NATO-Gipfel: Was die Ukraine am dringendsten braucht

Kommentar

Der NATO-Gipfel in Washington D.C. vom 9. bis 11. Juli wird der Ukraine keine Einladung zur Mitgliedschaft aussprechen. Die Verteidigungsgemeinschaft kann dennoch klar signalisieren, dass sie die Ukraine dauerhaft gegen den russischen Zermürbungskrieg unterstützen wird.

Foto: NATO-Flagge und Ukraine-Flagge eng nebeneinander.

Die Lage im US-Präsidentschaftswahlkampf wird immer dramatischer. Spätestens seit dem verpatzten TV-Duell befinden sich Joe Biden und die demokratische Partei in einer vollends prekären Lage. Ob Biden im November erneut zum US-Präsidenten gewählt wird, ist unklar. 

Für die europäischen Partner und insbesondere die Ukraine ist das ein sehr schlechtes Omen. Denn es ist absehbar, dass beim bevorstehenden NATO-Gipfel keinerlei größere Schritte zur Verfestigung der Sicherheitsgarantien gegenüber dem kriegführenden Russland Putins zu erwarten sind. Insbesondere die von der Ukraine sehnlichst erhoffte Einladung zur NATO-Mitgliedschaft ist zumindest für dieses Jahr nicht mehr realistisch. Damit das Ausbleiben der Einladung nicht zum moralischen Dämpfer für die Ukraine wird oder Russland zur weiteren Eskalation ermutigt, muss der Gipfel ein anderes Signal der Stärke und der Unnachgiebigkeit gegenüber Putin aussenden. 

Den richtigen Zeitpunkt wählen

Sobald die Ukraine eine Einladung in die NATO erhält, muss es eine realistische Perspektive für die Aufnahme geben.

Gleichzeitig sollte der Ukraine und der NATO klar sein: Sobald die Ukraine eine Einladung in das Verteidigungsbündnis erhält, muss es eine realistische Perspektive für die Aufnahme in einem überschaubaren Zeitraum geben. Würde diese zum Zeitpunkt der Einladung fehlen, könnte dies die Sicherheit der Ukraine eher bedrohen – und böte Russland (oder auch Akteuren wie China) einen Anlass, der NATO ihre vermeintliche Schwäche vorzuführen. Anders gesagt: Eine Einladung zum jetzigen Zeitpunkt hülfe der Ukraine nicht unbedingt weiter. Wäre sie doch weder mit ausreichenden militärischen Beistandskapazitäten noch mit einem klaren Verständnis über den Geltungsbereich einer Sicherheitsgarantie hinterlegt. Stattdessen sollte die Verzögerung genutzt werden, um eine solche realistische Perspektive weiter vorzubereiten. Noch gibt es einige offene Fragen, die geklärt werden müssen.

Kontraproduktiv könnten etwa Modelle einer Mitgliedschaft wirken, bei der sich die Sicherheitsgarantie beziehungsweise die Beistandspflicht nur auf die aktuell ukrainisch kontrollierten Gebiete erstreckt: Zwar mag es Flexibilität versprechen, die Mitgliedschaft zumindest der „freien Ukraine“ nicht auf den noch sehr ungewissen Zeitpunkt zu vertagen, an dem Russland die besetzten Gebiete geräumt haben wird. Gleichzeitig aber könnte eine solches Modell der Mitgliedschaft de facto die aktuellen russischen Eroberungen für immer anerkennen und damit die Aggression doch belohnen. Vergleiche mit der NATO-Mitgliedschaft der alten Bundesrepublik vor der Wiedervereinigung tragen hier nicht, denn die von Russland besetzten Gebiete verblieben nicht als „zweiter“ ukrainischer Staat, sondern wären als annektierte Gebiete Russlands dauerhaft der Russifizierung ausgesetzt. Die Aufnahme der Bundesrepublik erfolgte zudem nicht während tatsächlicher Kriegshandlungen. So bleibt die Ukraine doch ein eigener Fall, der ein eigenes Modell benötigt.

Die NATO braucht die Ukraine

Die Ukraine und die EU können ihre Sicherheit am besten mit einer Ukraine als NATO-Mitglied gewährleisten.

Sicherheitspolitische Grauzonen in Europa darf es nicht mehr geben. Sie wären eine beständige Quelle für Unsicherheit, wie die jüngste Vergangenheit eindrücklich zeigt. Die Ukraine und die EU können ihre Sicherheit am besten mit einer Ukraine als NATO-Mitglied gewährleisten. Damit wäre das Land nicht nur symbolisch und rechtlich integriert, sondern – und das ist sehr bedeutsam - auch technisch und organisatorisch. Nur die NATO-Sicherheitsgarantie kann auf lange Sicht Putins Russland in ausreichendem Maße von weiteren Angriffen und imperialen Landnahmen abhalten. Ohne eine NATO-Mitgliedschaft wäre die Ukraine zudem gezwungen, selbst noch deutlich mehr in eigene Aufrüstung und Abschreckung zu investieren. Es ist somit auch effizienter und sicherer, das ukrainische Militär in die NATO-Strukturen einzubinden.

Nicht nur die Ukraine braucht die NATO – die NATO braucht auch die Ukraine: Sie ist und bleibt die erste Verteidigungslinie für ganz Europa gegen die von einem revanchistischen Russland ausgehenden Gefahren. Die militärischen Fähigkeiten, die Kampferfahrung, die Innovations- und Anpassungskraft des Militärs und der gesamten Gesellschaft an die Bedingungen einer nicht nur militärischen Aggression, bedeuten eine enorme Stärkung der NATO. Und: Mit einer Ukraine in der NATO ließe sich die Sicherheit im Schwarzmeerraum erheblich besser gewährleisten.

Was die Ukraine braucht, ist klar

Für den Moment ist es noch nicht erforderlich, sich auf ein Modell für die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine festzulegen. Notwendig ist jedoch eine überzeugende Bekräftigung des politischen Willens, das Land in die NATO aufzunehmen, wenn die Lage reif dafür ist – ohne dies konkret zu definieren. Entscheidend wird beim anstehenden NATO-Gipfel eher sein, dass die Ukraine weitere substanzielle Zusagen erhält für Lieferungen von Munition, Luftabwehr und weitreichenden Raketen zur entscheidenden Störung der russischen Militärlogistik und Luftangriffskapazitäten. Gerade der andauernden Zerstörung sensibler Infrastruktur durch russische Luftangriffe muss schneller entgegengetreten werden, denn sie bedeutet eine unmittelbare Bedrohung für das Land und seine Zukunft. Jeder Euro oder Dollar, der jetzt dafür investiert wird, zahlt sich mit Blick auf den Wiederaufbau doppelt und dreifach aus.

Ob mit oder ohne ausgesprochene Einladung, die kurz- und mittelfristigen Bedarfe der Ukraine sind klar: Sie muss ausreichend bewaffnet sein, um zunächst die kontrollierten Gebiete wirksam zu schützen (was auch eine Bedingung für alle Wiederaufbaubemühungen ist). Und die ukrainische Armee muss wieder in der Lage sein, an den Frontlinien die Initiative zu ergreifen. 

Der anstehende Gipfel in Washington D.C. kann noch zu einem Zeichen der Stärke werden.

Mit den westlichen Waffenlieferungen sollte zwangsläufig auch eine weitere Harmonisierung mit NATO-Standards erfolgen. Ist dies einmal gegeben, kann eine Mitgliedschaft später umso schneller vollzogen werden. Kürzlich hat die NATO beschlossen, einen Sonderbeauftragten nach Kyjiw zu entsenden. Wird dieser Posten hochrangig besetzt und erhält die Ukraine Zusagen für weitere militärische Lieferungen, kann der anstehende Gipfel in Washington D.C. noch zu einem Zeichen der Stärke werden. Und das wird dringend gebraucht.