Ein unsicheres System wackelt: Mexiko im Umgang mit dem Coronavirus

Hintergrund

Schwankende Wirtschaft, hohe Arbeitslosigkeit, viel Gewalt an Frauen und Mädchen - die sowieso schon schwierige Situation in Mexiko wird durch die Corona-Pandemie noch weiter verstärkt. Dawid Danilo Bartelt, Leiter des Büros Mexiko-Stadt, schildert den Umgang mit dem Coronavirus.

Blick auf Mexiko-Stadt

Schaurig hallt das Dampfkesselpfeifen des Süßkartoffelverkäufers durch die Straßen des Viertels, ein durchdringender Ton, schon sonst gespenstisch und den niemand vergisst, der ihn einmal gehört hat. Nun pfeift es noch gespenstischer um die Fassaden, denn die Straßen sind leer wie sonst allenfalls Sonntag morgens um fünf in den Sommerferien. Restaurants und Läden haben zumeist zu. Passanten vereinzelt. Kaum Absatz für die leckeren camotes und die Kochbananen, angeboten mit gezuckerter Kondensmilch und Zimt.

Abstandsgebot und häusliche Quarantäne

Viele Mexikaner/innen blieben schon zuhause, bevor überhaupt die Regierung am 24. März „Phase Zwei“ ausrief und einen „Gesundheitsabstand“ von mindestens anderthalb Meter empfahl sowie Versammlungen von mehr als 100 Personen verbot, und bevor dann am 30. März der Gesundheitsnotstand verkündet wurde. Restaurants und die meisten Läden wurden geschlossen. Wer nicht unbedingt arbeiten gehen müsse, möge bitte zuhause bleiben, so die Empfehlung der Regierung. Lediglich für Menschen älter als 60 Jahre und Risikogruppen ist der Hausverbleib angeordnet. Die Reichweite der Restriktionen ist im föderalen Staat Mexiko je nach Bundesstaat unterschiedlich. Und so manche Kommune greift zur Selbstjustiz. Schon Anfang März zwangen Gemeinden auf der Halbinsel Yucatán Tourist/innen aus ihren Gebieten – sie hatten wenige Stunden Zeit, Hotel und dann den Bundesstaat zu verlassen. Diese selbstautorisierten Sperrbezirke nehmen zu.

Von heute auf morgen leben

Die Bundesregierung will nicht anordnen, was sie nicht anordnen kann, weder ihrem Programm noch den Gegebenheiten nach. Die Armen zuerst – das ist Motto und Mantra der Politik von Präsident Andres Manuel López Obrador, genannt AMLO. Arm sind in Mexiko die Hälfte der 127 Millionen Einwohner/innen. Und die meisten der Armen arbeiten in der informellen Wirtschaft. 56,2 Prozent aller Erwerbstätigen waren das Ende 2019 nach offiziellen Angaben, drei Prozent mehr, als die Internationale Arbeitsorganisation als Durchschnitt für Lateinamerika und die Karibik errechnet (2018).

Informeller Sektor, das heißt: von heute auf morgen leben. Oder: wer nicht arbeiten geht, isst auch nicht. Mehr als die Hälfte der Mexikaner/innen – der Lateinamerikaner/innen – kann es sich also gar nicht leisten, zuhause zu bleiben. Sie müssen sich in Zeiten von Covid-19 nicht nur vor dem Virus fürchten. Sie müssen sich große Sorgen machen, wie sie über die Runden kommen, so wie der Süßkartoffelverkäufer. Anders ausgedrückt: Ihr Recht auf Gesundheit und Schutz ihres Lebens ist bedroht, wenn sie auf die Straße gehen (zumal viele nicht krankenversichert sind), aber auch, wenn sie Zuhause bleiben – ein  Menschenrechtskonflikt, der in vielen Ländern vor allem des Südens der Erde die soziale Realität im Zeichen des Virus charakterisiert und zu den anderen charakteristischen Grundrechtskonflikten – Schutz der Allgemeinheit durch kollektive Zwangsmaßnahmen versus Einschränkung individueller Freiheiten und Garantien – hinzutritt.

Sozialprogramme laufen weiter, Entlassungen nehmen zu

Soziale Ungleichheit massiv verringern, ohne die – sehr liberale – Wirtschaftsordnung anzutasten, ohne Steuern und ohne die Staatsverschuldung zu erhöhen – dies ist der Kern von AMLOs Programm. Sein Rezept für die SARS-CoV-2-Krise: Die umfangreichen Sozialprogramme werden ungekürzt fortgeführt. Diese zielen vor allem auf Rentner und Jugendliche. Außerdem stellt die Regierung 1 Mrd. Euro an Krediten für kleine und Kleinstunternehmen bereit, die Hälfte davon für die informellen. Etwa 1.000 Euro, rückzahlbar in drei Jahren.

Statt Steuerstundungen, wie sie die großen Unternehmen fordern, priorisiert die Regierung den Sektor, der die meisten Menschen mit dem geringsten Schutz beschäftigt. Außerdem sollen in neun Monaten zwei Millionen Arbeitsplätze entstehen. Versprechen wie diese sind Wasser auf die unablässig mahlenden Mühlen der AMLO-Kritiker/innen. Sie werfen ihm Realitätsverlust vor, sowohl gegenüber der Bedrohung als auch, was die angemessenen Gegenmaßnahmen angeht. Als in Europa schon Hunderte täglich starben, schüttelte AMLO noch Hände.

Kaum Schutz bei Arbeitslosigkeit

Im ersten Jahr nach seinem Amtsantritt im Januar 2019 entstanden nach Regierungsangaben 377.000 neue reguläre Stellen. Die Zahl liegt deutlich unter denen der Vorjahre. Und gerade hat Arbeitsministerin Alcalde verkündet, dass durch die einsetzende Rezession bereits 346.000 Jobs vernichtet worden seien, da vor allem die großen Unternehmen bereits massiv Angestellte entließen. López Obrador hatte an die Unternehmen appelliert, die Angestellten nicht zu entlassen. Aus direkter formeller unbefristeter Beschäftigung Entlassene erhalten in der Hauptstadt maximal 2.641 Pesos (zur Zeit rund 100 Euro) für maximal sechs Monate, und das ist ein Spitzenwert. Die Regierung will jetzt allen anderen, also der großen Mehrheit – befristet bzw.  über Leihfirmen Beschäftigte, Tagelöhner und andere Ich-AGs – auf Antrag mit 600 US-Dollar monatlich bis Ende Juli unter die Arme greifen.

Rezession treibt Armutszahlen in die Höhe

Die Regierung hat allerdings keine EU im Rücken. Sie lehnt es bisher ab, Kredite am Markt aufzunehmen. Sie fährt einen rigiden Sparkurs im öffentlichen Dienst und investiert viel Geld in die genannten sozialen Programme und in Großprojekte wie eine neue Raffinerie und eine Eisenbahnlinie im Süden Mexikos.  Finanzspritzen für größere Unternehmen sind derzeit nicht vorgesehen. Besserverdienenden Beamten wurde bereits das Weihnachtsgeld gestrichen.

Doch das wird vermutlich nicht langen. Mexikos Wirtschaft, schon vor Corona praktisch im Nullwachstum, droht eine Rezession. Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika CEPAL erwartet – eher vorsichtig –  ein Minus von 3-4 Prozent für die gesamte Region. Die schlechtere Nachricht: Das werde vor allem die Erfolge der letzten 20 Jahre im Kampf gegen die extreme Armut zunichtemachen.

Was in Europa Hilfspakete in Milliardenhöhe möglicherweise abbremsen werden, schickt in Lateinamerika Millionen Arme sicher zurück ins Elend. Gegenüber Dollar und Euro ist der mexikanische Peso auf ein Rekordtief gesunken. Einen kleinen Erfolg erzielte Mexiko gerade bei den Verhandlungen um eine Fördermengenreduzierung zwischen den OPEC-Ländern und den anderen großen Erdölproduzenten. Mexiko reduziert lediglich um 100.000 Barrel pro Tag, die zusätzlich geforderten 250.000 Barrel übernehmen die USA.

Zunehmende Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Die derzeitigen Schließungen und Beschränkungen gelten bis zum 30. April. Aber kaum jemand zweifelt, dass sie verlängert werden. Damit steigt das Risiko für Frauen, zuhause Gewalt zu erfahren. Das scheint sich mittlerweile als tragischer Trend weltweit zu etablieren, aber in wenigen Ländern ist das Risiko für Frauen und Mädchen so hoch, ermordet zu werden. Es scheint wie aus einer vergangenen Zeit, aber erst vor wenigen Wochen erlebte Mexiko-Stadt die größte Frauendemonstration seiner Geschichte, am 8. März.

Am Tag darauf folgten viele Frauen dem Aufruf, in einen eintägigen Streik zu treten. Die vergangenen Monate über hatte die Gewalt gegen Frauen und Mädchen täglich Schlagzeilen gemacht, sowohl die absurd hohe Zahl von Fällen, vor allem mit tödlichem Ausgang, wie auch der wachsende und gut organisierte Widerstand.  632 Frauen wurden allein in den ersten beiden Monaten des Jahres ermordet. SARS-CoV-2 fegte das Thema binnen weniger Tage hinweg, nicht aber die Gewalt. Im Gegenteil.   

Effekte des 8. März

Und López-Gatell zeigte, dass die Debatten der Monate davor doch wirkten. Zu seiner Pressekonferenz am 26. März lud er die Direktorin des Nationalen Fraueninstituts und drei weitere Expertinnen ein. Sie erklärten den anwesenden Journalist/innen in aller Deutlichkeit, dass Frauen nun noch mehr Gewalt zu befürchten hätten. Ihre Diagramme belegten zudem, wie ungleich in Mexiko die Arbeit im Haushalt und die Sorge für Kinder und Ältere zwischen den Geschlechtern verteilt sei. Und sie forderten, dass der Aufruf, zuhause zu bleiben, auch ein Aufruf sein müsse, an dieser unguten Arbeitsteilung  etwas zu ändern.

Bundes- und Landesregierungen haben mittlerweile darauf reagiert: Überall laufen Informationskampagnen, Sondertelefone sind eingerichtet und soeben hat die Bundesregierung den Frauenhäusern die Zuschüsse freigegeben, die sie ihnen ganz hatte streichen wollen. Allerdings haben auch die Gerichte ihre Arbeit eingestellt, so dass Abstandsgebote oder andere Verfügungen gegen gewalttätige Partner nicht durchgesetzt werden können. Die Zahl der Anrufe von Frauen bei der Notfallnummer 911 haben jedenfalls in den letzten Wochen zugenommen. Eine Gruppe von Senatorinnen und Abgeordneten warnte über Ostern vor einem weiteren Anstieg innerfamiliärer Gewalt - und forderte unter anderem, den Verkauf von Alkohol zu verbieten.

Landesweit erschwerte Krankheitsverläufe erwartet

Die Strategie der Regierung gegen Covid-19 wiederholt Staatssekretär im Gesundheitsministerium Hugo López-Gatell –längst ein Star der sozialen Netzwerke –allabendlich auf seiner landesweit übertragenen Pressekonferenz: Wir müssen die Infektionskurve flach halten, auch wenn das dann alles länger dauert. Viele Beobachter/innen erwarten Beschränkungen des öffentlichen Lebens bis in den Sommer hinein. Denn das mexikanische Gesundheitswesen ist auf Infektionszahlen auf europäischem Niveau nicht vorbereitet.

Es stehen gerade mal 1.553 Plätze auf Intensivstationen zur Verfügung, in Deutschland waren es vor Corona 28.000. 2.053 Beatmungsgeräte ist auch keine Zahl, mit der das Gesundheitswesen weit kommt, sollte es nicht gelingen, die Pandemie einzudämmen. Weitere 10.000 plus die dazu gehörigen Monitore versucht die Regierung gerade in den USA einzukaufen. Noch ist die Zahl der Infektionen gering, aber da kaum getestet wird, ist wohl allein die Zahl der Toten einigermaßen im Realitätsbereich.

Hohe Dunkelziffer an Infektionen und Todesfällen

López-Gatell gab kurz vor Ostern zu, dass sein Ministerium vom Achtfachen der bestätigten Infektionen ausgehe. Offiziell waren am 13. April – sechs Wochen nach Bekanntwerden des ersten Falls –  5.014  Menschen infiziert und 332 am Coronavirus gestorben. Das Nationale Zentrum für Krankheitsprävention und –kontrolle erwartet 260.000 Infektionen, andere Schätzungen gehen von 10-12 Prozent der Bevölkerung – 13 bis 15 Millionen Menschen – aus. Vor allem in den Monaten Mai und Juni würden die Krankenhäuser überlastet sein. Die Weltgesundheitsorganisation warnt, dass in Mexiko Covid-19-Erkrankungen erschwert verlaufen könnten. In keinem anderen Land werden mehr Softdrinks konsumiert, und kein Land hat mehr Diabetes-Fälle, nämlich rund 10 Prozent der Bevölkerung. Und 90 Prozent (!) aller Mexikaner/innen sind übergewichtig. Diabetes und Übergewicht erhöhen das Risiko eines ernsten Verlaufs erheblich.

Mexiko, im April: Es hat noch gar nicht richtig begonnen.