Da bei den bevorstehenden Wahlen faktisch keine unabhängigen Kontrollinstanzen mehr existieren, befürchten viele Tunesier*innen, dass der neue politische Fahrplan des Präsidenten praktisch ein Staatsstreich ist, der die Rückkehr zu einer autokratischen Herrschaft ankündigt.
Der von Präsident Kais Saied am 25. Juli auf den Weg gebrachte politische Fahrplan setzte die Legislative außer Kraft und stattete den Präsidenten mit außerordentlichen Vollmachten aus. Dieser Plan sah keinen Dialog mit anderen politischen Akteur*innen oder der Zivilgesellschaft vor, stattdessen organisierte Saied sich ein Referendum, welches im August zur Einsetzung einer neuen Verfassung führte.
Es folgten die Ankündigung von Parlamentswahlen am 17. Dezember und ein neues Wahlgesetz. Die Befürchtungen rund um das neue Wahlsystem, in dem mit dem Segen der Wahlkommission (ISIE) grundlegende Veränderungen eingeführt wurden, bestätigten sich. Kais Saied nutzte diese zur Legitimierung seiner Kontrolle über die verschiedenen Etappen des Wahlprozesses.
Als unabhängiges Gremium, das in der Verfassung von 2014 verankert wurde, wurde die Hohe Wahlkommission, ISIE, zum Zeichen für den demokratischen Transformationsprozess in Tunesien, und das nicht nur, weil sie symbolisch die Rolle des Innenministeriums bei der Organisation der Wahlen vor der Revolution von 2011 ersetzt hatte.
Legitimität durch ein Jahrzehnt erfolgreichen Wirkens
Die ISIE hat plötzliche Änderungen in ihrer Zusammensetzung vor wichtigen Wahlterminen (wie den Kommunalwahlen 2018) ohne sichtbare Auswirkungen auf ihren Ruf oder ihre Arbeit überstanden. Das liegt daran, dass sie auf ihrem Erfolg bei der Planung und Organisation der Wahlen von 2011 zur verfassungsgebenden Versammlung aufbauen und politische und logistische Verfahren für die Durchführung von Wahlen erfolgreich verankern konnte.
Die ISIE moderierte Diskussionen zur Überarbeitung des Wahlgesetzes bei drei verschiedenen Wahlen - Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen - mit politischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen und hat Wahlbeobachtung durch Partnerschaften mit nationalen und internationalen Akteur*innen organisiert. Sie führte auch Gespräche mit wichtigen am Wahlprozess beteiligten staatlichen Akteuren, beispielsweise mit Verwaltungs- und Finanzgerichten und die unabhängige Hohe Behörde für audiovisuelle Kommunikation (HAICA).
Trotz Kritik an einer möglichen Voreingenommenheit der Mitglieder des Rates der Wahlkommission, die parteipolitische Einflussnahme suggerierte, wurden alle Wahlergebnisse seit der Revolution von den konkurrierenden Parteien und von Nichtregierungsorganisationen weitgehend anerkannt.[1]
Doch seit 2021 nutzt Saied die ISIE, um seine politischen Entscheidungen und Handlungen vor internationaler Überprüfung abzuschirmen. Dies zeigte sich deutlich im Prozess der zur Verabschiedung der neuen Verfassung im August 2022 führte, dem ersten Referendum seit 2002 (durch das der damalige Präsident Zine El Abidine Ben Ali Verfassungsänderungen einführte, die ihm eine zeitlich unbegrenzte Herrschaft gewährten).
Dieses Verfassungsreferendum ist ein Schlüsselmoment für die Konsolidierung der autokratischen Herrschaft von Saied, da es das offizielle Ende der Verfassung von 2014 besiegelte. Die ISIE blieb als einzige Verfassungsbehörde erhalten, die in der Verfassung von 2014 festgeschrieben war, um als staatliche Institution das Referendum über den neuen Verfassungstext zu organisieren.[2]
Politiker*innen sowie andere interessierte Akteur*innen haben ihre Kritik zum Fehlen von Voraussetzungen für einen fairen und transparenten Wahlprozess zum Ausdruck gebracht, darüber hinaus zu fehlender Dialogorientierung sowie am sich verschlechternden demokratischen Umfeld und über technische und institutionelle Aspekte im Zusammenhang mit der Rolle der ISIE im Referendumsprozess.
Trotz ihres Vermächtnisses konnte sich die einst unabhängige Wahlbehörde gegen diese Flut der Machtübernahme nicht wehren: Sie wurde durch Änderungen in der Zusammensetzung der Mitglieder des Rates der ISIE von einer vom Parlament gewählten zu einer vom Präsidenten ernannten Behörde in Mitleidenschaft gezogen.
Dieser Schritt wurde mit denselben Argumenten begründet, mit denen Saied das Parlament erst einfrieren und dann schließlich auflösen ließ, indem er gleichzeitig vorschlug alles was der vorherige Gesetzgeber auf den Weg gebracht hatte, neu zu schreiben.
Die Änderung der Zusammensetzung der ISIE per Dekret war eine Fortsetzung dessen, was bereits mit dem Obersten Richter*innen-Rat geschehen war. Dieser Vorgang bestätigt, dass Saied bereit ist, die Spielregeln einseitig zu ändern, auch wenn dies die Säulen des demokratischen Transformationsprozesses in Tunesien beeinträchtigt - oder vielleicht gerade deshalb.
Der neue ISIE-Rat, dem drei vom Präsidenten benannte Mitglieder des vorherigen Rates weiterhin angehörten, geriet sofort ins Wanken, als eines der neu ernannten Mitglieder, Sami Ben Slama, möglichen Betrug bei der Wählerregistrierung und anderen Entscheidungen des Rates zur Vorbereitung des Referendums anprangerte.
Ben Slama's Mitgliedschaft wurde durch Entscheidung der anderen Ratsmitglieder beendet. Er muss sich nun vor Gericht wegen seiner Anschuldigungen verantworten. Trotz Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Rates und trotz Unterdrückung jeglicher Verfahrenskritik aus den eigenen Reihen, bestand letztendlich Konsens, das Recht auf freie Meinungsäußerung und politische Beteiligung von Gegner*innen des Referendums zu begrenzen.
Selbst ISIE-Mitglieder griffen sowohl politische Akteure an, die öffentlich zu einem Boykott aufriefen, als auch Medien, die über deren Aktivitäten berichteten. Sie forderten derlei Handlungen als Straftaten zu betrachten und mit Gefängnisstrafen zu ahnden.
Die Änderung des Wahlrechts ohne ordnungsgemäßes Verfahren
Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Parlamentswahlen im Dezember anders organisiert werden würden als das Referendum im Juli. Die ISIE ermöglichte es Saied, das Wahlgesetz zu ändern, ohne dass die Öffentlichkeit oder organisierte politische und zivile Strukturen in irgendeiner Form beteiligt wurden. Obwohl Parteien die Said unterstützen, wie die Volksbewegung (Harakat El Cha'ab), erklärten, sie hätten dem Präsidenten schriftliche Vorschläge unterbreitet, behauptete die ISIE, dass lediglich zwischen ihr selbst und Saied eine Diskussion über den Entwurf des Wahlgesetzes stattgefunden habe und dass Änderungen allein auf der Grundlage von Empfehlungen der ISIE vorgenommen worden seien.
Angesichts der begrenzten Transparenz des Prozesses deuten die spärlichen Informationen aus den Quellen des ISIE-Sprechers darauf hin, dass die Empfehlungen ausschließlich technischer Natur gewesen seien. Das lässt darauf schließen, dass die Aspekte, die öffentlich als eine Form der partizipativen Gesetzgebungsgestaltung dargestellt wurden, in Wirklichkeit eine rein technische Konsultation darstellen.
Das Wahlgesetz wurde auch von politischen Parteien kritisiert, die Saieds Machtübernahme (auch „Kurs des 25. Juli“ genannt) unterstützten. Die Kritik bezog sich z. B. auf Maßnahmen wie die Unterschriftenbeibringung von 400 Unterstützer*innen (parrainage-System) als Teil der Anforderungen für eine Kandidatur, auf die Neufestlegung der Wahlbezirke, die Aussetzung der öffentlichen Finanzierung von Wahlkampagnen und die Entfernung aller Hinweise auf die Parteizugehörigkeit von Kandidat*innen. Einige Akteure gingen so weit, mit einem Wahlboykott zu drohen, da sie behaupteten, die Änderungen am Wahlgesetz würden zeigen, dass Saied „seinen eigenen Staat, seine eigenen Leute und seine eigenen Institutionen“ installieren wolle.[3]
Die Kritik nahm an Fahrt auf und bezog sich über den Rechtsrahmen hinaus auch auf die Rolle der ISIE und ihre Arbeit, die nunmehr auch Auswirkungen auf die Erfolgschancen bestimmter Kandidat*innen hatte. Die ISIE nahm sich die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, die zwar „legal“ waren, aber eindeutig die Integrität des Wahlprozesses beeinträchtigen. Dazu gehört die Verlängerung der Anmeldefrist für eine Kandidatur um drei Tage, die am ursprünglich festgelegten letzten Tag, dem 24. Oktober, verkündet wurde. Der zuvor am 24. September 2022 veröffentlichte Wahlkalender wurde damit nicht eingehalten. Obwohl die ISIE darlegte, die Fristverlängerung diene weiterer politischer Beteiligungsmöglichkeiten, waren im Ergebnis dennoch in 10 Wahlbezirken keine Kandidat*innen registriert worden. Die ISIE eröffnete darüber hinaus die Möglichkeit, die Wählerregistrierung noch nach Einreichung von Kandidaturen zu ändern. Das resultierte im Ausschluss von Kandidat*innen und zum Verlust von Unterstützer*innen-Stimmen und ließ große Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen auf die Wahlergebnisse aufkommen.
Saieds Entscheidung, die ISIE trotz der Auflösung anderer Verfassungsinstitutionen beizubehalten, erweckte zunächst den Eindruck, dass der Wahlprozess durch ein unabhängiges Gremium organisiert werden würde. Inzwischen besteht jedoch kaum noch ein Zweifel daran, dass die Unabhängigkeit der ISIE eine Fata Morgana ist, die durch eine von Saied als Modus Operandi eingesetzte Illusion von Formalität erzeugt wird.
Ein beliebtes tunesisches Sprichwort sagt, „eine Hand wäscht die andere“. Unter den gegebenen Umständen ist es schwer vorstellbar, dass irgendeine weitere Institution, die unter der gegenwärtigen autokratischen Herrschaft Saieds erhalten oder neu geschaffen würde, ein anderes Schicksal erführe.
Dieser Artikel erschien zuerst am 12 Dezember 2022 auf Englisch bei Kalam, Chattham House
[1] Moncef Marzouki, der erste Präsident Tunesiens im Jahr 2011 und Kandidat bei den Wahlen 2014, äußerte Bedenken hinsichtlich eines möglichen Wahlbetrugs bei den Präsidentschaftswahlen 2014. (Quelle)
[2] In der Verfassung von 2014 waren fünf Verfassungsorgane vorgesehen, und die ISIE war die einzige, die vollständig arbeitsfähig war (mit Rechtstext und Wahl der Mitglieder). Zwei weitere Behörden (de INLUCC zur Korruptionsbekämpfung und die HAICA zur Aufsicht der audiovisuellen Medien) wurden 2011 vorübergehend eingerichtet, wobei erstere von Saied suspendiert und letztere (HAICA) politisch marginalisiert wurde, was der Wahlprozess gezeigt hat.