Eine endlose Militäroperation erlaubt es dem israelischen Ministerpräsidenten nicht nur, sich weiter an die Macht zu klammern, sie dient auch einem größeren ideologischen Ziel: die Verhinderung eines palästinensischen Staates.
Benjamin Netanjahu brauchte mehr als einen Monat, um der israelischen Öffentlichkeit irgendeine Art von Exit-Strategie für den Krieg zu liefern, den Israel seit dem 7. Oktober im Gazastreifen führt. Der Krieg werde erst dann ein Ende haben, so Netanjahu in einer Pressekonferenz vom 11. November, »wenn die Hamas eliminiert worden ist. Gaza wird entmilitarisiert werden und keine Bedrohung mehr für den Staat Israel darstellen. Die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte werden auch weiterhin die Sicherheitskontrolle über Gaza innehaben, um Terror zu verhindern.«
Er fuhr fort: »Überall, wo es keine israelische Sicherheitskontrolle gibt, kehrt der Terror zurück, setzt sich fest und schadet uns. Das hat sich auch in Judea und Samaria [dem Westjordanland] gezeigt. Aus diesem Grund bin ich unter keinen Umständen bereit, die Sicherheitskontrolle aufzugeben.«
Zur Möglichkeit befragt, ob denn die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) wieder in Gaza regieren solle, erwiderte Netanjahu: »Es wird keine Zivilbehörde geben, die den Kindern beibringt, Israel zu hassen oder Israelis zu töten. Es darf keine Behörde geben, die den Familien von Mördern Geld zahlt. Es darf keine Behörde geben, deren Anführer das Massaker noch immer nicht verurteilt hat. Es wird etwas Anderes geben müssen – aber in jedem Fall unter unserer Sicherheitskontrolle.«
Krieg ohne Exit-Strategie
Aus diesen Bemerkungen lassen sich einige Dinge ableiten. Zunächst, dass es Netanjahu auf einen sehr langen – vielleicht sogar endlosen – Krieg angelegt hat. Die israelische Armee könnte tatsächlich im gesamten Gazastreifen vorrücken und dabei alle Bewohner*innen aus den eingenommenen Gebieten zwangsumsiedeln und diese Gebiete bis auf die Grundmauern zerstören.
Doch selbst wenn die Armee die Städte und Flüchtlingslager im Norden von Gaza zu Geisterstädten macht, sprechen wir immer noch nur über die »oberirdischen Städte«. Niemand, vielleicht mit Ausnahme der Hamas-Führer, weiß, wie viele palästinensische Kämpfer sich in den Tunneln unter der Erde aufhalten; wie viele von ihnen immer noch da sein werden, wenn die Besetzung Gazas abgeschlossen ist; wie viele sich durch die Tunnel in den Süden des Streifens bewegen werden; und wie viele sich bereits in dieser Region aufhalten.
Berichten zufolge vermutet Israel, dass die meisten israelischen Geiseln, die am 7. Oktober entführt wurden, im Süden des Gazastreifens festgehalten werden. Das bedeutet, dass sich nach der vollständigen Vertreibung der Bevölkerung aus Nord-Gaza, mehr als zwei Millionen Palästinenser*innen in der Süd-Hälfte des Streifens aufhalten werden, zusammen mit dem Gros der Militärmacht der Hamas und vielleicht auch deren Anführern. Mit anderen Worten: die Mission, die Hamas zu »eliminieren« und den Gazastreifen zu entmilitarisieren, wie Netanjahu es angekündigt hat, wird eine Mammutaufgabe werden.
Und was wird Israel mit den zwei Millionen Palästinenser*innen tun, die sich dann im Süden aufhalten, von denen bereits viele ein weiteres Mal zur Evakuierung aus bestimmten Regionen im Süden aufgefordert wurden? Ein Versuch, sie auf die ägyptische Halbinsel Sinai abzuschieben, wäre Israels Beziehung zu Ägypten wenig zuträglich und könnte auch das Nachbarland in den Krieg mit hinein ziehen.
Eine Wiederholung der Angriffe, die Israel im Norden des Gaza-Streifens aktuell durchführt, würde womöglich zu tausenden Toten pro Tag führen, da sich die Bevölkerungsdichte verdoppeln wird. Die aktuelle humanitäre Katastrophe nimmt höchstwahrscheinlich biblische Ausmaße an. Angesichts einer solchen Krise fällt es schwer zu akzeptieren, dass die westliche Welt und jene arabischen Staaten, die Beziehungen zu Israel pflegen – Ägypten, Jordanien und die Vertragsstaaten der Abraham Accords – weiterhin schweigen, nicht zu sprechen von der Hisbollah, den Huthi im Jemen und auch den schiitischen Milizen im Irak.
Was eine Beendigung des Krieges beinahe unmöglich macht, ist jedoch Netanjahus Bedingung, dass die israelischen Streitkräfte im gesamten Gazastreifen frei agieren können müssen, so wie sie es im Westjordanland tun und in Gaza bis 2005 getan haben. Keine internationale, arabische oder lokale Organisation wird bereit sein, die – mit massiven Anstrengungen und Investitionen verbundene – zivile Verwaltung in einem dezimierten Gazastreifen zu übernehmen, und das als Erfüllungsgehilfe für eine israelische Besatzungsarmee. Die PA, die diese Aufgabe im Westjordanland drei Jahrzehnte lang pflichtgetreu erfüllt hat, wurde von Netanjahu für diese Aufgabe bereits ausgeschlossen.
Nicht umsonst erklärte die US-Regierung gleich zu Beginn des Krieges, dass Israel nach dessen Ende nicht die Kontrolle über Gaza übernehmen dürfe. Ohne eine Beteiligung der USA erscheint die Möglichkeit eines Übereinkommens zur Beendigung der israelischen Angriffe schwierig.
Sollte Netanjahu ernsthaft auf diese Bedingung bestehen, dann hat er offenbar beschlossen, auf eine Exit-Strategie zu verzichten. Selbst im Westjordanland, das Netanjahu immer als Modell anführt, ist es Israel nach sechsundfünfzig Jahren Besatzung nicht gelungen, die palästinensische Bevölkerung völlig zu unterwerfen. Vor dem 7. Oktober waren in den besetzten Territorien mehr als dreißig Bataillone im Einsatz, die immer noch auf Widerstand stießen. Wie viel Feuerkraft wird Israel benötigen, um den Widerstand im Gazastreifen komplett auszuschalten?
Netanjahus Bedingungen machen auch eine Übereinkunft zur Freilassung der israelischen Geiseln nahezu unmöglich. Welchen Anreiz hätte die Hamas, eine Übereinkunft mit Israel zu erzielen, wenn die ihr auferlegten Bedingungen ihre völlige Eliminierung und die totale Kontrolle des Gazastreifens durch Israel beinhalten?
Ein Vermächtnis in Gefahr
Natürlich ist sich der Ministerpräsident der Tatsache bewusst, dass der einzige Weg, den Krieg zu beenden und Gaza von der Herrschaft der Hamas zu befreien, in einem wie auch immer gearteten internationalem Prozess besteht – einen solchen Prozess lehnt er aber zugunsten einer Fortsetzung der aktuellen Militäroperation ab. Doch nicht alle in Israels Kriegskabinett fordern die gleichen Bedingungen für ein Ende des Krieges: Benny Gantz, der kürzlich zum Minister ohne Portfolio ernannt wurde, sprach nicht von einer fortgesetzten israelischen Militärkontrolle im Gazastreifen, sondern vielmehr von einem »Regimewechsel«. Was steckt also tatsächlich hinter Netanjahus erklärter Absicht?
Eine zynische Analyse – und es gibt keinen Grund, nicht zynisch zu sein, wenn es um Netanjahu geht – lässt darauf schließen, dass der Ministerpräsident den Krieg verlängern möchte, da er weiß, oder zumindest vermutet, dass an dem Tag, an dem der Krieg endet, der Countdown für das Ende seiner Regierungszeit startet. Netanjahu hat vielleicht erwartet, dass ein massiver Angriff auf Gaza sein politisches Ansehen in der israelischen Öffentlichkeit verbessern würde, doch das genaue Gegenteil ist eingetreten.
Es ist beileibe nicht das erste Mal in der Geschichte Israels, dass das passiert: Menachem Begin war ein Jahr nach dem Libanon-Krieg von 1982 gezwungen zurückzutreten, und auch Ehud Olmert wurde vor allem aufgrund des Libanon-Kriegs von 2006 abgesetzt.
Mit seinen Einwänden gegen die Rückkehr der Palästinensischen Autonomiebehörde nach Gaza kehrt Netanjahu zu jener Position zurück, mit der seine Karriere als Ministerpräsident ihren Anfang genommen hat. Nachdem er 1996 nach der Ermordung des damaligen Premierministers Yitzhak Rabin die Wahl gewonnen hatte, spielte Netanjahu eine zentrale Rolle bei der schrittweisen Aufkündigung des Osloer Friedensprozesses und beim Blockieren der PA. Hierdurch wollte er die Gründung eines palästinensischen Staates verhindern.
Möglicherweise ist Netanjahu der Ansicht, dass er – indem er sich gegen eine Machtübernahme der PA in Gaza stellt – eine starke Unterstützer-Basis bei den Rechten und extrem Rechten in Israel wiedergewinnen könne. Ein politischer Diskurs rund um die Frage wer sich für oder gegen einen palästinensischen Staat einsetzt, ist weitaus bequemer für Netanjahu, als einer, der von der Frage beherrscht wird, ob man ihm die Führung des Landes anvertrauen kann.
Doch hier geht es um weitaus mehr, als nur um sein politisches Überleben. Netanjahus Lebensziel besteht darin, den palästinensischen Nationalismus zu eliminieren. Für ihn stellt dies das historische Ziel seiner Generation des jüdischen Volkes dar – eines, das er von seinem Vater übernommen hat – und es ist auch der Grund, weshalb er jahrelang bereitwillig die Hamas in Gaza stärkte, um zur Spaltung der palästinensischen Nationalbewegung beizutragen.
Wenn dieser Krieg mit einer – wenn auch nur geringfügig – gestärkten Position der PA und neu eröffneten Perspektiven für die Umsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung endet – so wie es Amerika, Europa und ein Großteil der arabischen Welt befürworten – dann ist Netanjahus gesamtes Vermächtnis in Gefahr. Und deshalb bevorzugt der Ministerpräsident – angetrieben von seiner Ideologie – lieber auf eine Verlängerung des Krieges zu setzen, selbst wenn es keine Chance auf einen echten militärischen Sieg mehr gibt, allein, um hierdurch jeglichen Fortschritt in Richtung einer palästinensischen Unabhängigkeit zu verhindern.
Übersetzt aus dem Englischen von Alexandra Titze-Grabec.