Die Grünen nach der Europawahl: Es braucht mehr Augenhöhe und Gegenseitigkeit

Analyse

Der Einbruch bei der Europawahl ist schmerzhaft für die Grünen – doch eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Wahlkampf kann viel bewirken. Eine andere Kommunikation ist nur eine der Stellschrauben, die über den Erfolg bei den nächsten Wahlen entscheiden werden.

Wahlplakat der Grünen mit dem Schriftzug Gegen Rechts im Mittelpunkt. Im Vordergrund fährt eine Person auf einem Roller vorbei.
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Europawahl 2024: Wahlplakat von Bündnis 90/Die Grünen.

Die Ampelparteien haben bei der Europawahl herbe Verluste im Vergleich zur Bundestagswahl 2021 erlitten. Auch Bündnis 90/Die Grünen müssen ein enttäuschendes Ergebnis hinnehmen, vor allem im Vergleich zur Europawahl 2019. In den Großstädten in West- und Ostdeutschland bleiben die Grünen zwar trotz Verlusten starke Kraft. Doch vor allem in den als stagnierend wahrgenommenen ländlichen Regionen erleiden sie einen starken Einbruch. Gleichzeitig sind die Ergebnisse für die AfD noch höher als 2019 und 2021, vor allem – aber nicht nur – in den ostdeutschen Bundesländern. 

Die Ergebnisse der Europawahl liefern viel Stoff für Nachlese und Analyse. Und ganz offensichtlich ist diese auch dringend nötig. Für Bündnis 90/Die Grünen ist das Wahlergebnis ein Weckruf, der nutzbar gemacht werden kann. Noch ist Zeit bis zu den entscheidenden Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg in diesem Jahr und vor den wegweisenden Bundestagswahlen im kommenden Jahr.

Die wohl wichtigste Beobachtung: Die einst für grüne Politik potenziell erreichbaren Wähler*innen waren diesmal massiv demobilisiert. Zahlreiche Menschen, die vor Kurzem für die Grünen als Wahlalternative erreichbar waren, haben ihnen – wenigstens temporär – den Rücken zugekehrt und entweder gar nicht gewählt oder eine andere Partei vorgezogen. Vor allem die CDU einerseits und Kleinstparteien wie VOLT andererseits profitierten davon. Die Suche nach den Gründen ist komplex, denn hier spielen durchaus unterschiedliche Aspekte hinein. Es gibt aber gute Argumente für die Annahme, dass diese Demobilisierung nicht von Dauer sein muss und die Grünen die Fehler dieses Wahlkampfes und ihrer politischen Arbeit und Kommunikation wieder wettmachen können. Dazu müssen aber ein paar Punkte auf den Tisch.

Realistische Erwartungen

Nach 16 Jahren als Opposition im Bund waren die Erwartungen an die Grünen als die heilsbringende Kraft einer erneuten grünen Regierungsbeteiligung enorm, vor allem im Lichte der massiven Klimaproteste. Wegen der erheblichen Versäumnisse der Bundesregierungen unter Angela Merkel war der Handlungsstau tatsächlich enorm. Die Hoffnung allerdings, mit einer grünen Regierungsbeteiligung ließen sich Klimaschutzmaßnahmen im Akkord verabschieden und umsetzen, musste zwangsläufig enttäuscht werden. Nicht nur finden sich dafür im Dreier-Bündnis mit SPD und FDP viel zu schwer gemeinsame Nenner. Vor allem aber wurden die Zielkonflikte dieser Vorgehensweise mit der Bewältigung von Pandemie, Inflation und Krieg schnell deutlich schärfer, als dies noch während der Koalitionsverhandlungen zum Ampel-Vertrag der Fall war. Die zuvor geschürten Erwartungen wurden zu wenig an diese neuen Realitäten – und auch an die gesellschaftliche Akzeptanz – angepasst. Gleichzeitig fehlte es zu Beginn der schwierigen Regierungsarbeit an einem intensiven Austausch mit breiten Bündnissen von Akteuren aus allen Bereichen von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Plötzlich standen die Grünen verlassen auf dem Platz. Und wurden zum Prügelknaben der Nation. Und das, obwohl sie gemessen an den Vorgängerregierungen bereits nach der Hälfte der Legislaturperiode mehr geliefert hatten  und gegenüber den anderen Koalitionspartnern regelmäßig zugunsten einer handlungsfähigen Regierung auf Kompromiss einschwenkten.

Regierungsarbeit erklären

Die Aufgaben einerseits und die politischen Machtverhältnisse andererseits verlangen es: Ein hartes Ringen um Kompromisse in der Koalition, die auch schmerzhaft in den eigenen Milieus sein können. Ganz ohne Zumutungen, wie es uns die politische Konkurrenz weismachen will, wird es kaum gehen. 

Anders als in der Vergangenheit wird es auch nicht mehr ausreichen, mit zusätzlichen Milliardenausgaben notwendige Strukturentscheidungen aufzuschieben und falsche Priorisierungen vorzunehmen. Stattdessen müssen nun grundlegende Veränderungen in der Sache vorgenommen werden. Diese lassen sich nicht durch ein Diktum einer politischen Position heraus erreichen, sondern nur in der Überzeugung aller nötigen Akteure. 

Das ist harte Arbeit, für die geworben und eine Erzählung gefunden werden muss. Innerhalb der Koalition muss es darum gehen, zügig und verlässlich zu politischen Lösungen zu kommen und diese souverän gemeinsam zu kommunizieren. Selbst wenn man sich nicht in jedem Detailaspekt mit eigenen Forderungen durchsetzt: Ein verlässlicher Kompromiss ist auch für die eigene Basis akzeptabler als wochenlange Hängepartien oder gegenseitige Blockaden, für die niemand außerhalb der Politikszene Verständnis hat. 

Gerade angesichts der populistischen Herausforderungen in Deutschland und Europa muss die Koalition in gegenseitigem Respekt ohne unnötiges Klein-Klein für die Menschen in unserem Land überzeugende Lösungen in Zukunftsfragen gemeinsam entwickeln, kommunizieren und umsetzen. Das gilt auch für die Grünen, die nun mal in diesem Land Regierungsverantwortung tragen. Entscheidend ist allerdings, dass das Ringen um Kompromisse vermittelt und erklärt wird. Das gilt gerade mit Blick auf jene (vor allem jüngeren) Menschen, die Veränderung in der Politik dringlich erreichen wollen und hohe Erwartungen in Bündnis 90/Die Grünen haben, weil sie Macht und Veränderungsanspruch verbinden wollen und können. Wenn der Veränderungsanspruch nicht ausreichend überzeugend vermittelt wird – selbst bei schwierigen Dilemmata – wird die Anhängerschaft zwangsläufig demobilisiert. Gerade im Vorfeld wichtiger Wahlen braucht es daher eine Kommunikation, die den Horizont und die langen Linien einer Regierungsarbeit besser ausformuliert und vermittelt.

Kommunikation anpassen

Ein ambitioniertes politisches Programm kann nur gemeinsam mit den Menschen in den unterschiedlichen Sphären unserer Gesellschaft angegangen werden. Dies erfordert respektvolle Kommunikation auf Augenhöhe mit Bürgerinnen und Bürgern, mit gesellschaftlichen Partnern. Dies gilt umso mehr mit Blick auf diejenigen in der Gesellschaft, die eher skeptisch gegenüber den ambitionierten grünen Zielen sind, aber gleichzeitig für die Umsetzung und Verbreitung entscheidend sind. 

Grüne Politik wird mitunter als Ausdruck eines spezifischen Lebensstils betrachtet, der sich über andere stellen würde. Einerseits gilt es darum, solchen einschlägigen Überzeichnungen durch die politische Konkurrenz deutlich entgegenzutreten. Andererseits sollten die Grünen selbst keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass unterschiedliche Lebensstile selbstverständlich in ihrer Vielfalt und in gegenseitigem Respekt zu einer offenen Gesellschaft gehören. Überheblichkeit hat dort keinen Platz, ganz gleich, ob in der Millionenmetropole, im Bergdorf oder in der Kleinstadt. Es gilt jedoch immer, dass die Grenze der Liberalität klar gezogen werden muss, wo der Rahmen der demokratischen Verfassungsordnung und der Grundrechte in Frage gestellt, mit Wort und Tat beeinträchtigt und bekämpft wird. Diesen Gegnern der Demokratie muss in Deutschland wie in Europa und international entgegengetreten werden.

Genauso sollten wir aber auch anerkennen, dass der ganz große Teil der Gesellschaft in Deutschland zu den Grundwerten unserer demokratischen Verfassung steht – und somit als Kommunikationspartner der Grünen nicht nur angesprochen werden sollte, sondern auch angesprochen werden will. Entscheidend ist das Wie der Kommunikation. Das heißt unter anderem, die Potenziale grüner Politik für ländliche Räume deutlicher und selbstbewusst durch regional verwurzelte Menschen glaubwürdig zu kommunizieren. Entgegen mancher Darstellung hat sich die Mitgliederzahl bei Bündnis 90/Die Grünen auch in ländlichen Regionen Ostdeutschlands erhöht und liegt landesweit über der der AfD.

Emotionen ansprechen

Das deutlich schwächere Abschneiden der Grünen als vor fünf Jahren hat natürlich vor allem einen Grund, denn 2019 wurde in einer Ausnahmesituation gewählt: Die Herausforderung der Klimakrise war mit einer breiten und präsenten Klimabewegung – obwohl im Kern seit Jahrzehnten bekannt – erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bewusstgeworden. Die Europawahl war zum wichtigen Hebel für den Einstieg in die Klima-Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft geworden. Und als glaubwürdigster Garant dafür, dass dieser Hebel nun auch umgelegt würde, erschienen Bündnis 90/Die Grünen. Grüne Parteien wurden nicht nur in Deutschland, sondern europaweit von vielen Menschen gewählt – und ihr überwältigender Wahlerfolg hatte maßgeblichen Einfluss auf das ambitionierte Programm der Von der Leyen-Kommission zum Green Deal. 

Anders als damals spielte die emotionale Bindung an ein solches Ziel bei dieser Europawahl eine eher untergeordnete Rolle. Die Verteidigung der Demokratie gegen die autokratischen Kräfte von innen und außen ist heute ein solch relevanter Faktor, wie die hohe Wahlbeteiligung zeigt. Aber eine emotionale Mobilisierung für Grüne Politik ergibt sich daraus nicht automatisch. Gerade bei den jüngeren Wählergruppen braucht es hierfür andere emotional anknüpfungsfähige Ziele, für die es sich lohnt, den Grünen die eigene Stimme zu geben. Hier müssen Partei und ihr nahestehende Bewegungen nacharbeiten, ohne dabei Realismus und eine breite Ansprache aus dem Blick zu verlieren. 

Zentrale Bedürfnisse, wie jene nach sozialem Aufstieg und einem hohen Lebensstandard, müssen stärker gehört und in Sprache und Kommunikation anerkannt werden. Auch das muss nicht notwendigerweise zu Lasten anderer Programmschwerpunkte gehen. Doch klar ist auch, dass es für eine glaubwürdige Ansprache der Menschen nicht genügt, ihre Interessen lediglich zu benennen. Was stattdessen nötig ist, sind konkrete Politikansätze und eine emotional vermittelte Erzählung.