Sachsen hat gewählt: Eine erste Analyse

Analyse

Obwohl die CDU noch einmal als stärkste Partei aus der Landtagswahl hervorgeht, markiert das Ergebnis ihr Ende als Staatspartei in Sachsen. Die Grünen schaffen es gerade so wieder in den Landtag und müssen sich Fragen nach einer besseren Kommunikation ihrer Politik stellen. Trotz des erwartbaren Ergebnisses der AfD zeigen sich nach der Wahl auch Chancen für neue zivilgesellschaftliche Ansätze im Land.

Foto: Menschenmenge demonstriert vor dem Rathaus einer Stadt mit gelber Fassade. Viele halten Regenbogen- und EU-Fahnen. Schilder und Ballons sind sichtbar.
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Kundgebung in Bautzen 2024

Beobachtung eins: 
Auf das diskursive Setting kommt es an

Mitte August 2024 kündigte die Süddeutsche Zeitung auf ihrer Titelseite ein vierseitiges Porträt Michael Kretschmers in ihrer Wochenendausgabe tatsächlich mit der Schlagzeile „Allein gegen die AfD“ an. In der Frankfurter Allgemeinen wenige Tage später ist es „Michael Kretschmer gegen alle“. Die prominenten Beispiele stehen für viele: Berichterstattung über Inhalte und Konkurrenz jenseits der AfD rückten vor dieser Landtagswahl vollständig in den Hintergrund. 

Das diskursive Setting zu Beginn eines Wahlkampfes prägt die Berichterstattung überregionaler Medien, aber auch die Kampagnenplanung der Parteien. Schon 2019 fokussierten überregionale wie regionale Medien in Sachsen, aber auch in Thüringen und Brandenburg auf ein Horse-Race-Setting: „Wer wird stärkste Partei?“ Die Frage nach der stärksten Partei im Parlament ist bei der folgenden Regierungsbildung aber bekanntlich nachrangig: Das klassische Beispiel ist die Bundestagswahl 1976, als Helmut Kohls Union trotz fantastischer 48,6% keine Chance gegen die stabile Koalition von SPD und FDP hatte. Trotzdem folgten im sächsischen Fall selbst anspruchsvolle Medien dem Boulevard bei der irreführenden Inszenierung CDU gegen AfD. Andere Parteien blieben in der Berichterstattung marginalisiert. Dies erweckte in der Wählerschaft den fälschlichen Eindruck, es sei für die Regierungsbildung vor allem entscheidend, welche Partei auf Platz 1 kommt. Nicht wenige Wählerinnen mit Affinität zu SPD, Grünen oder Linken wählten daher 2019 die CDU.

Aus dieser Erfahrung heraus setzte die CDU von Ministerpräsident Kretschmer gleich von vornherein für die aktuelle Landtagswahl 2024 auf genau dieses diskursive Setting. Das mediale Interesse sollte sich auf die mögliche Verhinderung der AfD und einen Zweikampf zwischen CDU und AfD beschränken. Obwohl diese Strategie leicht durchschaubar und absehbar war, tappten selbst erfahrene Journalist*innen wie Anne Will in diese Falle, die in einer langen Podcast-Folge zur sächsischen Landtagswahl FDP, Linke, Grüne und SPD praktisch nicht vorkommen ließ. Und dies, obwohl etwa die Grünen bei der letzten Landtagswahl mehrere Direktmandate gewonnen hatten, 2022 beinahe den Dresdner OB-Posten eroberten und obwohl die SPD bei der Bundestagswahl 2021 in Sachsen deutlich vor der CDU lag. 

Insgesamt dominierten statt Berichten von Parlamentsdebatten, Pressekonferenzen, Parteitagen oder Hintergrundgesprächen vor allem die Zahlen von Wahlumfragen und der Blick auf die Ergebnisse von CDU und AfD. Dabei entschließen sich besonders in Ost-Deutschland die Menschen traditionell kurzfristig, ob sie überhaupt und wenn ja, wen sie wählen. Die anderen Parteien, allen voran Grüne und SPD, unternahmen ihrerseits zu wenig, um sich schon frühzeitig strategisch besser gegen dieses Setting aufzustellen und über das eigene Milieu hinaus zu kommunizieren. So blieb die öffentliche politische Bühne überwiegend der AfD als Gegenpol zu den regierenden Parteien und dem als Ministerpräsident dauerwahlkämpfenden Kretschmer überlassen. Und so bekannten auch 2024 52% der CDU-Wählenden, dass sie nur CDU gewählt hätten, damit die AfD nicht zu viel Einfluss bekomme.

Beobachtung zwei: 
Wahlkampf-MP zwischen Rechtsrhetorik und Putin-Nähe

Mit Kurt Biedenkopf als Ministerpräsident gelang der CDU die schnelle Identifizierung von Staat und Partei. Seither wird die Landespartei CDU fast durchgehend aus der Sächsischen Staatskanzlei gesteuert, auch unter Biedenkopfs Nachfolgern Milbradt, Tillich und Kretschmer. Seit langem verwendet die CDU Sachsen nicht die Farben der Bundes-CDU, sondern praktisch ausschließlich die sächsischen Landesfarben Weiß-Grün. An der Staatskanzlei geht keine wichtige Entscheidung im Land vorbei. Und die Inszenierung der „Sächsischen Union“, wie die CDU sich nennt, soll eine Einheit von Staat und Partei in Sachsen zum Ausdruck bringen, die wie das Wahlkampfmotto 2024 „weil es um Sachsen geht“ ganz harmlos fast folklorehaft daherkommt. Diese Selbstinszenierung steht im starken Kontrast zu stark abnehmenden Zustimmungswerten für die CDU in Sachsen (Während bei der Landtagswahl 1999 noch 56,9% für die CDU stimmten, waren es bei der Landtagswahl 2019 nur noch 32,1%, bei den Bundestagswahlen fiel die Zustimmung von 42,6% in 2013 auf 17,2% in 2021).

Michael Kretschmer nutzte seine Rolle als Ministerpräsident, um seit 2017 mit beeindruckender Leutseligkeit durchs ganze Land zu touren und vielen Menschen nach dem Mund zu reden. Ein ganzer Stab von Mitarbeitern in der Staatskanzlei unterstützt bei den Formaten „Sachsengespräch“ und „MK direkt“. Auch die Social Media-Konten des langjährigen Parteimanagers Kretschmer auf Facebook, Twitter und Instagram werden von Mitarbeitern der Staatskanzlei gepflegt. Doch statt nüchterner Behördenverlautbarung oder Darstellung von Repräsentationsereignissen folgen – je näher der Wahltag rückt, desto deutlicher – klar parteipolitisch konnotierte politische Aussagen – meist mit dem Landeswappen und Landesfarben versehen. Mal ging es um polemische Kritik an der Bundesregierung, die zum Hauptziel seines Negativwahlkampfes wurde, mal wurden Wahlkampf-Interviews des Parteipolitikers Kretschmer verbreitet. Medien und politische Konkurrenz haben darin versagt, diesen offenkundigen Missbrauch staatlicher Ressourcen für den Wahlkampf aufzugreifen und notfalls gerichtlich zu unterbinden.

In Rhetorik und Argumentation selbst hat Kretschmer immer wieder direkte Anleihen bei der AfD und anderen Rechtsaußen-Akteuren genommen. Das populistische Motiv, wonach es nach „den Menschen“ gehen müsse, aber er selbst im Vorwege definiert, was „die Menschen“ angeblich denken, verwendet er ebenso regelmäßig wie den Vorrang des angeblichen – von ihm definierten – „Volkswillens“ gegenüber dem Recht. Seit Jahren betont er die angeblich große Bedeutung der wirtschaftlichen Beziehungen Sachsens zu Russland und setzt sich wortreich gegen Sanktionen gegen das Putin-Regime, doch volkswirtschaftlich sind die Handelsbeziehungen Sachsens zu ostmitteleuropäischen Nachbarländern ungleich bedeutender. Diese Nachbarn sind mit Ausnahme Ungarn bekanntlich solidarisch mit der von Russland überfallenen Ukraine. 

Für die Union auf Bundesebene könnte sich das Ergebnis in Sachsen mittelfristig als Pyrrhus-Sieg erweisen: Zwar ist es der CDU unter Kretschmer noch einmal gelungen, sich einigermaßen zu behaupten, aber um welchen Preis? Zum einen hat sich CDU-Spitzenkandidat Kretschmer in der Auswahl der Themen, vor allem aber der Rhetorik stark von AfD sowie Frau Wagenknecht leiten lassen. Zum anderen hat die populistische Kampagne direkt aus der Staatskanzlei gegen die Bundesregierung, insbesondere gegen die Grünen die Hasskampagne rechtsgerichteten Akteure gegen Grüne weiter bestärkt. Dies macht politische Kooperationen auf mittlere Sicht extrem schwer, wenn nicht gar unmöglich. 

Bis zum Wahltag hat Friedrich Merz zu Kretschmers Plädoyer für einen Stopp der Unterstützung für die Ukraine geschwiegen. Es erscheint nun völlig offen, wie sich die Union künftig außenpolitisch sortiert. Für die Partei Konrad Adenauers und Helmut Kohls, die wie keine andere über Jahrzehnte für die West- und Europa-Orientierung und die Etablierung einer liberalen Demokratie in Deutschland stand, steht nun eine Zerreißprobe bevor, auch wenn es etwa zu einer Kooperation mit dem Putin-treuen BSW kommen sollte. 

Beobachtung drei: 
Grüne bringen Regierungsleistung nicht unter die Leute

Die pragmatischen Grünen in Sachsens Regierung und Landtag haben während ihrer Regierungspremiere 2019-2024 insgesamt solide in dem Bemühen gearbeitet, gravierende Pannen in den eigenen Zuständigkeitsbereichen zu vermeiden. Statt symbolisch aufgeladener Provokationen wurde systematisch die im Koalitionsvertrag 2019 verabredete Agenda abgearbeitet, was angesichts mitunter erheblicher Widerstände vor allem aus der Union eine ständige Herausforderung war: Transparenzgesetz, Versammlungsgesetz, Kommunalrechtsnovelle, Strafvollzug, Hochschulgesetz und manches andere an Rechts- und Staatsmodernisierung mit grüner Handschrift, was zuvor entweder liegen gelassen oder von der als konservativster Unions-Landesverband geltenden CDU Sachsen mutwillig blockiert worden war wie das reformbedürftige Gleichstellungsgesetz von 1994. Drei größere vereinbarte und abstimmungsreife Projekte der Koalition, ein lange geplantes Vergabegesetz, ein Agrarflächenstrukturgesetz und das Paket zur Verfassungsänderung scheiterten an der Blockade der CDU.

Dass eine Energiewende besonders im von der Braunkohlewirtschaft und entsprechenden Lobbys geprägten Sachsen politisch schwer werden würde, war von vornherein klar. Ein führender Unionist verkündete im Landtag etwa, jedes zusätzliche Windrad schwäche die Situation der Braunkohle. Erst der politische Wechsel im Bund brachte den nötigen Druck, dass Änderungen bei Bau- und Planungsgesetzen bürokratische Verfahren vereinfacht und die Bereitstellung von Flächen für Erneuerbare Energien erleichtert wurden. Die von Grünen forcierte Solarproduktion im sächsischen Freiberg wurde nach halbherziger Unterstützung durch die sächsische CDU am Ende aber von der FDP in der Berliner Ampel-Koalition blockiert. 

Trotz der soliden fachlichen Arbeit der Regierungs-Grünen blieb aber ein elementares Problem: es fehlte von Anfang an Ideen, wie Erfolge der eigenen politischen Arbeit, eigene Inhalte und Konzepte für die Zukunft, ja auch eigenes Personal über die Grenzen der eigenen Mitglieder- und Anhängerschaft ins Gespräch gebracht werden können. Es fehlen den Bündnisgrünen strategische Kommunikationswege, Menschen über die eigenen Milieus hinaus zu erreichen. Und das lässt sich auch nicht kurzfristig zum Wahlkampf herstellen, insbesondere dann nicht, wenn nach Hasskampagnen Grüne in anderen Milieus häufig als Feindbild gelten.

Zu den besonders herausragenden grünen Zustimmungswerten in Dresden und Leipzig haben auch demografische Entwicklungen beigetragen, wie es sie genauso in anderen Metropolen gibt: Viele junge Leute, höherer Akademiker-Anteil, gewachsene und wachsende alternative und progressiv-bürgerliche Milieus. Dort – allerdings fast nur dort – konnten Grüne bisher reüssieren. Es fehlt stattdessen an Orten und medialen Räumen der politischen Willensbildung, aber auch an Geschichten, an „Narrativen“, die gerade für Menschen in der Nähe oder außerhalb der eigenen Milieus in Inhalt, Sprache und Format verständlich sein können. Das konnte auch ein außerordentlich engagierter Wahlkampf in den letzten Wochen nicht wettmachen. Dazu gehört viel mehr der Anspruch an sich selbst, eine Politikkommunikation zu wählen, die nicht nur für eigene Milieus, sondern auch für breitere Bevölkerungskreise attraktiv und verständlich ist.  Deshalb wird es allerdings entscheidend, nach der Wahl weiterhin konstruktiv und zugewandt zu kommunizieren, auch wenn dies angesichts der grünenfeindlichen Stimmung schwer fällt.

Das – erneut – starke Ergebnis der AfD und weiterer Rechtsaußengruppierungen in Thüringen und Sachsen verstärken die Sorge, dass die freie und offene Gesellschaft an vielen Orten und Regionen nach den Kommunalwahlen im Juni nun noch weiter unter Druck geraten. Diese Sorge, ja auch Angst hat realen Hintergrund, wenn man sieht, welche Aktivitäten die AfD schon in der vergangenen Legislaturperiode aus der Landtagsopposition entfaltet hat, um demokratische Initiativen und Vereine im Land zu identifizieren und sie für spätere Aktionen zu brandmarken. 

Es ist allerdings nicht allein das starke Ergebnis von Rechtsextremisten, sondern das Abdriften bedeutender Teile der sächsischen CDU in den Rechtspopulismus, der sich überhaupt nicht mehr inhaltlich und personell abgrenzt vom verfassungsfeindlichen Rechtsextremismus, wie sich an den Kooperationen von Union, AfD und anderen rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Gruppen in zahlreichen Städten und Gemeinden zeigt. Der Wegfall jeglicher Abgrenzung ist für Nazi-Gruppen Ermunterung und Rückenwind, noch dominierender, ja auch gewalttätiger gegen „anders Aussehende“ und mutmaßlich Andersdenkende. Diese Bedrohung wird zivilgesellschaftliche Netzwerke in den sächsischen Regionen noch stärker zu gemeinsamem Agieren zusammenführen. Gegenseitiges Bestärken und Unterstützen wird elementar.

Beobachtung vier: 
Die Potenziale liegen in der Zivilgesellschaft, jenseits der großen Städte

Bei diesen Wahlen haben Parteien mit populistischen und verfassungsfeindlichen Ansätzen hinzugewonnen. Wir können allerdings deutlich sehen, dass diese Parteien keine konstruktiven überzeugenden Orientierungen für die Herausforderungen der Zukunft anbieten können, sondern ihr temporärer „Erfolg“ im Wesentlichen auf negative campaigning und Populismus ohne nachhaltig wirksame Konzepte beruht. Politische Kommunikation von Bündnis 90 / Die Grünen gleicht während der ungleichen Bedrohungen durch Klimakrise und Artensterben einerseits und durch Feinde von rechtsstaatlicher & grundrechtsorientierter Demokratie von Innen und Außen andererseits einer Gratwanderung, auf der freilich immer auch sehr anschaulich erkennbare Ergebnisse politischen Agierens („Output“) in der Lebenswirklichkeit von Menschen außerhalb der eigenen Milieus konkret erfahrbar und verständlich vermittelt werden. Im starken Mitglieder-Zuwachs für die Grünen liegt ein riesiges Potenzial. Das heißt die politische Willensbildung innerhalb der Partei und in Milieus, aber vor allem darüber hinaus muss intensiviert werden; am besten vor Ort bzw. regional organisiert. Wichtig dabei erscheinen auch die Vermittlung des Funktionierens von Politik und der streitige Austausch darüber – etwa mit Blick auf schwierige Auseinandersetzungen für Grüne, wie etwa zu Lützerath und beim Gebäudeenergie-Gesetz.

Vordergründig scheinen die Grünen in Sachsen eine Großstadtpartei zu sein: Rund Dreiviertel der gut 4000 Mitglieder leben in Dresden und Leipzig. Schaut man genauer hin, so fällt aber auf, dass viele der Mitglieder der städtischen Kreisverbände aus den ländlichen Regionen vor allem Sachsens, Thüringens oder Brandenburgs kommen, mindestens aber dort familiär verwurzelt sind. Attraktive Job- oder Ausbildungs- oder Bildungsangebote locken in die Großstadt; eine Rückkehr wird dann irgendwann unwahrscheinlich. Die Dominanz der Grünen in Dresden und Leipzig, wo sie jeweils mitgliederstärkste Partei sind weit vor CDU, Linken, SPD oder gar AfD, verhält sich umgekehrt proportional zur relativen Schwäche der Partei in einigen ländlichen Regionen. Die durchaus bestehenden Bezüge zwischen großstädtischen, kleinstädtischen und dörflichen Konstellationen könnten aber noch intensiver genutzt werden.

So kann es durchaus möglich sein, jenseits bundesweiter, mitunter ambivalenter Kampagnennetzwerke, mit grass roots-Engagement von Menschen vor Ort, in überwiegend lokal und regional organisierten und themenbezogenen Initiativen genauso wie durch Parteigruppen dem vor allem in digitalen Portalen verbreiteten Hass etwas entgegen zu setzen und damit ortsbasierte neue Vertrauens- und Respektskulturen zu entwickeln. Auch hier liegen in selbstbewusster agierenden und auftretenden Bürgerinitiativen vor Ort und Netzwerken viele Potenziale. Viel wird davon abhängen, wie die Versuche seit Frühjahr 2024 gelingen, die neu erweckte lebensfrohe regionale Demokratiekultur vor allem in Klein- und Mittelstädten auf Dauer zu stellen und damit zu Anker- und Anziehungspunkten für Leben, Kultur und Politik in den Regionen zu etablieren. Am Ende könnte diese Erfahrung genau jene sein, die auch im Westen Deutschlands und gar in Europa Orientierung geben könnte.