Europawahl 2024: Ein Weckruf

Analyse

Nach der Europawahl sind die demokratischen und pro-europäischen Kräfte im Europäischen Parlament geschwächt. Sie müssen die Zusammenarbeit deutlich verbindlicher gestalten, um verlässliche Mehrheiten für eine handlungsfähige EU sicherzustellen.

Wahlabend im Europäischen Parlament, 2024
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Wahlnacht im Europäischen Parlament in Brüssel, 9. Juni 2024.

Auch wenn die Aufmerksamkeit für die Europawahl 2024 nicht in allen 27 Mitgliedstaaten gleich ausgeprägt war, hat sie im Vergleich zu 2019 insgesamt zugenommen. Selten wurde vor einer Europawahl mit vergleichbarer Intensität über die historischen Herausforderungen, die Zukunft und Rolle der EU gesprochen, gestritten und auch gerungen. Dabei standen – selbstverständlich in sehr unterschiedlicher Gewichtung – folgende Themen im Vordergrund: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, die Klimakrise, Migration sowie die Wirtschaftslage und Wettbewerbsfähigkeit der EU. 

Diese im Kern erfreuliche Entwicklung, nämlich das gewachsene Bewusstsein über die Bedeutung der Europawahl, schlug sich in einigen Mitgliedstaaten in einer höheren Wahlbeteiligung nieder.[1] Allerdings wurde sie im Wahlkampf von der Frage überschattet, inwieweit es rechtspopulistische Parteien schaffen werden, diese gestiegene Aufmerksamkeit mit den einhergehenden Ängsten und der an vielen Orten eskalierenden Wut der Wählerschaft durch gezielte Desinformations- und Hetzkampagnen zu bedienen, zu befeuern und für sich zu nutzen. Kurz gefragt: Wie rückt das Europäische Parlament nach rechts? 

Das Parlament rückt weiter nach rechts

Die Antwort auf diese Frage ist relativ eindeutig: Nur die Fraktionen des rechten Spektrums verzeichnen im Vergleich zu ihrer Fraktionsstärke im scheidenden Parlament Zugewinne.[2] Auch wenn es noch einige Wochen dauern wird, bis sich die Fraktionen endgültig konstituieren, ist klar, dass die konservative Europäische Volkspartei (EVP) nach derzeit vorliegenden Berechnungen mit 186 Mandaten (+10) stärkste Kraft ist. Außerdem haben die Rechtsaußen-Fraktionen der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) sowie Identität und Demokratie (ID) mit respektive 73 (+4) und 58 Sitzen (+9) dazugewonnen, wenn auch bei weitem nicht so viele Mandate wie vor der Wahl befürchtet. Ob diese beiden Fraktionen in der gegenwärtigen Form fortbestehen, sich weiter vergrößern – beispielsweise durch die derzeit fraktionslosen ungarischen Fidesz-Abgeordneten – oder ob es zu einer neuen, fusionierten Rechtsaußen-Fraktion kommt, ist noch unklar. Alle anderen Fraktionen haben Sitze verloren. Während die Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten (S&D) mit 135 Sitzen 4 Mandate verliert, verzeichnen die Liberalen (Renew) und Grünen/EFA (Grüne/Europäische Freie Allianz) herbe Verluste, mit jeweils 79 (-23) und 53 Sitzen (-18). Die Fraktion Linke im Europäischen Parlament – GUE/NGL bleibt mit 36 Sitzen stabil (-1). Ob linksnationale Parteien wie das neue Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), die slowakische SMER-SSD und die italienische Movimento 5 Stelle (Fünf-Sterne-Bewegung) zu einer neuen Fraktion zusammenfinden, ist fraglich, denn für die Gründung einer Fraktion im EP müssen sich mindestens 23 Abgeordnete aus wenigstens einem Viertel der Mitgliedstaaten zusammenschließen. Keiner Fraktion zugeordnet werden im scheidenden Parlament 62 Abgeordnete. Im neu gewählten Parlament sitzen nach jetzigem Stand 45 Fraktionslose und 55 neue Mitglieder, die derzeit keiner Fraktion des scheidenden Parlaments angehören. Ein Großteil der fraktionslosen Abgeordneten steht der EKR oder ID nahe.

Die Ergebnisse der Europawahl sind nicht überraschend, spiegeln sie doch Trends auf nationaler Ebene wider. Seit einigen Jahren verzeichnen rechtspopulistische Parteien in allen Regionen der EU signifikante Zugewinne. Die Regierungsbeteiligungen von Parteien am rechten Rand wirken sich auf die Abstimmungsverhältnisse im Europäischen Rat aus, was die neue Europäische Kommission in ihrer Zusammensetzung und Agenda vor große Herausforderungen stellen wird. In der letzten Legislaturperiode war das Europäische Parlament in dieser Hinsicht ein wichtiges Korrektiv. 

In Ungarn sitzt Premierminister Viktor Orbán seit 2010 fest im Sattel und arbeitet seitdem an seinem Projekt der „illiberalen Demokratie“. Es ist kein Geheimnis, dass in Ungarn Wahlen zwar frei, aber schon lange nicht mehr fair sind. Überraschend ist in diesem Zusammenhang, dass das Parteibündnis Fidesz-KDNP mit 44,8 Prozent einen Verlust von fast 8 Prozentpunkten verzeichnet, wobei der ehemalige Fidesz-Politiker Péter Magyar mit seiner erst vor wenigen Monaten gegründeten Partei TISZA (EVP) aus dem Stand fast 30 Prozent einfuhr. In Ländern wie Italien, den Niederlanden und der Slowakei haben es Rechtsaußen-Parteien in den letzten Jahren ebenfalls in Regierungskoalitionen geschafft, während die schwedische Minderheitsregierung von den Schwedendemokraten gestützt wird. Geert Wilders wurde bei der letzten Parlamentswahl 2023 mit seiner Partei für die Freiheit (PVV, ID) stärkste Kraft. Auch wenn die rot-grüne Liste (GroenLinks-PvdA, Greens/EFA-S&D) bei der Europawahl vor Wilders lag und damit einen wichtigen Erfolg verzeichnen konnte, kann das Ergebnis nicht darüber hinwegtäuschen, dass die PVV mit sechs Sitzen die meisten Zugewinne in den Niederlanden hatte (+6). Seit fast zwei Jahren führt die italienische Premierministerin Giorgia Meloni, die zugleich Parteivorsitzende der EKR ist, die Regierung in einem Rechtsaußen-Bündnis. Offensichtlich verfangen in den EU-Institutionen Melonis Bemühungen zunehmend, ihrer rechtsextremen Partei Fratelli d’Italia (Brüder Italiens, EKR) nach außen einen moderaten Anstrich zu verleihen. Mit 24 Sitzen wird sie drittstärkste nationale Delegation im Europaparlament nach dem französischen rechtsextremen Rassemblement Nationale (RN, 30) und der CDU/CSU (29). 

Ein Rechtsruck mit politischen Nachbeben

In einigen Ländern ist der Rechtsruck besonders extrem ausgefallen und sorgt entsprechend für politische Nachbeben. In Belgien, wo parallel zur Europawahl auch ein neues nationales Parlament und die Regionalparlamente gewählt wurden, reichte der belgische Premierminister Alexander De Croo aufgrund des schlechten Abschneidens der Liberalen und der Erfolge der rechtsextremen Parteien seinen Rücktritt ein. In Frankreich löste Präsident Emmanuel Macron nach dem Wahlsieg des RN, der mit 31,4 Prozent ein doppelt so gutes Ergebnis wie Macrons Regierungsbündnis erzielte, die Nationalversammlung auf und kündigte für den 30. Juni und 7. Juli Neuwahlen an. Nicht nur in Frankreich hat diese Entscheidung für Überraschung und Ratlosigkeit gesorgt. Ob Macron es schaffen wird, in drei Wochen eine Mehrheit hinter seinem Bündnis zu vereinen, das er in seine Entscheidung nicht eingebunden hat, ist mehr als fraglich. Die Lage ist ausgesprochen unübersichtlich. Macron könnte jedoch zwischen zwei entstehenden Bündnissen links und rechts zerrieben werden. Der Präsident pokert also hoch und riskiert die Verschärfung einer innenpolitischen Krise, die auch für die EU gefährlich werden könnte. Die Alternative für Deutschland (AfD) landete vor der SPD und den Grünen mit 15,9 Prozent auf Platz zwei, obwohl gegen deren Spitzenkandidaten Maximilian Krah zwei Vorermittlungsverfahren wegen möglicher Bestechlichkeit und mutmaßlicher Zahlungen aus Russland laufen. Gerade mit Blick auf Frankreich und die ostdeutschen Bundesländer muss festgestellt werden, dass Rechtsextreme hier nahezu flächendeckend stärkste Kraft wurden. Die Tatsache, dass Emmanuel Macron und die Ampelregierung so geschwächt aus dieser Wahl hervorgehen, ist in Anbetracht der bedeutenden Rolle, die Frankreich und Deutschland in der EU spielen, eine der schlechtesten Nachrichten dieser Wahl. 

Grüne mit teils hohen Verlusten, aber auch neuen Zuwächsen

Für die Grünen/EFA ist das Ergebnis besonders schmerzhaft. Während sie 2019 die viertgrößte Fraktion im Europaparlament stellten, fallen sie nun hinter den Rechtsaußen-Fraktionen auf Platz sechs. Von den insgesamt 18 Sitzen, die sie verlieren, sind neun den deutschen und sieben den französischen Grünen zuzuschreiben. Die Grünen haben vor allem in ihren traditionellen Hochburgen verloren und auch dort, wo sie aktuell an Regierungen beteiligt sind. In Deutschland haben sie auf den ersten Blick eine starke Demobilisierung des eigenen Wählerpotenzials erlitten, vor allem bei der jungen Wählerschaft. Demgegenüber steht die positive Entwicklung, dass die Grünen/EFA in einigen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten erste Wahlerfolge feiern konnten. So werden neue grüne Abgeordnete aus Slowenien, Kroatien und Lettland einziehen. Darüber hinaus waren in den Niederlanden, Italien und Spanien Grüne in größeren Linksbündnissen erfolgreich, während sie im Norden Europas entweder Gewinne verzeichnen konnten (Dänemark) oder ihre Verluste in Grenzen hielten (Finnland, Schweden). Der hohe Verlust von Mandaten und die Schwächung der französischen und deutschen Delegationen in der grünen Fraktion wird allerdings weitreichende Konsequenzen haben, auch in Bezug auf die Ressourcen, die der Fraktion zukünftig für ihre Arbeit im Parlament zur Verfügung stehen. 

Mehrheiten müssen verbindlicher organisiert werden

In der Vergangenheit baute das EP lange auf eine Mehrheit der Großen Koalition aus EVP und S&D. Diese begann allerdings schon in der letzten Legislaturperiode zu bröckeln, wodurch die Stimmen von Renew zur Beschaffung von Mehrheiten notwendig wurden. Jenseits dieser Koalition konnten bei bestimmten Abstimmungen auch alternative Mehrheiten mit den Grünen gebildet werden. Numerisch haben die EVP, S&D und Renew auch weiterhin eine Mehrheit im Parlament (400 von insgesamt 720 Sitzen), erst recht gemeinsam mit den Grünen/EFA (453 Sitze). Es gibt also weiterhin eine demokratische und pro-europäische Mehrheit, sie ist aber geschrumpft und deutlich fragiler. Da es wegen der Pluralität der Parteien in den Fraktionen bei Abstimmungen häufig Abweichlerinnen und Abweichler gibt, ist die Frage, wie zukünftig stabile und verlässliche Mehrheiten organisiert werden. Diese Unsicherheit stellt nicht nur die Handlungsfähigkeit in zentralen Politikfeldern infrage, sie gefährdet auch die Rolle des Europäischen Parlaments als verlässliches Gegengewicht gegenüber illiberalen und nationalistischen Akteurinnen und Akteuren im Europäischen Rat, wie etwa Orbán und Meloni. Für eine politische Stabilität und die Gestaltungsfähigkeit des Europäischen Parlaments wäre ein demokratisches, pro-europäisches Bündnis mit den Grünen/EFA ebenso wichtig, wie die deutlich verbindliche Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen. Allerdings hat Ursula von der Leyen im Wahlkampf eine Zusammenarbeit mit der EKR, in der neben der Fratelli d’Italia auch die polnische PiS sitzt, nicht ausgeschlossen. Es scheint, dass die EVP derzeit ein Szenario anstrebt, in dem sie mit wechselnden Mehrheiten arbeitet, auch mit der EKR. Bereits unmittelbar nach der Wahl haben die Spitzen von S&D, Renew und Grüne/EFA allerdings klargemacht, dass der Ausschluss einer Zusammenarbeit mit der EKR eine Bedingung für ein Bündnis mit ihnen ist. Für sie ist klar: Wenn zukünftige Mehrheiten im Europäischen Parlament in einem Bündnis mit der EKR auf den Weg gebracht werden, wäre dies eine Abkehr von europapolitischen Leitplanken der vergangenen Jahre.

Der europäische Grüne Deal als Lackmustest

Mit dem Rückenwind der Klimabewegung kündigte die damals frisch gewählte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Dezember 2019 den europäischen Grünen Deal als „Man on the Moon Moment“ an, der die Bedingungen für den Übergang zu einer modernen, ressourceneffizienten und wettbewerbsfähigen Wirtschaft schaffen sollte. Das war vor der Pandemie und vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Mit dem rasanten Auftreten von Krisen, Konflikten und Kriegen haben auch die Widerstandskräfte gegen notwendige Veränderungsprozesse zugenommen. Man kann darüber streiten, ob man ein derartig komplexes Paket politischer Initiativen als Mondlandung ankündigen sollte. Fakt ist, dass wir sehr weit von einer erfolgreichen Landung entfernt sind. Der Grüne Deal hat an Strahlkraft verloren. Ohne Zweifel sind bedeutende Maßnahmen auf den Weg gebracht worden, die in den kommenden Jahren weiterverfolgt und nachjustiert werden müssten, um die EU wettbewerbsfähig zu machen und ihrer Verpflichtung nachzukommen, bis 2050 klimaneutral zu sein. Im Europäischen Parlament werden aber Stimmen aus der EVP, EKR und Renew laut, man benötige hierbei eine Pause. Die EVP möchte eine Neuausrichtung des europäischen Grünen Deals durchsetzen und warnt davor, dass umweltpolitische Maßnahmen ein Investitionsdefizit in Europa verursachen könnten. Zwar fordert sie wie die Grünen/EFA einen Industrial Deal zum Umbau der Industrie, anders als diese aber nicht als Ergänzung, sondern als Alternative zur Umsetzung des Green Deals. In den letzten Monaten kam es wegen der EVP und EKR zu zahlreichen Blockaden, Verwässerungen und Verzögerungen bei der Verabschiedung von Maßnahmen zur Umsetzung der Ziele des europäischen Grünen Deals, was den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen gefährdet. Und das in einer Zeit, in der sich der globale Wettbewerb zuspitzt und die USA und China massiv in grüne Technologien investieren. Es wäre eine fatale Entscheidung, den europäischen Grünen Deal in seiner Umsetzung auszubremsen oder dessen Ziele zu überprüfen, wie es die EKR in ihrem Wahlprogramm fordert. Wenn Ursula von der Leyen wiedergewählt wird und ihr Kernprojekt der vergangenen Legislaturperiode glaubwürdig weiterverfolgen möchte, wäre sie eigentlich auf die Unterstützung der Grünen/EFA angewiesen. Die Frage ist, wie ernst es die EVP und Renew mit einem ambitionierten Deal wirklich meinen.

Wie weiter mit Reform und Erweiterung?

Der zweite besonders bedeutende Bereich, dem sich eine neue Mehrheit im Parlament intensiv wird widmen müssen, ist die Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik der EU. 2019 hat niemand damit gerechnet, dass dieses Politikfeld wenige Jahre später durch eine derartige Dynamik geprägt sein wird. Warnungen der mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten vor der expansiven Politik Wladimir Putins wurden von westeuropäischen Regierungen, allen voran den deutschen Bundesregierungen unter Angela Merkel, nicht gehört. Seit 2022 tobt in Europa ein neo-imperialistischer Angriffskrieg Russlands, der nicht nur die Ukraine als souveränen Staat von der Landkarte tilgen will, sondern auch die Destabilisierung der EU zum Ziel hat. Russlands Krieg gegen die Ukraine führt uns seit über zwei Jahren brutal vor Augen, dass die Erweiterung der EU eine geopolitische Notwendigkeit ist. Aber sie ist mehr als das, sie ist auch eine Chance für die Zukunft der EU. Zukünftige Erweiterungsrunden können allerdings nur zur Stärkung der EU beitragen, wenn sie mit grundlegenden Reformen einhergehen. Auf die Frage, wie Reform und Erweiterung gelingen können und die EU handlungsfähiger werden kann, hat die Heinrich-Böll-Stiftung politische Empfehlungen vorgelegt, die exemplarisch für einige Politikbereiche die Potenziale für einen erfolgreichen Reformprozess und die wichtige Rolle beschreiben, die Deutschland dabei spielen kann. Die Reform- und Erweiterungsagenda muss in den nächsten Jahren von den EU-Institutionen vorangetrieben werden. Das ist allerdings nur möglich, wenn die EVP, S&D, Renew und die Grünen/EFA an einem Strang ziehen. Denn nichts liegt den antidemokratischen Kräften im Parlament ferner, als die Erweiterung der EU mit grundlegenden Reformen zu verbinden, die die Handlungsfähigkeit der EU erhöhen.

Verantwortungskoalition demokratischer, pro-europäischer Kräfte

Eine eindrückliche und kluge Beobachtung des ehemaligen tschechischen Präsidenten Václav Havel ist heute aktueller denn je: „Ein inhärenter Nachteil der Demokratie ist, dass sie denjenigen, die es ehrlich mit ihr meinen, die Hände bindet, während sie denjenigen, die sie nicht ernst nehmen, fast alles erlaubt“. Es wird in der folgenden Legislaturperiode darauf ankommen, dass diejenigen, die es ehrlich mit der Demokratie meinen, denjenigen rote Linien aufzeigen, die die Demokratie nicht ernst nehmen. Antidemokratischen Kräften devot und naiv die Hand zu reichen und sie dadurch salonfähig zu machen, wird die EU nicht handlungsfähiger, sondern fragiler und angreifbarer machen. Von Rechtspopulisten gelegte Brände am Brennen zu halten oder – schlimmer noch – Öl in diese Feuer zu gießen, ist keine politische Strategie zur Wahrung der Demokratie, sondern eine für demokratische Gesellschaften folgenschwere Bankrotterklärung. Die demokratischen und pro-europäischen Kräfte müssen den Ernst der Lage begreifen, sie müssen gemeinsam und mit kühlem Kopf zum Feuerlöscher greifen. Sie sollten mit einem politischen Gestaltungsanspruch Allianzen bilden und – fernab von Wahlkämpfen – in eine deeskalierende, transparente und glaubwürdige Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürgern investieren. Dabei muss ein besonderer Fokus auf jungen Wählerinnen und Wählern liegen, die sich in erschreckend vielen Ländern zunehmend rechtsextremen Parteien zuwenden. In Deutschland setzten 16 Prozent der 16-24-Jährigen ein Kreuz bei der AfD, das ist im Vergleich zu 2019 ein Zuwachs von 11 Prozentpunkten. Die Grünen verloren in dieser Altersgruppe 23 Prozentpunkte und liegen abgeschlagen bei nur 11 Prozent. In Frankreich wurde der RN bei der Wählerschaft im Alter von 18 bis 34 Jahren mit 32 Prozent stärkste Kraft vor der Linksaußen-Partei „La France Insoumise“ (20 Prozent). In Polen gewann die Bürgerplattform (insgesamt 21 Mandate, davon 18 bei der EVP) des polnischen Premiers Donald Tusk die Europawahl zwar erfreulicherweise vor der PiS (Recht und Gerechtigkeit, EKR, 20 Mandate), womit die PiS zum ersten Mal seit knapp 10 Jahren eine Wahl verlor. Es gibt aber auch eine negative Entwicklung: Die rechtsextreme Konfederacja zieht mit 12 Prozent und sechs Mandaten erstmals ins Europäische Parlament ein. 30 Prozent der 18-29-Jährigen wählten diese Partei, die damit bei den jungen Wählerinnen und Wählern stärkste Kraft wurde. 

Der Rechtsruck ist in vielen Mitgliedstaaten keine Momentaufnahme. Es kommt nicht erst seit dieser Wahl darauf an, diesen Trend aufzuhalten. Gefragt sind hier selbstverständlich nicht nur die politischen Parteien, die Ergebnisse sind vielmehr ein Appell an alle demokratisch engagierten Menschen und Organisationen. Insbesondere mit Blick auf die im Laufe der neuen Legislaturperiode des Europäischen Parlaments anstehenden Wahlen zum Deutschen Bundestag und zur französischen Präsidentschaft wird diese Aufgabe im Lichte der Ergebnisse der Europawahl besonders deutlich. Im Europäischen Parlament bedarf es einer Verantwortungskoalition der demokratischen, pro-europäischen Kräfte. Diese Koalition muss sich für eine Erweiterung der Union stark machen, die Hand in Hand mit den dafür in allen Politikbereichen notwendigen Reformen geht, um die Handlungsfähigkeit einer demokratisch verfassten Union für die Zukunft zu gewährleisten. Dabei sind die Fähigkeit und Bereitschaft von Bedeutung, einander auch in schwierigen Zeiten zuzuhören, miteinander respektvoll zu diskutieren und zu streiten, um konstruktive Kompromisse zu erarbeiten. Die Geschichte hat wiederholt gezeigt, dass das Europäische Parlament ein Ort für sachliche Verhandlungen sowie Kompromissfindung über Partei- und Ländergrenzen hinweg ist. Dies gilt es zu bewahren. Es wäre naiv zu glauben, dass das Fundament für diese europäische Demokratieerzählung eine Selbstverständlichkeit ist. 

 


[1] EU-weit lag die Wahlbeteiligung bei 51 Prozent, am höchsten war sie in Belgien (89,8 Prozent) und Luxemburg (82,3 Prozent), am niedrigsten in Kroatien (21,3 Prozent) und Litauen (28,4 Prozent). In Deutschland lag sie bei 64,8 Prozent.  

[2] Alle Vergleiche zu den Gewinnen und Verlusten beziehen sich auf die Fraktionszuordnung und deren Stärke im scheidenden Europäischen Parlament. Das ist deshalb wichtig zu beachten, weil die letzte Wahl 2019 vor dem Brexit stattfand. Das Europäische Parlament ist nach dem Brexit von 751 auf 705 Mandate geschrumpft. Im neuen Europäischen Parlament werden 720 Abgeordnete sitzen. Alle Daten stammen von der Website des Europäischen Parlaments und Politico. Stand: 11. Juni 2024.