Kommunalpolitiker*innen trotzen der Bedrohung

Editorial

Am 9. Juni haben nicht nur die Europawahlen stattgefunden, sondern auch Kommunalwahlen in acht Bundesländern. Zehntausende Politiker*innen wurden an diesem Tag neu oder zum wiederholten Mal in Stadt- und Gemeinderäte wie in Kreistage entsandt. Überschattet wurden diese Wahlen – wie auch die Europawahl – von einer Aggressivität und Einschüchterungsversuchen gegenüber Wahlkämpfenden, die innerhalb der letzten 12 Monate eine neue Qualität erreicht hat. Besonders deutlich machte das der brutale Angriff auf den SPD-Europolitiker Matthias Ecke, der beim Plakatieren von mehreren Angreifern niedergeschlagen und schwer verletzt wurde. 

Polizeiabsperrung wegen einer Bombendrohung im Rathaus Bielefeld.
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Polizeiabsperrung am Bielefelder Rathaus wegen einer Bombendrohung. (April 2019)

In den vergangenen Jahren häufen sich Bedrohungen, Übergriffe und Hasskampagnen gegen Politiker*innen auf allen Ebenen. Das Bundeskriminalamt hat im Jahr 2023 insgesamt 5.400 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger*innen registriert, in den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl verdreifacht. Nach der aktuellen Herbstbefragung der Kommunalplattform des BKA, MOTRA (Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung), haben im Herbst 2023 38 Prozent der befragten Kommunalpolitiker*innen Anfeindungen erlebt (verbale Anfeindungen, Hasspostings, tätliche Übergriffe). Die Studie „Vielfältige Repräsentation unter Druck“ der Universität Duisburg/Essen im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung (Vielfaltsstudie Teil 2, 2022) kam zu ähnlichen Ergebnissen: In dieser qualitativen Großstadtbefragung berichteten 60 Prozent der Befragten, Beleidigungen, Bedrohungen oder tätliche Übergriffe erlebt zu haben.

Anfeindungen und Bedrohungen gefährden die Demokratie. Die betroffenen Kommunalpolitiker*innen und ihre Familien sind hohen emotionalen Belastungen ausgesetzt. In einigen Fällen hat das zur Folge, dass die Mandatsträger*innen nicht erneut kandidieren oder erwägen, das Mandat niederzulegen. Andere verändern ihr Verhalten und halten sich zurück, halten sich mit offenen Meinungsäußerungen zurück. Das betrifft laut Vielfaltsstudie Teil 2, insbesondere Frauen, Menschen mit Migrationsgeschichte und Personen mit einem nichtakademischen Hintergrund. Und das in der Kommunalpolitik, wo Politik besonders nahbar sein sollte. „Bedroht zu werden gehört nicht zum Mandat“, heißt treffend ein Ratgeber zum Thema.

Kommunalpolitiker*innen aller demokratischen Parteien zeigen Gesicht: Wir lassen uns nicht einschüchtern!

Wir brauchen den Zusammenschluss der demokratischen Parteien, der demokratischen Mehrheit, um den Betroffenen Rückhalt und Anerkennung zu geben und die Demokratie zu schützen. In diesem Dossier porträtieren wir sieben Politiker*innen aus unterschiedlichen Parteien sowie ohne Parteizugehörigkeit, die bedroht wurden, aber sich davon nicht einschüchtern lassen. Darunter sind bekannte und weniger bekannte Vertreter*innen der Kommunalpolitik, vom Bürgermeister bis zum Bezirkspolitiker. Wir porträtieren sie als Gesichter der Kommunalpolitik, mit ihren Wünschen, ihrem Engagement und ihren Erfolgen - keineswegs als nur als Opfer von Bedrohungen. Sie alle sind Menschen, die sagen: Wir geben nicht auf. Das macht sie zu Leitfiguren der demokratischen Öffentlichkeit in Ost und West. Ihnen gebührt Anerkennung und Unterstützung. Manche dieser Porträts sind in Zusammenarbeit mit der entsprechenden parteinahen Stiftung entstanden. Wir bedanken uns sehr herzlich für diese Unterstützung!
Nicht vertreten sind Kommunalpolitiker*innen, die möglicherweise bedroht wurden, aber für Parteien stehen, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung infrage stellen. Davon unbenommen weisen wir darauf hin, dass die Redaktion jegliche Art von Bedrohung und Übergriffen gegenüber Politiker*innen - egal von welcher Partei - als Mittel der politischen Auseinandersetzung ablehnt. Der politische Diskurs, und sei er noch so kontrovers, muss in einem angstfreien Raum stattfinden.

Was hilft?

Die Ausübung politischer Ämter und Mandate, gerade auf der kommunalen Ebene, muss besser geschützt werden. Das betrifft zunächst die strafrechtliche Verfolgung: Die MOTRA-Herbstbefragung 2023 zeigt, dass nur etwa 20 Prozent der Vorfälle zur Anzeige gebracht werden und lediglich ein Prozent der Täter*innen bisher verurteilt wurde. Dabei sind 51 Prozent von ihnen Wiederholungstäter*innen oder bereits in anderen Kontexten auffällig geworden. Der Rechtsstaat braucht hier deutlich mehr Kapazitäten!

Für Betroffene wurde als zentrale Vernetzungsstelle das Portal Stark im Amt geschaffen. Die Stiftung Deutsches Forum für Kriminalprävention baut derzeit die Starke Stelle als Beratungsstelle für individuelle Hilfsangebote auf, die in der zweiten Jahreshälfte 2024 arbeitsfähig sein soll. Weitere Unterstützungsangebote finden Sie auf der Seite zu bedrohter Kommunalpolitik im KommunalWiki.

Wir hoffen, mit unserem Dossier zu vielen lokalen Bündnissen für Demokratie und zu einer offenen Streitkultur unter demokratischen Parteien und der Zivilgesellschaft beizutragen.