Der Angriff der Hamas und Israels Krieg in Gaza

Analyse

Aus historischer Perspektive bieten die aktuellen Ereignisse in Israel und Gaza Anlass zu großer Sorge. Trotz der erschreckenden Gewalt auf beiden Seiten muss das Ziel eine politische Friedensregelung sein.

Lesedauer: 21 Minuten
Omer Bartov Porträt
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Omer Bartov, Professor für Holocaust- und Genozidforschung.

Die englische Originalversion des Artikels wurde zuerst beim Council for Global Cooperation veröffentlicht


Wie viele andere Menschen in Israel und überall auf der Welt war ich von dem Angriff der Hamas am 7. Oktober zunächst schockiert und entsetzt. Diese anfängliche Reaktion wurde jedoch von Zorn sowohl über das entsetzliche Massaker an Frauen, Kindern, älteren Menschen, Menschen mit Behinderung und sogar Babys begleitet, als auch auf jene, die diese Gewalttaten und viele vorangehende hätten verhindern können, sowie über die brutalen Vergeltungsmaßnahmen, die folgten.

Zwei Monate vor dem Angriff der Hamas veröffentlichten einige Kolleg*innen und ich die Petition The Elephant in the Room“. Sie wurde von fast 3000 Personen unterschrieben, darunter viele bedeutende Wissenschaftler*innen, religiöse Leitfiguren und Personen des öffentlichen Lebens. Die Petition war eine Antwort auf die Proteste in Israel gegen die versuchte „Umstrukturierung“ des Justizsystems – ein Regierungscoup, der die Justiz schwächen und die Exekutive stärken sollte. Der „Elefant im Raum“, warnten wir, sei die Besatzung von Millionen von Palästinenser*innen. Außerdem sei die vermeintliche Justizreform von einer rechtsextremen Siedlergruppierung initiiert worden, die das Ziel habe, das Westjordanland zu annektieren. Doch die beeindruckende Protestbewegung, die sich in Israel gegen den Justizcoup formiert hatte, war dieser Frage fast gänzlich ausgewichen.

Die verdrängte Realität der Palästinenser*innen

Am 7. Oktober flog dem gesamten Land die verdrängte Realität der Palästinenser*innen unter direkter oder indirekter Herrschaft Israels buchstäblich um die Ohren. Ich war zwar schockiert und entsetzt von der Brutalität des Hamas-Angriffs, aber überrascht war ich keineswegs. Dieses Ereignis war abzusehen. Wenn man zwei Millionen Menschen 16 Jahre lang in einem Belagerungszustand hält, sie ohne Arbeit, ordentliche Sanitäranlagen, Nahrung, Wasser, Strom, Bildung, ohne Hoffnung und Zukunftsperspektiven auf einen schmalen Streifen Land zwängt, dann muss man mit immer verzweifelter und brutaler werdenden Gewaltausbrüchen rechnen.

Manche nannten die Geschehnisse des 7. Oktobers einen Pogrom. Diese Begriffsverwendung ist meiner Meinung nach falsch, irreführend und ideologisch überdeterminiert. Ursprünglich wurde der Begriff Pogrom für Angriffe auf jüdische Gemeinschaften, insbesondere im Süden Russlands und der Ukraine angewandt, die von aufgehetzten Mobs ausgeführt und manchmal von staatlichen Autoritäten unterstützt wurden. Seither wird er auch für Mob-Angriffe anderenorts auf andere Minderheiten verwendet. Diese Pogrome begannen in den frühen 1880er Jahren und waren ein Grund für den Beginn der zionistischen Bewegung und des Ethnonationalismus; in ihrer Folge entstanden die ersten säkularen Siedlungen in Palästina, das damals noch Teil des Osmanischen Reichs war.

Der Zionismus sollte einen jüdischen Mehrheitsstaat schaffen, in dem Pogrome per definitionem nicht mehr möglich wären, da die politischen, militärischen und polizeilichen Autoritäten allesamt jüdisch wären. Es ist somit völlig anachronistisch diesen Begriff für einen Terroranschlag der Hamas zu verwenden. Heute wird der Begriff benutzt, um bewusst oder unbewusst antijüdische Gewalt heraufzubeschwören, insbesondere die des Holocausts, als das Ereignis schlechthin, das zur Staatsgründung Israels geführt hat. Wenn man von „Pogrom“ spricht, unterstellt man der Hamas und mithin allen palästinensischen Organisationen oder sogar generell allen Palästinenser*innen eine unerbittliche antisemitische Gesinnung mit einer Neigung zu grausamer, irrationaler Gewalt, die einzig darauf abzielt, Jüd*innen zu töten. Anders gesagt, ist es nach dieser Logik nicht möglich, mit den Palästinenser*innen zu verhandeln. Entweder töten sie uns, wir töten sie, oder wir sperren sie zumindest hinter Mauern oder Stacheldraht.

Eine weitere Parallele wurde zwischen dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 und dem Angriff des ägyptischen und syrischen Militärs vor fünfzig Jahren, am 6. Oktober 1973, gezogen. Damals leistete ich meinen Wehrdienst. Zwischen diesen beiden Ereignissen gibt es Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In beiden Fällen wurde Israel unvorbereitet überrascht aufgrund seiner strategischen „Auffassung“, der zufolge das Land militärische Bedrohungen leichthin, also ohne politische oder territoriale Zugeständnisse, bewältigen könne. Der ägyptische Präsident Anwar Sadat hatte versucht, Israel davon zu überzeugen, die seit 1967 besetzte Sinai-Halbinsel im Gegenzug für ein Friedensabkommen zurückzugeben. Doch entsprach das nicht der Strategie Israels, denn wie der Verteidigungsminister Mosche Dajan es in dieser Zeit so infam ausdrückte, „ist es besser Scharm asch-Schaich [die Südspitze der Halbinsel] ohne Frieden zu behalten als Frieden ohne Scharm asch-Schaich.“ Dieser Machtrausch war das Ergebnis des verblüffenden Siegs im Sechstagekrieg, der mehr als 3000 israelischen Soldat*innen das Leben gekostet hatte, von denen einige meine Klassenkamerad*innen waren.

Israels Illusion den Konflikt managen zu können

Israelische Politiker*innen nahmen vor dem Angriff der Hamas am 7. Oktober an, man könne „den Konflikt managen“, anstatt eine Lösung zu finden. Im Gazastreifen wurde dies durch gelegentliches „Rasenmähen“ erreicht, das heißt durch Luftangriffe, die darauf abzielten, die Hamas in Schach zu halten. Tatsächlich entschieden sich Netanjahus viele Behörden dafür, die Hamas gerade stark genug und die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland schwach und unbeliebt genug zu halten, um argumentieren zu können, dass mit den Palästinenser*innen keine politische Einigung möglich sei. Derweil weiteten sich die Siedlungen in den besetzten Gebieten aus, so dass ein territorialer Kompromiss immer schwieriger umzusetzen war.

In beiden Fällen führte der politische Stillstand Israels zu Gewalt, da das Land glaubte, militärisch haushoch überlegen zu sein. Der Hauptunterschied zwischen diesen Ereignissen besteht darin, dass Israel 1973 von zwei großen Armeen mit Panzern, Artillerie und Kampfflugzeugen angegriffen wurde, während der Angriff der Hamas mit leichten Waffen und Raketen erfolgte. Im Gegensatz zu 1973 stellt die Hamas keine existentielle Bedrohung für Israel dar. Da das Land jedoch unfähig ist, eine politische Lösung für den Konflikt zu finden, wie sie nach 1973 akzeptiert werden musste, manövriert sich Israel selbst in einen regionalen Konflikt, der möglicherweise weitreichende Auswirkungen auf die Sicherheit und innere Stabilität des Landes haben wird.

Israels gegenwärtiger Einmarsch in den Gazastreifen sowie die damit einhergehenden schweren Kämpfe, die Zerstörung und Massenvertreibung könnte dazu führen, dass die Hisbollah im Norden stärker in das Geschehen eingreift als bisher. Diese von Iran unterstützte schiitische Miliz im Libanon ist eine sehr viel stärkere Kraft als die Hamas und verfügt über 150.000 Raketen und Flugkörper. Auch iranische Milizen in Syrien könnten sich einschalten. Und wie wir kürzlich gesehen haben, haben die ebenfalls von Iran unterstützten schiitischen Huthi-Rebellen im Jemen begonnen, Israel mit Langstreckenraketen anzugreifen und ein Frachtschiff beschlagnahmt. Derweil wächst die Gewalt der Siedler im Westjordanland, die oft von lokalen militärischen Einheiten unterstützt werden. Dies könnte eine weitere Intifada auslösen und dabei die Versuche der Siedler beschleunigen, diese Gebiete ethnisch zu säubern. Dadurch könnte wiederum die Gewalt in den „gemischten“ Städten Israels steigen, in denen jüdische und palästinensische Bürger*innen Seite an Seite leben, wie bereits im Mai geschehen. Somit wird Israel langfristig Gewalt und Zerstörung ausgesetzt sein und anwenden, wie es in diesem Maße seit 1948 nicht mehr vorgekommen ist. Die regionalen und innenpolitischen Konsequenzen sind dabei nicht absehbar, sie werden jedoch mit Sicherheit tiefgreifend sein.

Gibt es eine Parallele zwischen der Ukraine und Israel?

Kürzlich wies der amerikanische Präsident Joe Biden auf eine weitere Parallele hin, und zwar die, zwischen dem Krieg in der Ukraine und den Ereignissen, die auf den 7. Oktober folgten. Dies wurde in Israel sehr positiv aufgenommen. Demnach seien Israel und die Ukraine zwei Demokratien, die die USA gegen dunkle, autoritäre und fanatische religiöse Kräfte schützen müsse, wie er sagte. In Wirklichkeit ist es genau umgekehrt. Die Ukraine als ein unabhängiges, souveränes und demokratisches Land wurde von seinem Nachbarn Russland überfallen, einem autokratischen Staat mit einer imperialen Geschichte und expansionistischen Zielsetzungen. Israel ist eine Demokratie, zumindest für seine sieben Millionen jüdischen Bürger*innen, jedoch hat die Regierung gerade erst versucht, einen Justizcoup durchzuführen, der das Land bestenfalls in eine illiberale Demokratie nach dem ungarischen Modell verwandeln sollte. Außerdem hatten die drei Millionen palästinensischen Bürger*innen des Landes noch nie volle demokratische Rechte. Die drei Millionen Palästinenser*innen, die seit 56 Jahren in den von Israel besetzten Gebieten im Westjordanland leben, haben fast gar keine Rechte. Und die zwei Millionen Palästinenser*innen im Gazastreifen leben seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten unter israelischer Blockade.

Während Teile der Ukraine von Russland besetzt wurden, hält Israel das Westjordanland und den Gazastreifen seit 1967 besetzt und war seit seiner Gründung 1948 nur für Jüd*innen eine volle Demokratie (palästinensische Bürger*innen in Israel waren bis 1966 der Militärverwaltung unterworfen, wodurch den israelischen Autoritäten die Übernahme ihrer Ländereinen erleichtert wurde). Zwischen den beiden Situationen gibt es folglich keine Parallele. Der Angriff der Hamas, so schrecklich und barbarisch er war, muss als Antwort auf Israels Politik der Besatzung und Blockade verstanden werden und ebenso auf die völlige Verweigerung der Regierung Netanjahus, den Konflikt politisch zu lösen. Es sollte möglich sein, den Hamas-Terror zu verurteilen und gleichzeitig auch die Kompromisslosigkeit und Gewalt Israels gegenüber den Palästinenser*innen zu verurteilen. Wir müssen begreifen, dass das eine, eine Reaktion auf das andere ist, auch wenn die Hamas eine Organisation ist, die Israel gewaltsamen beseitigen und durch ein muslimisch palästinensisches Regime ersetzen will.

Als Historiker ist es mir wichtig, die Ereignisse der Gegenwart historisch korrekt einzuordnen und so gut wie möglich Schlüsse über die tieferliegenden Ursachen zu ziehen. Eine Fehlinterpretation solcher Ursachen oder ihre völlige Verleugnung, wird die Dinge nur verschlimmern. Dem Anschein nach sind gerade diese fehlerhaften Interpretationen oder Verleugnungen dafür verantwortlich, dass Israel derzeit über einem Abgrund balanciert; hiervor warnen auch immer mehr gut informierte Kommentator*innen. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sich ein regionaler, wenn nicht gar weltweiter Konflikt entfacht. Erschwerend kommt hinzu, dass Israel mehr als eine Million Zivilist*innen – die meisten von ihnen palästinensische Geflüchtete der Nakba und ihre Nachfahren – aus ihren Häusern im Norden des Gazastreifens in den Süden zwangsumgesiedelt hat und die israelischen Streitkräfte (IDF) einen Großteil dieses nördlichen Teils nun in Schutt und Asche legen. Den meisten Berichten zufolge haben sie mittlerweile zehnmal so viele Palästinenser*innen getötet wie die Hamas am 7. Oktober Israelis ermordet hat, darunter auch viele Kinder (die im Gazastreifen 50% der Bevölkerung ausmachen). Kürzlich sind vertriebene Bewohner*innen Gazas aus dem östlichen Teil des südlichen Streifens aufgefordert worden, in seinen westlichen Teil zu ziehen, was die Überlastung noch gesteigert hat. Diese Militärpolitik verursacht eine unerträgliche humanitäre Krise, die sich mit der Zeit nur noch verschlimmern wird. Die Bevölkerung des Gazastreifens kann nirgendwohin und ihre Infrastruktur wird zerstört.

Eine Sprache der Entmenschlichung

Führende Politiker und Generäle haben schreckenserregende Äußerungen gemacht, um dieses Vorgehen zu rechtfertigen. Am 7. Oktober sagte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, die Menschen im Gazastreifen werden einen „hohen Preis“ für den Angriff der Hamas bezahlen, die IDF werden die dichtbesiedelten Stadtzentren im Gazastreifen „in Schutt und Asche“ legen. Am 28. Oktober zitierte er aus dem Deuteronomium: „Denke daran, was Amalek dir angetan hat.“ Wie viele Israelis wissen, ruft die Bibel dazu auf, den Angriff Amaleks zu rächen und „Männer und Frauen, Kinder und Säuglinge zu töten“. Der israelische Präsident Jitzchak Herzog verurteilte alle Palästinenser*innen in Gaza: „Eine ganze Nation da draußen ist verantwortlich. Es stimmt nicht, dass die Zivilbevölkerung nichts weiß und unbeteiligt ist. Das ist absolut nicht wahr.“ Der israelische Minister für Energie und Infrastruktur Israel Katz äußerte sich ähnlich: „Bevor die Geiseln nicht freigelassen werden, gibt es weder Strom, Wasser noch Treibstoff.“ Ariel Kallner, ein Mitglied der Knesset, veröffentliche am 7. Oktober Folgendes in den sozialen Medien: „Gerade gibt es nur ein Ziel: Nakba! Eine Nakba, die die von 1948 in den Schatten stellt. Nakba im Gazastreifen und für jeden, der es wagt, sich anzuschließen.“ Diese Aussagen wurden von der Regierung nicht verurteilt. Am 11. November bekräftigte der Minister für Landwirtschaft und Mitglied des Sicherheitskabinetts Avi Dichter: „Wir setzen nun die Nakba im Gazastreifen um.“

Am 9. Oktober erklärte der israelische Verteidigungsminister Joaw Galant: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und dementsprechend handeln wir“. Diese Äußerung entmenschlicht ein ganzes Volk und hat genozidale Anklänge. Später teilte er mit, er habe die israelischen Streitkräfte „von allen Restriktionen entbunden“ und sagte, dass der „Gazastreifen nicht mehr sein wird wie zuvor. Wir werden alles zerstören.“ Am 10. Oktober verkündete der Leiter der israelischen Cogat-Behörde, Generalmajor Ghassan Alian, der Bevölkerung des Gazastreifens auf Arabisch: „Menschliche Tiere müssen auch wie solche behandelt werden. Es wird weder Strom noch Wasser, sondern nur Zerstörung geben. Ihr wolltet die Hölle, ihr bekommt sie.“ Am selben Tag gab der Sprecher des israelischen Militärs Daniel Hagari bekannt, dass es bei der Bombardierung des Gazastreifens „vor allem darum geht, Schaden zu verursachen und nicht um Treffsicherheit.“ In der auflagenstarken Boulevard-Tageszeitung Jedi¢ot Acharonot schrieb Generalmajor Giora Eiland am 10. Oktober: „Der Staat Israel hat keine andere Wahl als den Gazastreifen vorübergehend oder dauerhaft in einen Ort zu verwandeln, an dem man nicht leben kann“. „Um unser Ziel zu erreichen, ist es notwendig, eine ernsthafte humanitäre Krise in Gaza herbeizuführen“, fügte er hinzu und dass „Gaza sich in einen Ort verwandeln wird, an dem kein menschliches Wesen leben kann.“

Am 19. November schrieb Eiland in einem anderen Artikel in derselben Zeitung: „Israel kämpft nicht gegen eine Terrororganisation, sondern gegen den Staat Gaza.“ Er behauptete, die Hamas „hat die Unterstützung des Großteils der Bevölkerung (…) mit voller Unterstützung ihrer Ideologie. In dieser Hinsicht ähnelt Gaza Nazi-Deutschland.“ Dies ließ ihn schlussfolgern, dass „die Kampfhandlungen entsprechend ausfallen sollten.“ Seiner Meinung nach „ist es notwendig, um den Krieg schneller und mit geringeren Kosten zu gewinnen, das System der Gegenseite zum Zusammenbruch zu bringen, anstatt weiter Hamas-Terroristen zu töten. Die internationale Gemeinschaft warnt uns vor einer humanitären Katastrophe und schwerwiegenden Epidemien in Gaza. Wir dürfen uns davon nicht abschrecken lassen.“ In der Tat „bringen uns schwerwiegende Epidemien im südlichen Gazastreifen dem Sieg näher und verringern die Verluste des israelischen Militärs.“ Eiland erklärte, dass, „wenn hohe israelische Beamt*innen zur Presse sagen, ‚entweder wir oder sie‘, dann sollten wir klarstellen, wen wir mit ‚sie‘ meinen. ‚Sie‘ sind nicht nur die bewaffneten Hamas-Kämpfer, sondern (…) die gesamte Bevölkerung Gazas, die die Hamas begeistert unterstützt und die Gräueltaten vom 7. Oktober bejubelt hat.“

Auch diese Äußerungen, in denen sich genozidale Absichten verdeutlichen, wurden weder von Militärsprecher*innen noch von Politiker*innen verurteilt und ich könnte viele weitere zitieren. Als der ehemalige Ministerpräsident Naftali Bennett von Sky News gefragt wurde „Was ist mit den Palästinenser*innen, die auf lebenserhaltende Maßnahmen angewiesen sind und Babys in Brutkästen, die zusammen mit ihren lebenserhaltende Geräten abgeschaltet werden müssen, weil die Israelis den Strom nach Gaza gekappt haben?“, brüllte er: „Sie fragen mich ernsthaft nach der palästinensischen Zivilbevölkerung? Was stimmt nicht mit Ihnen? Haben Sie nicht mitbekommen, was passiert ist? Wir kämpfen gegen Nazis.“

Vor der Möglichkeit eines Genozids warnen, bevor er geschieht

Die Rhetorik und das Vorgehen Israels bereiten den Boden für mögliche Massentötungen, ethnische Säuberung und potentiell auch Genozid, gefolgt von der Annexion und Besiedlung des Gebiets. Das erzkonservative Kohelet Policy Forum, ein tief in den USA verwurzelter Think-Tank, der eng in die Pläne zur Justizreform von Netanjahus Regierung im Februar 2023 eingebunden war, stellt es nun als Teil vermeintlich humanitärer Bemühungen dar, palästinensische Flüchtende vom Gazastreifen in andere Länder „umzusiedeln“, in denen sie ein viel besseres Leben führen würden. Der Gazastreifen würde entsprechend jüdischen Siedlern überlassen werden. Ein Hauptmann der israelischen Streifkräfte wurde am 9. November an einem Strand in Gaza gefilmt, als er jungen Offizier*innen verkündete: „Wir sind zurückgekommen, nachdem wir vor fast 20 Jahren von hier vertrieben wurden [als Israel seine Siedlungen im Gazastreifen einseitig räumte]. Wir begannen den Kampf gespalten und beenden ihn vereinigt. Wir kämpfen für das Land Israel. Dieses Land gehört uns! Und das ist der Sieg, in unser Land zurückzukehren.“

Vielen anderen Mitgliedern der Regierung, der Knesset und des Militärs käme es gelegen, wenn das palästinensische Volk als solches von der Landkarte und aus dem Bewusstsein verschwinden würde. Bisher ist dies nicht geschehen und es kann verhindert werden. Die USA drängt nach wie vor auf eine Zweistaatenlösung. Unter den gegebenen Umständen ist es jedoch entscheidend, vor der Möglichkeit eines Genozids zu warnen, bevor er geschieht, anstatt ihn zu verurteilen, wenn es zu spät ist.

Seit der Beginn der Operation der israelischen Armee im Gazastreifen ist die Zahl der getöteten Zivilist*innen stetig gestiegen. Obwohl die IDF anfänglich schneller vorangekommen sind, als erwartet, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich in Gaza festfahren, sehr hoch und die Hisbollah nutzt diese Gelegenheit, um ihre Angriffe im Norden zu verschärfen. Dies könnte dazu führen, dass Israel neben einer militärischen auch mit einer wirtschaftlichen Krise konfrontiert sein wird, da hunderttausende Männer und Frauen im Reservedienst anstatt an ihrem Arbeitsplatz sind und die internationale Unterstützung rasch schwindet.

Es braucht eine politische Lösung des Konflikts

Obwohl es wünschenswert wäre, die Hamas als politischen und militärischen Hegemon in Gaza zu beseitigen, ist es unsicher, ob Israel in der Lage sein wird, sie vollständig „mit der Wurzel zu entfernen“, was das erklärte Hauptziel des Krieges ist. Die Hamas ist nicht nur eine militante Organisation, die, um politische Ziele zu erreichen, Terror gegen Zivilist*innen anwendet, sondern auch eine soziale Organisation, die die gesamte Infrastruktur Gazas steuert: Schulen, Gesundheitsdienste und die Strafverfolgung. Auch wenn die Hamas aus Gaza vertrieben wird, wie die PLO aus Beirut 1982, verfolgt die israelische Regierung keinen Plan für danach. Wer würde die Macht im Gazastreifen übernehmen? Die Israelis haben kein Interesse daran, sich um das Gebiet zu kümmern. Selbst wenn sie es wie in der Vergangenheit versuchen würden, werden sie langfristig nicht dazu in der Lage sein. Ägypten ist nicht daran interessiert, eine direkte Verantwortung für den Gazastreifen zu übernehmen. Und die Palästinensische Autonomiebehörde ist von Israel dermaßen geschwächt worden und würde in Gaza als Handlanger Israels gesehen werden. Das Land scheint also keinen politischen und einen sehr gefährlichen militärischen Plan zu verfolgen. Israel hat sich diese Situation selbst zuzuschreiben: wegen Netanjahu, aber auch wegen der militärischen Führung.

Der einflussreiche preußische Militärwissenschaftler Carl von Clausewitz schrieb vor fast zweihundert Jahren, Krieg sei eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Krieg ohne klar formulierte politische Ziele wird zum absoluten Krieg, also zu einem Krieg der Zerstörung und Vernichtung. Wenn die IDF sich bei der Invasion des Gazastreifens strikt an die Regeln der Genfer Konventionen von 1949 und ihren Zusatzprotokollen gehalten hätte, wäre ein militärischer Fortschritt wahrscheinlich äußerst schwierig gewesen. Dieser Kurs wurde nicht eingeschlagen und der Beweislage zufolge, hat das Militär gegen dieses auch von Israel unterzeichnete Abkommen, empfindlich verstoßen. Es ist also nicht verwunderlich, dass die internationale Kritik an dem israelischen Vorgehen wächst und auch die Unterstützung der USA schwindet. Dies wird sich letztlich auch in den Reaktionen und dem Handeln der amerikanischen Regierung zeigen. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma besteht darin, klarzustellen, dass Israel politische Ziele verfolgt: eine friedliche Verhandlungslösung des Konflikts mit einer geeigneten palästinensischen Führung, die den nötigen politischen Willen hierfür mitbringt. Eine solche Erklärung würde die Situation augenblicklich verändern und vor Ort den Weg für vermittelnde Schritte ebnen. Dem Töten Einhalt zu gebieten, und die überlebenden Geiseln freizulassen, wäre ein erster Schritt.

Mit der aktuellen Regierung erscheint ein solcher politischer Kurs jedoch momentan schwer vorstellbar, ist sie doch ebenso extrem wie inkompetent. Die Rhetorik in Israel ist aufgeladen, selbst unter einigen von dem Massaker am 7. Oktober entsetzten, linken Kommentator*innen. Daher ist es zum jetzigen Zeitpunkt entscheidend, moralischen Druck auf die israelischen Politiker*innen und die Öffentlichkeit auszuüben, um eine weitere Vorgehensweise, die Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ethnische Säuberungen und sogar Genozid nach sich ziehen könnte, zu verhindern.

In den Jahrzehnten, die auf den zweiten Weltkrieg und den Sieg über Nazismus und Faschismus folgten, warfen Historiker*innen und andere Intellektuelle ihren Vorgänger*innen oft vor, ihnen habe der Mut gefehlt, sich gegen ihre Regierung und die öffentliche Meinung aufzulehnen. Sie hätten es versäumt, vor dem zu warnen, was sich so klar vor ihren Augen abzeichnete. Als Historiker und Holocaust-Forscher habe ich das United States Holocaust Memorial Museum in Washington, D.C. sowie Yad Vashem in Jerusalem aufgefordert, in vorderster Reihe mit denen zu stehen, die vor Verletzungen der Menschenrechte und des internationalen Rechts warnen, die derzeit von israelischen Politiker*innen, der militärischen Führung, TV-Moderator*innen und in den sozialen Medien legitimiert werden. Ich habe die, die sich der Erforschung und dem Gedenken des Holocausts widmen, mit Dringlichkeit gebeten, vor der menschenverachtenden Rhetorik Israels gegenüber der Bevölkerung Gazas zu warnen, da diese buchstäblich nach deren Auslöschung ruft. Ich habe sie auch aufgefordert, die Gewalteskalationen von aufgehetzten Siedlern und Truppen der IDF im Westjordanland zu verurteilen, die zu ethnischer Säuberung unter dem Deckmantel des Gaza-Kriegs neigen. Doch bisher hören wir nur Schweigen von diesen Wissenschaftler*innen.

Toxische Diskurse verhindern echten Austausch

Auch die gegenwärtige Atmosphäre an amerikanischen Universitäten ist hinsichtlich des Konflikts zwischen Israel und Palästina besorgniserregend. Einige selbsternannte Linke und Palästina-Unterstützer*innen haben eine Lobrede auf die abscheulichen Massaker der Hamas gehalten und das Recht des Landes auf Selbstverteidigung zum Schutz seiner Bürger*innen – indem Israel die Hamas angreift, die sich im dicht besiedelten Gazastreifen versteckt hält – zurückgewiesen. Andere haben auffallend wenig Empathie für die Hunderten von jüdischen Opfern und Geiseln gezeigt. In der Tat erwähnen die, die Israels Bombardierung von Gaza verurteilen, den Angriff vom 7. Oktober häufig noch nicht einmal.

Umgekehrt fühlen sich Unterstützer*innen Israels, zumeist Jüdinnen und Juden, von ihren liberalen Kolleg*innen verraten, die keine Empathie für die Opfer des 7. Oktobers zeigen. Sie stehen der immensen Zerstörung durch die IDF in Gaza möglicherweise zwiegespalten gegenüber, weigern sich jedoch im Allgemeinen die tieferliegenden politischen Ursachen für diese Situation zu erkennen. Häufig bedienen sie sich der Klischees, die in Israel allzu bekannt sind: von palästinensischer, arabischer und muslimischer Barbarei und von ewigem und allgemeingültigem Antisemitismus, den sie auch ihren liberalen Kolleg*innen attestieren.

Dem Anschein nach fehlt ein Austausch zwischen diesen Gruppen, die beide ja nicht unmittelbar von der Gewalt betroffen sind; stattdessen spiegeln sie dieselbe Kommunikationsunfähigkeit wider, die für die Region selbst so kennzeichnend ist. Seit den letzten Ausbrüchen der Gewalt hat der allgemeine akademische Hang, sich ohne wirklichen Einsatz hinter die gerechte Sache zu stellen, eine erbärmliche Form der Selbstgerechtigkeit also, einen neuen Höhepunkt erreicht. Einige Professor*innen scheinen es zu bevorzugen, Ärger und Wut zu schüren, anstatt ihren Student*innen die komplexen Realitäten der Region näherzubringen. Währenddessen finden die Universitätspräsident*innen, auch meiner eigenen Universität, Ausflüchte, da sie Angst haben ihre Geldgeber*innen oder die ein oder andere Seite der Dozent*innen oder Student*innen vor den Kopf zu stoßen, womit sie im Endeffekt niemanden gerecht werden. Es ist ein trostloses Schauspiel.

Der Weg aus dem Konflikt

Der Weg aus diesem Konflikt zurück zur Politik könnte mit Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln beginnen, so wie es momentan der Fall zu sein scheint. Das Argument, es könne die Hamas und andere ermutigen, die Geiseln weiter festzuhalten oder weitere Geiseln zu nehmen, wenn man die militärische Strategie an die Geiseln koppele, ist in mehrfacher Hinsicht falsch. Erstens ist es offensichtlich, dass die Hamas die Geiseln gegen eigene Gefangene austauschen will, denn viele von ihnen sind betagt und seit Jahrzehnten in israelischen Gefängnissen eingesperrt. Andere hingegen sind noch sehr jung. Zweitens ist es undenkbar, dass Israel das Schicksal der Geiseln – darunter ältere und kranke Menschen, Kinder und sogar Babys – einfach ignorieren wird. Die Verzögerung der Verhandlungen weist die israelische Regierung jedoch als kaltschnäuzig aus und das hat sich bereits auch in anderen Bereichen gezeigt.

Die Stellungnahmen einiger Militärs und anderer Beobachter*innen, wonach die Geiselproblematik erst angegangen werden sollte, wenn der Krieg beendet ist – zu diesem Zeitpunkt wären die meisten Geiseln sehr wahrscheinlich bereits tot – sind ungemein entmutigend für die Angehörigen und die gesamte israelische Bevölkerung und ganz besonders für die vielen Familien, deren Söhne und Töchter einberufen worden sind und Gefahr laufen, in Gefangenschaft zu geraten. Selbst für diese besonders herzlose und inkompetente Regierung ist eine solche Politik unmenschlich und dumm. Alles muss unternommen werden, um die Geiseln sofort zu befreien. Diese Bemühungen könnten auch in anderen Bereichen des Konflikts den Beginn der Verhandlungen markieren, anstatt als Niederlage angesehen zu werden.

Trotz der erschreckenden Gewalt und der zerstörerischen Unnachgiebigkeit auf beiden Seiten und ihren jeweiligen Unterstützer*innen muss das Ziel eine Friedensregelung sein. In den Gebieten zwischen dem Jordan und dem Meer leben ebenso viele Jüd*innen wie Palästinenser*innen. Keine der beiden Gruppen wird einfach verschwinden. Entweder können sie sich gegenseitig umbringen oder einen Weg finden, miteinander zu leben. Das muss das Ziel sein. All die Träumereien, eine Seite zu beseitigen oder sie von Generation zu Generation zu unterdrücken, wird nur zu noch mehr Gewalt und Brutalität auf beiden Seiten führen. Ein Paradigmenwechsel kann bereits herbeigeführt werden, indem man den Willen bekundet, sich zu einigen. Wenn das Töten weitergeht, wird das die Dinge nur verschlimmern. Weder ein interner Staatsstreich noch außenpolitische Abkommen, wie die Beziehungen zu den Golfstaaten oder das Friedensabkommen mit Saudi-Arabien, werden etwas an der Tatsache ändern, dass eine politische Einigung zwischen Palästina und Israel notwendig ist.

Momentan haben wir keine andere Möglichkeit, als an unsere jeweiligen Regierungen zu appellieren und diesen zutiefst krisenhaften Augenblick und das schreckliche Blutvergießen als Druckmittel zu benutzen, um Israel zu zwingen, die Besatzung und Unterdrückung eines anderen Volks zu beenden und nach einer kreativen Lösung des Zusammenlebens zu suchen, die Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit für alle gewährleistet. Dies kann in zwei Staaten, in einem Staat oder in einer föderalen Struktur sein.