser Arbeit ist es, historische Erklärungsmuster zu liefern, die es erlauben nachzuvollziehen, was seit vielen Jahren in Mexiko passiert. Mit pointierten Worten stellt er klar:

„Alle Formen der Gewalt, nicht der Gewalt zwischen zwei Menschen, sondern der kollektiven Gewalt, haben eines gemeinsam: der Mechanismus der sich dahinter verbirgt zielt auf die Bevölkerungs- und territoriale Kontrolle ab. Die unterschiedlichen Formen innerhalb der Logik der Gewalt gehorchen dieser Beziehung zwischen einer Gewalt der Zerstörung und Strategien der Legitimierung.“

Was ist, sechs Jahre nach dem Verbrechen, Ihre Deutung des Falls Ayotzinapa? Und was lernen Sie aus Ihrer Beteiligung an der Untersuchung für sich selbst?

Ich möchte das anhand eines Beispiels verdeutlichen. Als wir als GIEI erstmals in Mexiko ankamen und aus dem Flugzeug stiegen, gingen wir geradewegs zu einem Treffen mit dem Innenministerium, dem Auswärtigen Amt und der Generalstaatsanwaltschaft. Am nächsten Tag jedoch, um 9 Uhr morgens, gingen wir zur Schule von Ayotzinapa. Was wir da taten? Wir vollzogen einen demonstrativen Akt für die Leute vor Ort. Weil keine einzige staatliche Behörde der Schule einen Besuch abgestattet hatte – es war eine hochsymbolische Geste. Um zu zeigen, dass wir es ernst meinten. Wir sprachen mit den Familien der Studenten und sie alle sagten uns drei Dinge:

„Sie sind die Einzigen, denen wir vertrauen. Wir vertrauen keinem sonst. Sagen Sie uns immer die Wahrheit, sei sie auch verletzend. Und, bitte, verkaufen Sie sich nicht.“

Sätze, die keinem von uns fünf der GIEI jemals zuvor in irgendeinem anderen Kontext gesagt worden sind: „Bitte, verkaufen Sie sich nicht.“ So würde ich das umreißen, was mir in Mexiko widerfahren ist.

Und was antworteten Sie daraufhin?

Das war in dem Moment die einfachste zu beantwortende Frage: „Wir kamen nicht hierher, um uns zu verkaufen.“ Wenn man jedoch auf die gemachten Erfahrungen der Menschen schaut und die Strategie berücksichtigt, die der mexikanische Staat anwandte, um unsere Arbeit zu neutralisieren und zu delegitimieren, dann hätte man sehr wohl irgendwann denken können, dass wir uns verkauft hätten. Ohne unseren kritischen Blick hätten wir diese Strategie nicht bemerkt.

Es gibt so etwas wie erlernte Ohnmacht. Viele Menschen in Mexiko sagten uns: „Sie werden hier nichts erreichen, man wird Sie nicht lassen.“ Dahinter verstecken sich zwei Deutungen: zum einen, dass sie einen nicht lassen, und, zum anderen, dass versucht wird, dich einzulullen. Eine Sache ist, nichts tun zu können, die andere aber zu merken, dass du ohnmächtig bist. Die Straffreiheit schafft ein System, das uns alle von unserer Ohnmacht überzeugt. Dass es keinen Weg nach draußen gibt, dass man sich damit abfinden muss. Am Ende glauben alle, dass man nichts tun kann.

Ich kämpfe dagegen an. Man kann so etwas nicht zulassen, denn am Ende ist es die Bestätigung der Ohnmacht sozialer Kämpfe und der Menschen. Es ist eine Sache zu wissen, gegen was du dich stellst. Man darf dabei nicht naiv sein. Es ist jedoch etwas anderes, keine Strategie zu haben und zu denken: der Staat ist böse und schrecklich und es gibt nichts, was getan werden kann.

Mexiko erfüllt auf dem Papier alle notwendigen juristischen Standards und Menschenrechtsvorschriften. Wie ist dieser Bruch mit der Realität möglich und was sind die Folgen für die Demokratie davon?

Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Systeme, die sich demokratisch nennen, uns die Konzepte und die Sprache rauben, mit denen wir Gesellschaft verstehen und in ihr handeln. Wenn dir die staatliche Macht beides raubt, raubt sie dir, was du sagen kannst. Dann bist du verloren. Weil nichts, was du sagen wirst, einen transformatorischen Charakter erlangen kann. Daher bedarf es einer gewissen Distanz zu Realität, in der du arbeitest.

Wie ist Gerechtigkeit darin möglich, bzw. wie behält man diesen Charakter der Veränderung bei?

Es gibt, zumindest meiner Erfahrung nach, zwei Zeiten, in denen man sich immerfort bewegt. Und genau das ist uns in Mexiko passiert. Du hast die Zeit, in der die Dinge passieren und die Zeit, in der du merkst, was alles für Dinge passieren. Ausgehend von einer transformatorischen Perspektive, einer Perspektive für die Gerechtigkeit, darf in einem Land wie Mexiko zwischen beiden Zeiten nicht viel Zeit liegen. Wenn du dich nicht auf jene Zeit konzentrierst, in der du dir der Dinge, die passieren, bewusst wirst, bist du verloren, sobald drei Monate verstrichen sind.

Ein Beispiel: Du arbeitest mit einem Staatsanwalt zusammen und dir wird klar, dass er korrupt ist, dass er Beweise verheimlicht, rein gar nichts für die Gerechtigkeit unternimmt, sondern dafür arbeitet, die Dinge zu manipulieren. Wenn du dir darüber aber erst vier Monate später bewusst wirst, hast du verloren. In dem Moment, in dem du im Hier und Jetzt arbeitest, musst du außerhalb des Kontextes stehen, um die Dinge zu begreifen, nachzuvollziehen und zu schauen, wie es weitergehen soll.

Um ein anderes Beispiel zu bringen: die Generalstaatsanwaltschaft hat nach vier Monaten Untersuchung behauptet, die 43 Studenten seien auf der Müllhalde von Cocula verbrannt worden. Diese Geschichte wurde anhand von vier Zeugenaussagen konstruiert. Die Widersprüche waren mehr als deutlich: einige sagten, dass sie die Studenten weiter oben ermordet hätten, andere sagten, weiter unten. Nichts passte. Es gab viele krasse Widersprüche, aber vor allem einer erschien uns erschlagend, und zwar die Menge an Feuerholz die man gebraucht hätte, um so viele Körper zu verbrennen. Es ergab keinen Sinn. „Ziehen Sie uns nicht auf, so war das nicht“, sagten wir dem Staatsanwalt. Später wurde ein weiterer, ein fünfter, Beschuldigter verhaftet, der ‚El Duva‘ oder ‚El Duvalín‘ genannt wurde. Eines Tages kam dann der Staatsanwalt mit der Aussage von diesem fünften Beschuldigten. Wir sind sie durchgegangen und merkten, dass sie auf all die Ungereimtheiten, die wir zuvor ankreideten und widersprüchlich fanden, plötzlich Antworten lieferte. „Mit dem, was er sagt, stimmt die Version jetzt“, so der Staatsanwalt.

Die Aussage war also ganz klar gefälscht?

Ja. Hier tut sich die Frage auf, wie fabrizieren diese Leute Beweise, damit sie zu dem passen, was du sagst? Wenn du nicht alles aus der Distanz beobachtest, bist du verloren. Wie gesagt, du bewegst dich stets in zwei Zeiten. Und nicht, weil du an eine Verschwörungstheorie glaubst und dass der Staat alles kontrollieren würde. Dort gibt es viel weniger Intelligenz, als es den Eindruck macht. Man könnte glauben, es gäbe ein machiavellisches Design, aber es ist weitaus banaler. Auch wenn es ein System ist und man es nicht minimalisieren darf, so ist es doch eine Form, wie sie an vielen anderen Orten auch funktioniert. Man muss sich viel klarer darüber sein, um eine gründlichere und kritischere Haltung zu entwickeln. Um die Dynamiken dieser Konflikte besser zu verstehen, um die Formen besser zu verstehen. Das ist ein zentrales Problem: die Kontinuitäten der Gewalt.

Wie war es für Sie, sich an der staatlichen Untersuchung, die später als Akte des Falls Iguala [Expediente Caso Iguala] veröffentlicht wurde, abzuarbeiten? Es ist ein beeindruckendes Dokument, allein in seinem Umfang. Vor allem aber, weil es so tut als sei es die Wahrheit.

Die schriftliche –sagen wir mal – Methode, ist ein alte, perverse Methode - alles wird aufgeschrieben und du weißt nicht, welches Gegenstück dazu existiert. Weil du nicht über die mündliche Methode verfügst, in der z.B. nachvollziehbar ist, welche Beweise im Zuge der Untersuchung und warum übersprungen wurden. Im Gegensatz zu anderen Ländern, hatten wir hier sehr viele Beweise. Dort wird lediglich festgestellt, dass nichts passiert sei. Die Akte ist dann 100 Seiten lang. In Mexiko wurden uns am Tag unserer Ankunft 80.000 Seiten übergeben. Und die Akte wuchs weiter.

Beim Lesen der Akte fiel uns auf, dass der ganze deskriptive Teil sehr gut ausgearbeitet wurde. Teilweise wurde sogar bei Aspekten, die gar keine Relevanz hatten, zu akkurat gearbeitet. Als wir uns aber den Schlussfolgerungen widmeten, merkten wir, dass etwas nicht passte. Wir fragten uns: „Wie ist es möglich, dass mit all den Beweisen und der Beschreibung, solch eine Schlussfolgerung gezogen werden kann? Was zeigt das auf?“ Es zeigt, dass sich dahinter eine Hand versteckt, die den ganzen Untersuchungsprozess in eine vorgegebene Richtung lenkt. Man darf sich also nicht von der Beweissammlung und der technischen Ausrüstung beirren lassen. Denn die Schlussfolgerungen sind rein spekulativ. Was bedeutet also dieser Sprung? Jemand gibt vor, was geschlussfolgert werden soll.

Können Sie etwas genauer ausführen, wie sich dieses Fabrizieren von falschen Beweisen oder das Manipulieren der Untersuchungen gestaltet?

Wir haben uns daraufhin der Analyse der ärztlichen Berichte und den darin beschriebenen Verletzungen zugewandt. Doch es fehlte ein Foto als Beleg. Es gibt eine ungemein genaue, fast schon übertriebene, Beschreibung der Verletzungen. Doch wo ist das Foto?

Um ein anderes Beispiel, eins von den Beschuldigten, hinzuzuziehen. Warum ist einer der Festgenommenen verletzt? Er hatte eine gebrochene Nase und wurde der zuständigen Unterbehörde für Untersuchungen über die Organisierte Kriminalität (SEIDO) übergeben. Acht Stunden später wird ein neuer ärztlicher Bericht angefertigt. Auf einmal hat der Beschuldigte acht Verletzungen. Zwölf Stunden später, wieder ein Bericht, jetzt weist er 20 Verletzungen auf. Ein weiterer Bericht nach zwei Tagen dokumentiert 24 Verletzungen. Das Bemerkenswerte daran ist, dass es eine ganze Maschinerie gibt, die solche Berichte anfertigt.

Diese Berichte dienen nicht dazu, den Festgenommenen zu schützen. Der Sinn eines ärztlichen Berichtes ist es, dass er hilft, den Gefangenen zu schützen. Wenn ich sehe, dass jemand gefoltert wurde oder dass er Verletzungen aufweist, dann muss ich dem Staatsanwalt oder dem Richter sagen: „Der Gefangene hatte vorher keine Verletzungen und jetzt hat er welche. Hier gibt es ein Problem. Sie müssen das untersuchen.“ Das wäre das Optimale, das was zu tun wäre. Aber nein. Es gibt allein die Formalie, dass es fünf Zuständige gibt, die den ganzen Tag Berichte anfertigen. Sie sehen, dass die Verletzungen zunehmen, doch sie unternehmen nichts. Was sagt das aus? Dass irgendjemand angeordnet hat, so haben die Schlussfolgerungen auszusehen. Es ist nicht das Fazit des Gutachters oder der Ärztin. Es ist Ausdruck struktureller Probleme in Mexiko. Die Personen, die die Sachgutachten anfertigen, sind der Staatsanwaltschaft untergeordnet.

Es gibt hier ein Problem mit der Ethik. Denn es gibt einen Strukturfaktor, der die Unabhängigkeit des Gutachters einschränkt. Klar, man kann noch weitere Fortbildungen zum Istanbul-Protokoll der UN durchführen, aber das führt zu nichts. Denn was dominiert ist die Treue dem System gegenüber, und nicht gegenüber der Wahrheit, der Untersuchung oder der Arbeit.

Was haben Sie mit ihren gewonnenen Erkenntnissen dann getan?

Wir haben dem damaligen Präsidenten Enrique Peña Nieto gesagt: „Nehmt diese unangenehme Wahrheit an. Es ist besser, eine unangenehme Wahrheit anzunehmen als eine Lüge aufrecht zu halten, die in sich zusammenfällt.“ Er antwortete uns mit den gleichen Sätzen, die uns zuvor bereits andere gesagt hatten. Er und die anderen sagten, wir würden ihnen misstrauen und machten es an einem Bild fest: „Wenn du zum Essen eingeladen wirst, und plötzlich fehlt eine Gabel, oder es fehlt das Messer der Großmutter, kannst du nicht einfach den verdächtigen, der dich eingeladen hatte.“

Unsere Antwort war stets die gleiche: „Das ist aber, was wir entdeckt haben. Das spricht für sich.“ - „Nein“, sagten sie, „Sie äußern nur eine Meinung.“ Und viele Medien verwandelten die Wahrheit in eine weitere Meinung. „Ihr seid der Meinung, dass die jungen Studenten nicht verbrannt worden seien.“ Entschuldigung, aber wir meinen hier überhaupt nichts. Hier ist das Feuergutachten, hier das Handy von einem Studenten, der, als er bereits ermordet worden sein sollte, eine Nachricht an seine Mutter schickt: „Bitte lade mein Handy auf.“ Wir äußern hier gar keine Meinung. Es tut mir leid, aber die Dinge sprechen für sich.

Ein gängiges Vorgehen einflussreicher Akteure, die etwas vertuschen wollen.

Es gibt hier alle möglichen Elemente der postfaktischen Politik: es sind Versuche, die Situationen zu verfälschen und alles in eine weitere Version der Geschichte zu verwandeln. Alles sei nur eine Meinung. In der Akte hat die Staatsanwaltschaft ganz einfach einen kompletten Bus, den fünften Bus, gestrichen. Der Bus, der vermutlich eine Heroinladung hatte und weswegen die Studenten angegriffen und entführt worden sind. Zwischen 80.000 Seiten lasen wir nichts von einem fünften Bus.

Sie arbeiten zurzeit in einer Wahrheitskommission für Kolumbien. Was eint beide Länder, Mexiko und Kolumbien? Und inwiefern ist das, was dort passiert, repräsentativ für ganz Lateinamerika?

Für den kolumbianischen Kontext untersuche ich den Aspekt des Exils. Ich habe Staatsbeamte interviewt, die alles riskiert haben, die ihre Arbeit gut gemacht haben, die Menschenrechtsverletzungen, die extralegale Hinrichtungen und sogenannte ‚Falsos Positivos‘, also Zivilisten die von der kolumbianischen Armee ermordet und dann als Guerrilleros ausgegeben wurden, recherchiert haben. Diese Beamte befinden sich jetzt im Exil. In Mexiko gibt es so etwas nicht. Das macht auch den Unterschied zwischen den Ländern aus. Dort wird gesagt, Kolumbien mexikanisiert sich. Da wird gesagt, Mexiko kolumbianisiert sich. In beiden Ländern spielen der bewaffnete Konflikt und Aufstandsbekämpfungsstrategien eine zentrale Rolle. Ganz zu schweigen vom Drogenhandel. Ist es die Kriminalität, die den Staat durchdringt oder ist es der Staat, der die Kriminalität benutzt? In Mexiko findet man das gemeinsame Funktionieren zwischen Staatsdiener/innen und Akteur/innen des organisierten Verbrechens zugunsten gemeinsamer Ziele vor.

Welche Rolle spielt dabei die Straffreiheit?

Die Akte Iguala der Generalstaatsanwaltschaft ist ein Monument der Straffreiheit. Der Kreis der Korruption, der Gewalt und der Menschenrechtsverletzungen bricht nur mit einem Ende der Straffreiheit auf. Wenn wir wissen, wie die Straffreiheit zu besiegen ist, dann fällt auch der Rest in sich zusammen. Wenn wir es nicht wissen, bleibt alles beim Gleichen. Im Falle Kolumbiens haben uns viele der Opfer gesagt:

„Wir wollen eine Wahrheit, die erklärt und keine, die nur erzählt. Die das Warum erklärt.“

Unsere Aufgabe ist es, dem Geschehen einen Sinn zu geben. Wenn wir darin nicht weiterkommen, was bleibt uns dann?

In der kolumbianischen Wahrheitskommission gibt es eine zentrale Frage: Wie analysieren wir die Muster der Gewalt, damit sie die Logiken dahinter erklären? Andernfalls stellen wir lediglich eine Statistik der Toten und Verschwundenen auf. Was würde das ändern? Um etwas zu ändern, muss man die Logik und die Mechanismen dahinter kennen. Dann kannst du an einer Wahrheit festhalten, die verändert. Schaffst du es nicht, bleibt die Wahrheit eine Art forensische Wahrheit, die nur davon berichtet, was passiert ist. Das wird nichts verändern. Die Dinge werden gleich bleiben.

Und was muss sich alles ändern, damit die Wahrheit nicht nur eine forensische bleibt?

In unserem zweiten und letzten Bericht als GIEI zu Ayotzinapa schlugen wir vor, was sich alles im Zuge der Untersuchung ändern muss. Es sind ungefähr 20 verschiedene Punkte, wie z.B. die Unabhängigkeit der Gutachter/innen oder eine Regelung die es untersagt, dass Fälle fragmentiert werden, indem sich mehrere Staatsanwaltschaften lediglich mit Teilaspekten beschaffen und niemand die Übersicht behält. An diesen Stellen passiert Straffreiheit. Es gibt eine Legalität, die darauf aus ist, Straffreiheit herzustellen. Ich weiß nicht, ob die Generalstaatsanwaltschaft dieses oder jenes tun wollte. Ich werde mich nicht auf dieses Terrain begeben, weil es reine Spekulation wäre. Ich konzentriere mich auf die Taten und wohin sie führen.

Diese Mechanismen haben wir bereits zu Zeiten der Bürgerkriege in den 1970er, 80er und 90er Jahre gesehen. Es gibt jedoch eine Kontinuität dieser Mechanismen bis heute – in anderen Formen und mit anderen Zielen. Manchmal aber sogar, indem die gleichen Strukturen oder sogar die gleichen Namen der Gewaltakteure von damals verwendet werden. Das zu verstehen ist essentiell. Andernfalls wird sich, wie ich bereits sagte, nichts ändern.


Das Interview übersetzte Timo Dorsch.


75.000 Verschwundene

30. August - Internationaler Tag der Opfer des gewaltsamem Verschwindenlassens - Heinrich-Böll-Stiftung

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Offiziellen Angaben zufolge werden in Mexiko fast 75.000 Menschen vermisst.

Obwohl die Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen seit 1964 dokumentiert werden, fanden 98% seit 2006 statt, als der ehemalige Präsident Felipe Calderon den Beginn seines "Krieges gegen die Drogen" ankündigte.

Bis zu 4.000 heimliche Gräber wurden in den letzten Jahren entdeckt. Dies vor allem dank der Arbeit selbstorganisierter Kollektive, die sich aus Verwandten der verschwundenen Opfer gebildet haben. Der mexikanische Präsident Andrés Manuel Lopéz Obrador machte den Kampf gegen das gewaltsame Verschwindenlassen zwar zu einem zentralen Wahlkampfthema, doch Budgetkürzungen, fehlendes Know-How, die Infiltrierung durch kriminelle Banden und nicht zuletzt die Pandemie bremsen das Projekt und erschweren die Suche nach den Opfern.

Der 30. August ist der Internationale Tag der Verschwundenen.