Chiles neue Verfassung: Vorbild auch für Deutschland

Kommentar

Am Sonntag stimmen die Chilen*innen über eine neue Verfassung ab, die weltweit richtungsweisend im Schutz von Rechten und vor Diskriminierung ist.

Demo: neben Flagge Plakat mit Aufschrift - Nueva Constitución Ahora

Wenn Chile am kommenden Sonntag über eine neue Verfassung abstimmt, hat das Bedeutung weit über Chile oder Lateinamerika hinaus. Zurecht wurde der Entwurf mehrfach als eine der fortschrittlichsten Verfassungen der Welt bezeichnet. Es ist zu hoffen, dass von der Abstimmung am Sonntag auch Impulse für die Diskussion um Reformen des Grundgesetzes (GG) hierzulande ausgehen werden.

So schreibt der Entwurf beispielsweise umfassende Schutzrechte für LGBTIQ+ fest. In Deutschland hingegen scheiterten bislang Versuche, das Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität im Grundgesetz zu verankern. Die Schutzpflichten für Klima, Natur und Wasser gehen im chilenischen Entwurf an Reichweite und Deutlichkeit über entsprechende Vorschriften (soweit in Art. 20a GG vorhanden) des Grundgesetzes hinaus. Angesichts der Dimension der Klimakrise mit ihren Auswirkungen auf die Artenvielfalt, die Wasserversorgung und ganz generell die Lebensgrundlagen gegenwärtiger und künftiger Generationen ist das zweifellos angemessen. Geschlechterparität wird mit der Verfassung in mehreren Institutionen festgeschrieben. In Deutschland ist diese trotz des ausdrücklichen Handlungsauftrages für den Staat in Art. 3 GG bekanntlich bislang nicht erreicht, insbesondere nicht in Institutionen wie dem Bundestag, der Bundesregierung oder dem Bundesverfassungsgericht. Ein Recht auf Wohnraum hat zwar in einigen deutschen Bundesländern Verfassungsrang, nicht aber im Grundgesetz. Auch hier können wir also von Chile lernen.

 Der Verfassungsentwurf will in jeder Hinsicht ein Leben in Selbstbestimmung und Würde sicherstellen. Aber weil auch das schönste Leben endet, sichert er auch ein Recht auf einen würdigen, selbstbestimmten Tod. In Deutschland musste erst das Bundesverfassungsgericht feststellen, dass es ein Recht auf würdiges und selbstbestimmtes Sterben auch in Deutschland gibt. Momentan ringt der Deutsche Bundestag um eine gesetzliche Ausgestaltung dieses Auftrages. Ein Blick nach Chile kann da hilfreich sein.

Eine wichtige Neuerung ist der umfassende Handlungsauftrag an den Staat, kostenfreie Bildung für alle in jeder Lebensphase zu gewährleisten. Dies würde einen radikalen Bruch mit dem neoliberalen Bildungssystem Chiles bedeuten, dass letztlich auf die Zeit der Pinochet-Diktatur zurückgeht. Die Proteste gegen das alte Bildungssystem waren ein wichtiger Impuls für den Prozess der Neuschreibung der Verfassung. In Deutschland gibt es zwar einen Anspruch auf gebührenfreie Schulbildung. Studiengebühren beispielsweise wären mit dem Grundgesetz aber ausdrücklich vereinbar, auch wenn sie momentan in keinem Land erhoben werden. Auch hier geht Chile also weiter als das deutsche Grundgesetz.

Chiles neue Verfassung zeichnet den Entwurf einer sozialen, vielfältigen, die Selbstbestimmungsrechte von Gruppen und Individuen achtenden Gesellschaft in einem Staat, der Bildung, Wohnen, Teilhabe, intakte Natur und Umwelt sowie sauberes Wasser für alle gewährleistet. Klingt gut oder? Wir sollten bereit sein, von Chile zu lernen.

Mehr über den Verfassungsentwurf finden Sie in der Analyse von Sebastián Reyes aus unserem Büro in Chile.


Helge Limburg ist rechtspolitischer Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion. Er vertritt hier seine persönliche Auffassung und bezieht sich auf den englischsprachigen Text der Verfassung.