Chile: Die Folgen des Estallido Social halten bis heute an

Analyse

Auch fünf Jahre nach den Massendemonstrationen gegen die damalige Regierung bleibt der große Wunsch der Bevölkerung nach tiefgreifenden Veränderungen im Land. Dazu zählen mehr Sicherheit, mehr soziale Rechte und ein verantwortungsvolles Wirtschaftswachstum, das Umwelt- und Menschenrechtsstandards einhält. Doch immer noch fehlen gemeinsame Visionen für die Zukunft, wie sie die Transformationsbewegung im Oktober 2019 forderte.

Foto: Zahlreiche Menschen mit Trompeten und Posaunen stehen vor einem Denkmal, auf dem weitere Personen sitzen und Flaggen schwenken.
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Demonstrant*innen in Santiago de Chile, 2019.

In Chile jährt sich der Estallido Social zum fünften Mal. Am Freitag dem 18. Oktober 2019 explodierten die Massendemonstrationen in der Hauptstadt Santiago de Chile. Menschenrechtsverletzungen durch eskalierende Polizeigewalt und die wahllose Zerstörungswut der Protestierenden - vor allem im Zentrum der Metropolregion - prägen die Erinnerung an diese Tage. 34 Menschen verloren ihr Leben.

In der aktuellen Debatte wird häufig übersehen, dass der Aufstand am 18. Oktober kein isolierter, historischer Moment war, sondern der Gipfel eines historischen Prozesses, der auf der langen Unzufriedenheit der chilenischen Bevölkerung mit dem politischen System beruhte. Die Unzufriedenheit begann bereits vor Jahrzehnten und immer wieder gab es große Mobilisierungen. So z.B. die Studierenden- und Schüler*innenproteste im Jahr 2006 und 2011, die ihre berechtigte Kritik an dem privatisierten Bildungssystem auf die Straßen trugen. Das chilenische Bildungssystem erschwert die Aufstiegsmöglichkeiten nicht-akademischer Haushalte und verschärft die extreme Ungleichheit im Land.  

„Chile despertó – Chile ist erwacht“ und die Forderungen nach einer modernen Demokratie

Die Massendemonstrationen vor fünf Jahren richteten sich gegen das gesamte System und seine Politik, das seit Rückkehr der Demokratie ab 1990 zwar in Teilen angepasst, aber in seinem neoliberalen Kern nicht grundlegend verändert wurde. Millionen Menschen aus allen Bevölkerungsschichten gingen im ganzen Land auf die Straße. Die Menschen forderten eine moderne Demokratie, mit starken Institutionen, die sich um ihre Bürger*innen und die Entwicklung des Landes kümmern. Als Reaktion kriminalisierte die Regierung die Demonstrant*innen und ging repressiv gegen sie vor.

Die Forderungen nach struktureller Transformation wurden aber von der chilenischen Politik ernst genommen und nach den Ausschreitungen mit großer Kraft angegangen. „Chile ist erwacht“ war der Slogan, der den Menschen Hoffnung auf eine gerechtere Zukunft machte. Zunächst wurde die aufgeheizte Stimmung des Landes durch die Unterzeichnung eines Friedensabkommens der demokratischen Parteien beruhigt. Der Weg für eine neue Verfassung wurde geebnet. Gleichzeitig sollte die rechtliche Aufklärung der Straftaten und Übergriffe durch Polizist*innen während der Aufstände sichergestellt werden. Einzigartig in diesem Zusammenhang war die Bereitschaft der politischen Entscheidungsträger*innen, die explosive Gefahr der Proteste regierungs- und parteienübergreifend zu erkennen. Gemeinsam wollten alle Wege finden, die Forderungen der Straße zu verhandeln und möglicherweise umzusetzen. 

Es sah zunächst gut aus: Der links-progressive Gabriel Boric wurde im Dezember 2021 zum Präsidenten gewählt und der erste Verfassungsprozess wurde repräsentativ für die chilenische Gesellschaft aus 155 paritätisch zusammengesetzten Konventsmitgliedern mit entsprechendem prozentualen Anteil der indigenen Bevölkerungsgruppen gewählt. Ökologie, Feminismus und Plurinationalität sollten als transversale Themen die neue, moderne Verfassung rahmen. 

Mit der progressiven Regierung bestand die Chance sich von der Verfassung der Pinochet-Diktatur endgültig zu befreien, und somit einen echten Sozialstaat zu errichten, mit reformierten Renten-, Bildungs- und Gesundheitssystemen. Chiles Rohstoffreichtum bot außerdem die Chance, einen Beitrag zur weltweit notwendigen Klimaneutralität zu leisten, etwa mit innovativen internationalen Partnerschaften auf Augenhöhe. 

Die Corona-Pandemie traf in Chile auf eine Gesellschaft im Umbruch. Die chilenische Bevölkerung war im weltweiten Vergleich von überdurchschnittlich restriktiven Maßnahmen betroffen. An Massenproteste war aufgrund der Quarantänemaßnahmen nicht mehr zu denken und die anschließende Wirtschaftskrise musste von den vielen am Existenzminimum lebenden Haushalten gemeistert werden. 

Die nach dem Estallido angestoßenen institutionellen Veränderungsprozesse gingen zwar weiter und verzögerten sich nur durch verschobene Wahlen. Aus verschiedenen Gründen scheiterte am 4. September 2022 der Verfassungsprozess kolossal mit einer 62 Prozent Gegnerschaft beim Referendum über die neue Verfassung. In Folge bekamen die (ultra-) rechten Parteien die Chance eines zweiten Anlaufes für eine neue Verfassung. Nachdem dieser zweite Verfassungsentwurf ebenfalls von der Bevölkerung abgelehnt wurde, war die chilenische Gesellschaft müde, sich für grundsätzliche Systemveränderungen einzusetzen. Es wirkte fast so, als wäre das Land zu seinem „business as usual“ zurückgekehrt. 

Hoffnungsschimmer in der Realpolitik der amtierenden Regierung

Die links-progressive Regierung ging daraufhin breite Bündnisse mit den traditionellen mitte-links Parteien ein, um trotz ihrer mangelnden Mehrheiten im Parlament kleine Hoffnungsschimmer realpolitisch umzusetzen: Dazu zählt vor allem eine Sicherheitspolitik, die auf ansteigende Kriminalitätsraten reagiert und das Bedrohungsgefühl der Gesellschaft ernst nimmt. Weiterhin wurde die wöchentliche Arbeitszeit von 45 auf 40 Stunden gesenkt und der Mindestlohn auf umgerechnet 500 Euro angehoben. Ein weiterer Hoffnungsschimmer war die Einführung von Bergbaulizenzgebühren. Hierdurch werden kommunale Steuereinnahmen generiert, die eine eigenständige Entwicklung ländlicher Gebiete möglich machen und damit die notwendige Dezentralisierung des Landes antreiben. In der Klimapolitik wurde Chile in der Region Lateinamerikas zum Vorreiter. Durch das im Jahr 2022 eingeführte Klimawandelrahmengesetz steigt der Anteil der Erneuerbaren Energien weiter an, der Kohleausstieg soll im Jahr 2040 und Klimaneutralität im Jahr 2050 erreicht werden.

Diese Maßnahmen machen sich im Alltag vieler Bürger*innen unmittelbar bemerkbar. Dennoch sind sie weit entfernt von dem geforderten Systemwechsel der Massendemonstrationen vor fünf Jahren. 

Die anhaltende Schieflage des politischen Systems in Chile zeigt sich in einem kürzlich aufgedeckten Skandal, der als einer der größten Korruptionsfälle in der Geschichte des Landes gilt. Bei der nun laufenden Aufklärung über bestechliche Anwälte, unlautere Absprachen mit Investoren und geheime Verbindungen zu Regierungsvertreter*innen  im sogenannten Hermosilla-Fall  sind die Menschen vor allem entsetzt über die offenbarten Machtverhältnisse der Beteiligten. Es wirkt an diesem historisch wichtigen Datum so, als hätte sich nichts verändert. Die politische und wirtschaftliche Elite verhält sich ungeachtet der politischen Entwicklungen der letzten fünf Jahre so wie seit Jahrzehnten. Gleichzeitig steht das Land kurz vor den Kommunal- und Regionalwahlen am 26. und 27. Oktober. Hier wird sich zeigen, welche politischen Kräfte die größten Wähler*innenstimmen mobilisieren und ob es für dringend notwendige Transformationen noch Raum gibt. 

Der Wunsch nach Gerechtigkeit bleibt 

Einer jüngst veröffentlichten UNDP-Studie der Vereinten Nationen zufolge gibt es nach wie vor den großen Wunsch nach tiefgreifenden Veränderungen im Land. Dazu zählen mehr Sicherheit, mehr soziale Rechte und ein verantwortungsvolles Wirtschaftswachstum, das Umwelt- und Menschenrechtsstandards einhält. Ob den politischen Kräften nach diesen turbulenten Jahren von der Bevölkerung die Kompetenz zur Realisierung der Transformationsbestrebungen zugesprochen wird, ist aufgrund der zunehmenden Politikverdrossenheit fragwürdig. Dafür fehlt es bislang an gemeinsamen Visionen für die Zukunft des Landes und an einer nachhaltigen Lösung der Probleme, die von den Transformationsbewegungen im Oktober 2019 gefordert wurden.


Dieser Beitrag erschien zuerst auf Spanisch und liegt hier in leicht redigierter Form vor. Weiterführende Informationen finden Sie im Dossier des Büro Chile der Heinrich-Böll-Stiftung.