„Einige fühlen sich durch unsere Untersuchung diskreditiert“

Marsch der Empörung, Mexiko
Teaser Bild Untertitel
Marsch der Empörung, Mexiko

Was geschah mit den 43 Studenten, die voriges Jahr in Mexiko verschwanden? Der Bericht einer unabhängigen Expert/innengruppe widerlegt die offizielle Darstellung der Ereignisse. Zwei der Ermittler im Interview.

Nach der Veröffentlichung des Berichtes hatten die Kolleg/innen des Auslandsbüros der Heinrich-Böll-Stiftung in Mexiko die Möglichkeit, mit zwei Mitgliedern der Gruppe, dem chilenischen Anwalt Francisco Cox und dem spanischen Arzt Carlos Beristain zu sprechen:

Am Sonntag gaben Sie in den Räumlichkeiten der Menschenrechtskommission von Mexiko-Stadt in Anwesenheit der Familienangehörigen den Studenten, allen Interessierten und einem enormen Presseaufgebot den Bericht bekannt. Wie war die Reaktion der Familienangehörigen?

Beristain: Die Familienangehörigen sowie auch die Studenten waren sehr gespannt auf den Bericht, gleichzeitig hatten sie aber auch Angst davor. In kritischen Momenten, wenn wir beispielsweise Kleidung gefunden hatten, die noch nicht untersucht worden war, waren sie natürlich geschockt und mutmaßten, was dieser Fund bedeute, ob es eine schlechte Nachricht sei. Wir haben stets versucht, zunächst die Familien zu informieren, bevor wir an die Öffentlichkeit gingen, damit sie solche Informationen nicht über die Medien erführen.

Bevor wir den Bericht öffentlich machten, konnten wir uns mit den Familienangehörigen treffen, um ihnen die ersten Inhalte zu präsentieren. Es war für sie sehr schmerzlich, und zugleich hat es sie wütend gemacht. Teilweise war es für sie auch eine Erleichterung, da sich bestimmte Vermutungen bestätigten. Leider konnten wir ihnen den Verbleib ihrer verschwundenen Kinder nicht nennen. Obwohl es schmerzhaft ist, hatten sie während der Zeit unserer Untersuchung stets gefordert, ihnen immer die Wahrheit und die Fakten zu sagen. Das haben wir getan.

Vor der Veröffentlichung des Berichts erklärten wir darüber hinaus den Mitgliedern der Regierung, dass wir ihre Version der Geschehnisse nicht teilten. Der Kontakt lief stets über den Menschenrechtsbeauftragten im Innenministerium, das Außenministerium und die Bundesstaatsanwaltschaft PGR. Wir gingen jedoch nicht ins Detail, sondern luden sie zu der öffentlichen Vorstellung des Berichts ein, zu der sie auch gekommen sind.

Zwei Tage später gab es eine offizielle Vorstellung des Berichts in Ayotzinapa. Können Sie uns darüber berichten?

Beristain: Es war ein sehr emotionaler Akt. Für uns war es wichtig, an den Ort zurückzukehren und die Studenten zu sehen, von denen während der ganzen Zeit wenig berichtet wurde. Wir wollten den Weg erneut gehen, den wir so oft mit den Studenten gegangen waren auch den Eltern den Bericht persönlich überreichen. Es ist ein symbolischer Ort, an dem ihr Kampf und ihre Suche nach den Kindern begann. Wir wollten ihnen für ihr Vertrauen danken, dass sie uns ihre Geschichte erzählt haben und damit einen wichtigen Teil zu der Untersuchung beigetragen haben. Zum Beispiel die Geschichte des fünften Busses, von dem nie zuvor die Rede war.

Mit welchen Herausforderungen sahen Sie sich während ihrer Untersuchung konfrontiert?

Cox: Der Prozess war nicht einfach, denn zwischen den Regierungsinstanzen und den Familienangehörigen herrschte Funkstille. So mussten wir zunächst eine Annäherung zwischen beiden Parteien herstellen. Die Regierungsinstitutionen hatten im Hinblick auf die Behandlung der Opfer versagt. Die Familien vertrauten nur unabhängigen Akteuren wie Mitgliedern von Menschenrechtsorganisationen, unabhängigen Psychologen oder Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen. Die Eltern waren zunächst kaum an einem Dialog mit der Regierung interessiert, denn sie steckten ihre ganze Zeit und Energie in die Suche nach ihren Kindern.

Bild entfernt.

Die Regierungsinstanzen baten uns daraufhin, den Dialog mit den Familienangehörigen zu ermöglichen, was nicht Teil unseres Mandats war, jedoch wichtig für die Aufklärung des Falls. Diese Treffen haben schließlich dazu geführt, dass die Eltern eine offizielle Aussage bei der PGR machten, um Informationen zu ergänzen. Weiterhin wurden Annäherungstreffen zwischen den Familien und der Polizei organisiert. Diese wurden von beiden Seiten als sehr positiv evaluiert, denn es gab erstmals Raum und Zeit, sich auszutauschen und einander zuzuhören. Ein Staatssystem, in dem die Menschen kein Vertrauen in ihre Institutionen haben, ist zum Scheitern verurteilt.

Wie war die Reaktion der Regierung auf Ihren Bericht?

Beristain: Die staatlichen Instanzen brachten uns generell Akzeptanz entgegen, obwohl die Differenzen noch nicht ausführlich diskutiert worden sind. Auf der anderen Seite gab es auch negative Reaktionen, die jedoch wenig auf den Ergebnissen des Berichtes beruhen. Einige Sektoren fühlen sich diskreditiert durch unsere Untersuchung. Wir sind gesprächsbereit, denn wir haben keine subjektiven Aussagen gemacht, sondern immer wieder die Informationen gegenübergestellt und geprüft. Einige Informationen hatten wir von der PGR, die bereits in ihren Gutachten auftauchten, in anderen Fällen haben wir selber recherchiert und nach Beweisen gesucht.

Wie geht es nun weiter?

Beristain: Ende Juli haben wir die Interamerikanische Menschenrechtskommission um eine Verlängerung des Mandats gebeten. Die Familienangehörigen haben sich ebenfalls dafür ausgesprochen. Nun warten wir noch auf die Zusage der Regierung.

Welche Empfehlungen geben Sie in Ihrem Bericht? Was kann auf internationaler Ebene getan werden, um die Aufklärung des Falls zu unterstützen?

Cox: Wir haben während des Untersuchungsprozesses gewisse Probleme in der mexikanischen Ermittlungsarbeit identifiziert, die möglicherweise systemischer oder struktureller Natur sind. Zum einen ist da das exzessive Vertrauen in das Geständnis. Das ist problematisch, da es dazu führen kann, dass andere Beweise und Tatsachen ignoriert werden. Zum anderen orientieren sich die Gutachter und Spurensicherer häufig an den existierenden Verdachtsannahmen und tendieren entsprechend in die gleiche Richtung, anstatt eine unabhängige Bewertung abzugeben. Wir schlagen deshalb vor, dass die Gutachter eine autonome Instanz bilden, die unabhängig arbeitet. Die internationale Gemeinschaft könnte hier Ideen beibringen und Hilfestellung leisten.

Beristain: Das Verschwindenlassen von Personen in Mexiko stellt den Statistiken nach ein gravierendes Problem dar. Der internationale Appell an die Einhaltung der Menschenrechte, nicht nur im Fall Ayotzinapa, sondern auch in anderen Fällen, hält Mexiko einen Spiegel vor. Die internationale Aufmerksamkeit trägt dazu bei, dass der Fall nicht heruntergespielt wird oder in Vergessenheit gerät, sondern erhöht den Druck auf die Regierung und verlangt nach einer langfristigen Antwort auf eine fortdauernde Problematik. Das gewaltsame Verschwindenlassen ist ein permanentes Delikt und ein andauernder Schmerz für die Opfer.

Jedes Land, welches versucht, das herunterzuspielen, zu verstecken, zu umgehen, wird sich früher oder später wieder damit konfrontiert sehen. Daher ist es wichtig, Mexiko in dieser Situation zu begleiten. Es existiert ein Gesetzesentwurf zum Tatbestand des Verschwindenlassens, der differenziert diskutiert wurde und hoffentlich in den nächsten Monaten verabschiedet wird. Es scheint mir wichtig, dass die deutsche und europäische Zivilgesellschaft an diesen Entwicklungen dran bleibt, aber auch die Regierungen müssen nachhalten. Es ist bemerkenswert, dass die deutsche Zivilgesellschaft sich außerdem mit dem Thema des Waffenhandels auseinandersetzt sowie mit der internationalen Verantwortung in Kontext Ayotzinapa.



Zur weiteren Information:

Die Expertengruppe empfiehlt in ihrem Bericht außerdem die Festnahme weiterer Verdächtiger. Bis jetzt wurden elf Personen festgenommen, die meisten davon Polizisten aus Iguala und Cocula, den Tatorten, sowie Anhänger der kriminellen Gruppe „Guerreros Unidos“. Im November wurden der Bürgermeister von Iguala und seine Frau als angebliche Drahtzieher der Verbrechen verhaftet. In keinem Fall hat es bisher ein Urteil gegeben. Die Eltern verlangen, dass die Verbrechen als „Verschwindenlassen“ klassifiziert werden, was mit 40 Jahren Haft bestraft wird.

Bisher werden nur fünf Festgenommene des gewaltsamen Verschwindenlassens beschuldigt. Die Inhaftierten sind in unterschiedlichen Einrichtungen, und unterschiedliche Richter wurden dem Fall zugeteilt, was die Untersuchung zusätzlich erschwert und zersplittert. Die Expert/innengruppe fordert daher eine Zusammenführung der Untersuchung, um ein einheitliches Bild der Geschehnisse zu erhalten. Auch soll der Frage nachgegangen werden, wer wann und warum Informationen vorenthalten hat.

Die Suche nach den Studenten geht weiter. Hinweise könnten eine nähere Analyse der Gräber und der dort Gefundenen bringen, sowie eine Inspektion aller Orte, an denen sich Krematorien befinden. Hier sei das Lager des Bataillons 27 erwähnt, der Militärstützpunkt in Iguala, für das die Expert/innen bislang keinen Untersuchungsgenehmigung bekommen konnten.

Das Mandat der Expert/innengruppe wurde inzwischen um weitere sechs Monate verlängert. Es bleibt zu hoffen, dass es ihnen gelingt, in diesem Zeitraum der Aufklärung des Falles noch deutlich näher zu kommen.

Einen Überblick über die Ereignisse im vorigen Jahr finden Sie hier.