Grüne Parteien und die Europawahl 2024: Verluste im Westen, Zugewinne im Osten, Süden und Norden

Analyse

2019 war ein außerordentliches Wahljahr für die Europäische Grüne Partei. Schon zu Beginn des Wahlkampfes 2024 wurde deutlich, dass eine Wiederauflage herausfordernd werden würde. Grüne Parteien haben bei dieser Wahl insgesamt Sitze verloren. Der Großteil dieser Verluste ist auf Deutschland und Westeuropa zurückzuführen. Im Osten, Süden und Norden des Kontinents konnten hingegen Zugewinne verzeichnet werden.

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Wahlabend der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament in Brüssel, am Sonntag, den 9. Juni 2024.

Mit einer geschätzten Wahlbeteiligung von 50,8 % wurde vom 6. bis 9. Juni 2024 ein neues Europäisches Parlament (EP) gewählt, dem 720 Abgeordnete aus 27 EU-Mitgliedstaaten angehören werden. Die Ergebnisse sind noch vorläufig und werden gerade aktualisiert. Die neuesten Zahlen finden Sie auf der Website des Europäischen Parlaments.

Die Europäische Grüne Partei (EGP) ist eine Dachorganisation, die grüne und progressive politische Parteien aus dem gesamten europäischen Kontinent vereint. Als solche wird sie nicht nur durch ihre Mitglieder im Europäischen Parlament (diese sind dort Teil der Grünen/EFA-Fraktion) vertreten, sondern agiert auch als politische Vertretung außerhalb des Parlaments.

Die EGP beendete die laufende Legislaturperiode des EP mit 57 Sitzen (die gesamte Fraktion Grüne/EFA, die auch Abgeordnete anderer politischer Familien enthält, umfasste 71 Sitze). Obwohl zu Redaktionsschluss dieses Artikels noch nicht alle Stimmen ausgezählt waren und sich die Sitze noch in geringem Maße verschieben können, wissen wir bereits, dass die EGP etwa 15 Sitze verlieren wird, also insgesamt etwa ein Viertel ihrer derzeitigen Delegation.

Viele der Verluste sind auf das deutsche Wahlergebnis zurückzuführen, wo das EGP-Mitglied Bündnis 90/Die Grünen seit drei Jahren Teil der Bundesregierung ist. In dieser Rolle musste sie sich in einem schwierigen politischen Umfeld zurechtfinden. Mit ihrer ursprünglich vorgesehenen ehrgeizigen Klimapolitik konnten Die Grünen sich in der Regierungskoalition mit der sozialdemokratischen SPD und der liberalen FDP nicht durchsetzen. Das könnte bei einigen Wähler*innen den Eindruck erweckt haben, dass die Partei zentrale Werte aufgegeben habe. Für andere wiederum könnten die spürbaren finanziellen Auswirkungen der Klimapolitik inmitten einer Lebenshaltungskostenkrise Grund für Kritik gewesen sein. Kurzum: Es ist nicht einfach, nach 15 Jahren in der Opposition in die Regierung zurückzukehren und das ursprüngliche Niveau der Wählerunterstützung zu halten, das Die Grünen noch 2019 in der Opposition genossen. So ist Bündnis 90/Die Grünen von 21 auf nur noch 12 Sitze im EP zurückgefallen.

Doch wird die Europawahl rein von nationalen Themen bestimmt? Eher nicht: Eurobarometer-Daten deuten darauf hin, dass der Klimawandel und die Artenvielfalt den Wähler*innen in diesem Wahlkampf weniger wichtig waren als noch vor fünf Jahren. Die Kriege im Gazastreifen und in der Ukraine sowie die Lebenshaltungskostenkrise haben die Nachrichten dominiert - und die Themen Sicherheit und Soziales sind weniger mit dem grünen Label verbunden als der Klimawandel.

In Frankreich wurde die Mehrparteienliste der Grünen Les Écologistes-Europe Écologie zwischen dem liberalen Mehrparteienbündnis des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, Besoin d'Europe, und dem Mitte-Links-Bündnis unter Führung der Parti socialiste, Envie d'Europe écologique et sociale, zerrieben, die beide im Kampf um den dritten Platz die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zogen. Mit nur 5,5 % von 90,3 % der Stimmen sind die französischen Grünen fast unter die für den Einzug ins EU-Parlament erforderliche Hürde gefallen. Im Jahr 2019 erreichte Les Écologistes-Europe Écologie noch 14,5 %. So müssen sie 2024 einen Rückgang von zehn auf fünf Sitze hinnehmen.

Die belgischen grünen Parteien mussten ebenfalls Verluste hinnehmen: Ecolo (in der französischsprachigen Wähler*innenschaft) und Groen (in der flämischsprachigen Wähler*innenschaft) gewannen zusammen nur zwei Sitze, einen weniger als 2019. Auch in Finnland fielen die Grünen Vihreä Liitto von drei auf zwei Sitze zurück.

In den Niederlanden hingegen konnte die grüne Partei GroenLinks dank eines Bündnisses mit der sozialdemokratisch ausgerichteten Partij van de Arbeid (PvdA) den westeuropäischen Misserfolgen trotzen und ihre Sitzzahl leicht von drei auf vier erhöhen.

Die österreichischen Grünen (Die Grünen - Die Grüne Alternative) blieben in Bezug auf ihre aktuelle Sitzzahl (zwei Sitze) stabil. Die luxemburgischen Grünen (Déi Gréng) konnten ihren einen Sitz gleichermaßen halten.

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Neue Zugewinne im Süden, im Osten und in Dänemark

Während die Grünen in ihren Hochburgen Verluste hinnehmen mussten, gewannen sie in anderen Teilen des Kontinents an Unterstützung. Vor allem dort, wo die EGP Beziehungen zu neu entstandenen nationalen politischen Parteien aufbaute, die oft ihren Ursprung in lokalen Basisbewegungen haben. Diese Strategie hat sich ausgezahlt und hat so verhindert, dass die europäischen Grünen insgesamt größere Verluste hinnehmen mussten: Možemo! - politička platforma gewann ihren ersten Sitz in Kroatien. Auch Progresīvie in Lettland ist nun zum ersten Mal im EP vertreten, nachdem sie in der letzten Legislaturperiode der EGP beigetreten war. Demokratų sąjunga „Vardan Lietuvos“ aus Litauen hatte einen ähnlichen Werdegang und gewann ebenfalls 2024 einen Sitz. Auch in Slowenien zog Vesna - Zelena Stranka im Namen der EGP mit einem Sitz erstmals ins Europäische Parlament ein. Nicolae Ștefănuță aus Rumänien lag zu Redaktionsschluss dieses Artikels an der Drei-Prozent-Hürde für unabhängige Kandidat*innen, was bedeutet, dass der derzeitige Abgeordnete des EP, der in der letzten Legislaturperiode zu den Grünen/EFA Fraktion übergelaufen war, eine 50-prozentige Chance auf den Einzug ins Europäische Parlament hat.

In Südeuropa haben die italienischen Grünen (Europa Verde) den Einzug ins EP feiern können, nachdem sie in der letzten Legislaturperiode nicht vertreten waren. Europe Elects geht davon aus, dass sie etwa drei Sitze gewinnen werden; die Auszählung war jedoch zu Redaktionsschluss dieses Artikels noch nicht abgeschlossen. In Spanien ist Catalunya en Comú wieder in das Europäische Parlament eingezogen.

In Skandinavien konnten die Grünen zulegen. Die danäische SF - Socialistisk Folkeparti steigerte die Anzahl ihrer Sitze von zwei auf drei und erreichte damit erstmals den ersten Platz in ihrem Land. In Schweden konnte die Miljöpartiet ihre starken drei Sitze halten.

Es gibt jedoch weiterhin weiße Flecken auf der europäischen Landkarte: Grüne Parteien konnten in Estland, Griechenland, Malta, Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn keinen einzigen Sitz gewinnen.

In Irland liegen aufgrund der mit dem Wahlsystem verbundenen längeren Auszählung noch keine Ergebnisse vor.
Zu Redaktionsschluss dieses Artikels schätzt Europe Elects, dass die europäischen grünen Parteien zusammen einen Stimmenanteil von etwa 6,3 % in der gesamten EU erhalten haben.

Die europäischen Grünen sitzen zusammen mit kleineren Parteien in der Fraktion der Grünen/EFA im Europäischen Parlament. Die größte von ihnen ist derzeit Volt Europa, die voraussichtlich fünf Sitze erhalten wird, vier mehr als noch 2019. Die Europäischen Piraten werden fast alle ihre Abgeordneten verlieren und von vormals vier auf nur noch einen Sitz zurückfallen. Ein Sitz geht an Lietuvos valstiečių ir žaliųjų sąjunga (LVŽS), die bisher bei der Grünen/EFA Fraktion saß, nun aber angekündigt hat, sich dem nationalkonservativen EKR-Block von Giorgia Meloni anschließen zu wollen. Die regionalistische EFA-Partei wird voraussichtlich sechs Sitze gewinnen, von denen sich drei der Grünen/EFA Fraktion anschließen werden.

Zu Redaktionsschluss des Artikels konnte der konservative Block der EVP im Vergleich zur derzeitigen Zusammensetzung geringfügig zulegen und 188 Sitze (+10) erringen. Zusammen mit der sozialdemokratischen S&D Fraktion (135 Sitze; -5) und der liberalen Fraktion Renew Europe (80 Sitze; -22) blieb die traditionelle Mehrheit der politischen Mitte im Parlament erhalten. Die rechtskonservative EKR ist derzeit dabei, die liberale Fraktion Renew Europe als drittgrößte politische Kraft abzulösen. Hier wird jedoch viel von den Verhandlungen nach der Wahl und den endgültigen Ergebnissen in Irland abhängen. Die rechtsextreme ID-Fraktion von Marine Le Pen - die nun fast die Hälfte der französischen Delegation stellt - wird voraussichtlich 64 Sitze (+5) erringen; die Linksfraktion bleibt mit 40 Sitzen (+3) die kleinste Fraktion im Parlament. 77 Sitze (+28) entfallen derzeit auf die Fraktionslosen (NI), von denen die Fidesz (10 Sitze) allerdings beabsichtigt, sich der EKR-Fraktion anzuschließen.

Werfen wir zuletzt einen Blick auf die europäischen Parteien (nicht zu verwechseln mit den Fraktionen): Der EVP werden 172 Sitze (+3) vorausgesagt, der EVP-Fraktion sollte 189 Sitze erhalten. Die Sozialdemokratische Partei Europas erhält laut Berechnungen 132 Sitze (-2), die gesamte S&D-Fraktion 139. Die liberale ALDE-Partei wird voraussichtlich nur 58 Sitze gewinnen (-9) und damit neben der Europäischen Grünen Partei die größten Verluste erleiden. Die rechtskonservative EKR-Partei der italienischen Ministerpräsidentin und Mitglied des Europäischen Rates Giorgia Meloni, wird voraussichtlich 58 Sitze gewinnen (+7). Die rechtsextreme ID-Partei von Marine Le Pen legte von 48 auf 57 Sitze zu (+9). Die Europäische Linke wird mit 27 Sitzen unverändert bleiben. Der Zentrumspartei EDP werden acht Sitzen prognostiziert, drei Sitze weniger als sie derzeit hat. Die christlich-fundamentalistische Partei ECPM verliert wohl mehr als die Hälfte ihrer Sitze und fällt von fünf auf zwei zurück.

Dieser Artikel wurde am Nachmittag des 10. Juni verfasst. Die Auszählung wird voraussichtlich am Dienstag, den 12. Juni, abgeschlossen sein.

Die amtlichen Endergebnisse werden auf der Website von EuropeElects veröffentlicht.

Dieser Artikel erschien zuerst hier: eu.boell.org