Rückschritt statt Fortschritt: Ultrarechte gewinnen in Chile die Wahl des Verfassungsrats

Kommentar

Am 7. Mai wurden in Chile die 51 Mitglieder des Verfassungsrats gewählt. Die republikanische Partei um den gescheiterten rechten Präsidentschaftskandidaten José Antonio Kast hat diese Wahl klar gewonnen. Diese radikal rechte Partei wird nun zusammen mit der gemäßigten Rechten den erneuten Anlauf für eine neue Verfassung anführen.

Ein Mann bei der Stimmabgabe in Chile

66,7 Prozent der gewählten Mitglieder des Verfassungsrats gehören zu den extrem rechten und rechts-konservativen Parteien. Mit 31,4 Prozent haben die Mitglieder der linksgerichteten und vom Präsidenten unterstützen Liste „Unidad para Chile“ zwar den zweiten Platz belegt, verfügen aber über kein Veto-Recht. Ein Platz im Rat wird von einem Vertreter der indigenen Bevölkerung besetzt.

Der Blick zurück zeigt, dass sich das politische Panorama in Chile in den letzten dreieinhalb Jahren komplett geändert hat: Im Oktober 2019 gingen Millionen von Menschen für ein gerechteres Chile auf die Straßen für Reformen im Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem. Die Protestbewegung unterstützte Forderungen nach einer zukunftsfähigen und ökologischen Agenda mit dem Menschenrecht auf Wasser und dem Erhalt der Ökosysteme. Anschließend institutionalisierten sich die Transformationsbewegungen in der demokratisch gewählten und paritätisch zusammengesetzten verfassungsgebenden Versammlung. Ziel der Versammlung war der Entwurf einer ökologischen und feministischen Verfassung. Ein gutes Jahr später wurde der amtierende links-progressive Gabriel Boric im Dezember 2021 zum Präsidenten des Landes gewählt und damit beauftragt, die Transformationsagenda umzusetzen. Aber in beiden Kammern fehlen Boric Mehrheiten für die Reformbestrebungen des Regierungsprogramms.

Mit dem Ergebnis steht Chile vor einem extremen Richtungswechsel

Im September 2022 scheiterte der in 14 Monaten erarbeitete Verfassungsentwurf. Fast zwei Drittel der chilenischen Bevölkerung stimmten gegen den Entwurf mit „Rechazo!“. Im März 2023 begann ein neuer Anlauf für die Erarbeitung einer neuen Verfassung mit einer Expert*innenkommission aus 24 Mitgliedern, die vom Senat und der Abgeordnetenkammer ernannt wurden. Sie hatten die Aufgabe, einen Verfassungsvorentwurf vorzulegen, als Grundlage für die Diskussion und Ausarbeitung der neuen Verfassung. Zur Wahl am 7. Mai wurden die von den jeweiligen Parteien ernannten Verfassungsratsmitglieder gewählt, die sich über fünf Listen in der verpflichtenden Wahl den chilenischen Bürger*innen präsentierten.

Mit dem Ergebnis der Wahl steht das Land vor einem extremen Richtungswechsel: Die Mehrheit der neu gewählten Mitglieder des Verfassungsrats spricht sich gegen das Recht auf Abtreibung aus und unterstützt sowohl den Fortbestand der privaten Rentenfonds (AFPs) als auch der privaten Krankenversicherungen (Isapres). Alle drei waren Kernthemen des Transformationsgedankens zur Abkehr vom bisherigen neoliberalen Modell des Landes. Damit wird das Regierungsprogramm blockiert und der Verfassungsentwurf im ideologischen Gegensatz zu den ursprünglichen Transformationsbestrebungen der chilenischen Bevölkerung stehen. Bei den (obligatorischen) Wahlen am 7.5. gaben gut 20 Prozent der Wahlberechtigten einen ungültigen oder leeren Stimmzettel ab. Ein Zeichen der Erschöpfung über den langen verfassungsgebenden Prozess ohne Ergebnis und wachsender Politikverdrossenheit.

Es ist zu befürchten, dass die Verfassung aus der Pinochet-Diktatur fortgeführt wird

Das Ergebnis der Wahlen wertet einerseits die aktuelle Politik des Präsidenten und folgt auch aus der Wahlniederlage des ersten verfassungsgebenden Prozesses:  Angstkampagnen bei gleichzeitiger Rhetorik einer „harten Hand“ gegen das Vorgehen von kriminalisierten Gruppen waren das erfolgreiche politische Narrativ der ultrarechten und rechts-konservativen Kräfte. Sie verdrängten Probleme des Landes, wie soziale Ungleichheiten und die Fortschreitung der Ausweitung der Klimakrise von der politischen Agenda. Die erhofften Reformen der Regierung wurden nicht umgesetzt und schufen ein Vakuum für antidemokratische und frauenfeindliche Kampagnen.

Es ist zu befürchten, dass die bestehende Verfassung aus der Pinochet-Diktatur fortgeführt wird. Die dringende Neuausrichtung für ein Wirtschafts- und Sozialmodell des Landes, das die grüne Transformation der einzelnen Wirtschaftssektoren vorantreiben muss und auch die neuen geopolitischen Verflechtungen im Rahmen der internationalen Rohstoffpolitik berücksichtigt, spielen für die ultrarechten Mitglieder des Verfassungsrats kaum eine Rolle. Die neue Lithium-Politik der Regierung und die Strategie zur Produktion von grünem Wasserstoff sind Antworten auf den internationalen Druck, der in dem rohstoffreichen Land aufgrund der aktuellen Verschiebungen zwischen China, den USA und Europa entsteht. Diese Themen nach sozialen und ökologischen Gesichtspunkten für eine Zukunft der chilenischen Bevölkerung zu gestalten, sollte im demokratischen Parteienspektrum des Landes Priorität haben. Stillstand oder Rückschritt werden langfristig sowohl innen- als auch außenpolitisch das Land mit unvorhersehbaren Konsequenzen bestrafen.



Im Dezember wird der chilenischen Bevölkerung in einer Volksabstimmung die Verfassung vorgelegt. Bis dahin wird sich zeigen, wie viele Schritte die chilenische Realität in ihre Vergangenheit zurückgeht und welche Lehren die Bevölkerung daraus ziehen wird.