Während mehr als tausend Kandidaten ins neugestaltete tunesische Parlament einziehen wollen, geht es doch in erster Linie um ein Ja oder Nein zum politischen Projekt des Präsidenten. Sarah Mersch über die Hintergründe der am Samstag stattfindenden Parlamentswahl.
Knapp anderthalb Jahre ist es her, dass Tunesiens Präsident Kais Saied den Notstand ausgerufen und nach und nach immer mehr Befugnisse an sich gerissen hat. Am 17. Dezember, dem symbolträchtigen Jahrestag der Selbstverbrennung Mohamed Bouazizis, der im Winter 2010/2011 zunächst in Tunesien und später in einer Reihe weiterer arabischer Länder Proteste und Revolten gegen autoritäre Herrscher ausgelöst hatte, sind die Tunesier*innen nun aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen.
Zum ersten Mal gilt dabei die neue Verfassung, die im Juli 2022 in einem Referendum verabschiedet wurde. Die Parlamentswahlen sind dabei ein weiterer wichtiger Schritt im Fahrplan des Präsidenten, der angetreten ist, das politische System des Landes zu reformieren. Seine Anhänger*innen erhoffen sich von den politischen Reformen mehr Teilhabe an politischen und wirtschaftlichen Prozessen und Kampf gegen die grassierende Korruption. Kritische Stimmen sehen die demokratische Entwicklung Tunesien des letzten Jahrzehnts in Gefahr. Saied sei zum Alleinherrscher mutiert, der die Gewaltenteilung aufgeweicht habe, und die Wahlen dienten, ähnlich wie das vorangegangene Referendum, nur dazu, seinem persönlichen Projekt einen demokratischen Anstrich zu verpassen.
Tunesien Staatsoberhaupt hatte nie mit Kritik an der 2014 verabschiedeten Verfassung, den politischen Parteien und am semi-parlamentarischen System des Landes gespart, weder vor noch nach seiner Wahl zum Präsidenten im Herbst 2019. Allerdings waren sowohl die meisten Tunesier*innen als auch internationale Beobachter*innen davon ausgegangen, dass die Änderung der Verfassung auf seine Initiative hin nur eine theoretische Option sei. Dafür hätte es eigentlich einer vorherige Prüfung des (auch nach Jahren Verzögerung nicht existierenden) Verfassungsgerichts sowie einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament bedurft. Über diese verfügte der parteilose Präsident jedoch nicht.
Neue Verfassung, neue politische Architektur
Diese Situation hat sich grundsätzlich geändert, als Kais Saied am 25. Juli 2021 in einem juristisch fragwürdigen Schritt den Notstand ausgerufen hatte. Damals reagierten weite Teile der Bevölkerung erleichtert, denn Tunesien steckte in einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise, in der sich Parlament, Regierung und Präsident gegenseitig blockierten. Diese hat sich seitdem allerdings keineswegs entschärft, auch wenn Kais Saied das Parlament aufgelöst, eine neue Regierung eingesetzt hat und seitdem per Dekret regiert. Bei den Wahlen wird nun zum ersten Mal wieder ein gesetzgebendes Gremium gewählt, was die Situation zumindest formell teilweise verändern wird.
Fast 95 Prozent der Wählerinnen und Wähler hatten im Juli für die neue Verfassung gestimmt, die Präsident Saied offenbar im Wesentlichen alleine geschrieben hatte. Doch nur rund ein Drittel der mehr als neun Millionen Wahlberechtigten hatten überhaupt abgestimmt. Das sind eine Million Menschen weniger als bei der Präsidentschaftswahl im Herbst 2019, als Kais Saied mit fast drei Viertel der Stimmen ins Amt gewählt wurde.
Eine Umfrage eines tunesischen Meinungsforschungsinstituts ergab, dass es den meisten Befürwortern*innen der Verfassung beim Referendum gar nicht in erster Linie um den Text selbst ging. Je ein Viertel sahen in ihrem Votum eine Stimme für Kais Saied oder für eine Verbesserung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation des Landes. Nur 13 Prozent gaben an, in erster Linie abgestimmt zu haben, weil sie von der neuen Verfassung überzeugt seien. Diese sieht im Vergleich zum 2014 verabschiedeten Text, der von einer gewählten Verfassungsversammlung erarbeitet worden war, ein grundsätzlich anderes politisches System vor.
Der Text räumt dem Präsidenten weitreichende Befugnisse ein. Kritiker*innen sprechen von einem autoritären, hyper-präsidentiellen System. Effektive Kontrollmechanismen gegen den Präsidenten oder gar ein Amtsenthebungsverfahren durch das Parlament sind in dem neuen Text nicht vorgesehen.
Dieses neue Parlament soll in Zukunft aus zwei Kammern bestehen. Mit der zweiten Kammer, der sogenannten Versammlung der Regionen, setzt der Präsident seine Vorstellung der Basisdemokratie um, die bereits im Wahlkampf 2019 eine seiner zentralen Forderungen war. Aus lokalen Versammlungen werden dabei Volksvertreter*innen jeweils in die nächsthöchste Regionalinstanz gewählt bis hin zur zweiten Parlamentskammer. So soll mehr Teilhabe der verschiedenen Landesteile garantiert werden. Gewählt wird jetzt zunächst allerdings nur die erste der beiden Kammern.
Eine wirkliche Gewaltenteilung gibt es in der Verfassung nicht mehr. Legislative und Judikative werden im neuen Verfassungstext nur noch als „Funktionen“, nicht mehr als Gewalten gesehen.
Während weite Teile der Artikel zu Rechten und Freiheiten aus der Verfassung von 2014 übernommen wurden, die unter Mitwirkung der muslimisch-konservativen Ennahdha-Partei entstanden war, gibt es eine entscheidende Ausnahme: der weltliche Charakter des Staates wird nicht mehr explizit erwähnt. Stattdessen wird es diesem alleine zugeschrieben, die „Ziele des Islam“ umzusetzen. Ein Artikel, der Kritiker*innen in Tunesien alarmiert hat, die dadurch die Einführung religiöser Rechtsprechung durch die Hintertür fürchten.
Hinzu kommen Einschränkungen für Tunesier und Tunesierinnen mit einer zweiten Staatsangehörigkeit. Sie dürften keine politischen Ämter mehr übernehmen. Um Präsident zu werden, muss die tunesische Staatsbürgerschaft sogar bis zu den Großvätern nachgewiesen werden.
Bedeutung von Parteien eingeschränkt
Aus der neuen Verfassung und einer Änderung des Wahlrechts ergeben sich eine Reihe von Änderungen in Hinblick auf die Wahlen. Das neue Wahlrecht schließt eine Reihe von Personen von vorneherein aus, zum Beispiel Menschen, die im vorangegangen Jahr Vorsitzende von Vereinen waren oder bestimmte andere politische Posten innehatten. Dies soll die Unabhängigkeit der Volksvertreter*innen garantieren und sie vor unlauterer Einflussnahme schützen.
Für die jetzt zu wählende erste Kammer wurde das Wahlverfahren grundsätzlich geändert. Anstelle von unabhängigen oder Parteilisten werden die 161 Abgeordneten nun direkt gewählt, jeweils eine*r pro Wahlkreis. Diese dürfen zwar Parteimitglieder sein, treten jedoch individuell an. Parteilogos und -namen tauchen auf den Stimmzetteln nicht mehr auf. Da die wesentlichen größeren Parteien nach dem Referendum auch die Parlamentswahl boykottieren, gibt es allerdings bei den aktuellen Wahlen im Dezember bis auf die Mitglieder der panarabistisch-nationalistischen Echaab-Bewegung auch kaum Kandidat*innen mit Parteibuch.
Die Abschaffung der Listenwahl wird neben der bewussten Schwächung der Parteien noch eine zweite entscheidende Änderung mit sich bringen: Der Frauenanteil im neuen Parlament wird signifikant niedriger sein als früher. Denn früher mussten die Listen jeweils paritätisch und abwechselnd mit Männern und Frauen besetzt werden, so dass gerade die größeren Fraktionen, die mehrere Sitze pro Wahlkreis gewinnen konnten, einen hohen Anteil an Frauen in ihren Reihen zählten. Dies fällt nun weg. Außerdem sind bei den diesjährigen Parlamentswahlen sowieso nur rund 15 Prozent der Kandidat*innen Frauen.
Verhaltener Wahlkampf, verunsicherte Medien
Die hohen Hürden für die Kandidatur, bei der unter anderem jede*r Kandidat*in 400 Unterschriften aus dem eigenen Wahlkreis vorlegen musste, sorgten dafür, dass eine Reihe von Kandidaturen von der Wahlbehörde ISIE zurückgewiesen wurden. In sieben Wahlkreisen für Auslandstunesier*innen gibt es daher keine einzige Kandidatur, in zehn weiteren Wahlkreisen, vor allem im Großraum Tunis, nur einen einzigen Kandidaten, der unabhängig von der Anzahl der für ihn abgegebenen Stimmen gewählt ist. Somit werden zunächst mehr als zehn Prozent der 161 Sitze gar nicht oder nicht durch eine Wahl zwischen mehreren Bewerber*innen besetzt sein. Strikte Regelungen zur Finanzierung des Wahlkampfs würden darüber hinaus finanziell besser gestellte Kandidat*innen mit großem Netzwerk und nicht unbedingt unabhängigen Bewerber*innen bevorzugen, so Kritiker*innen.
Der neu vorgenommene Zuschnitt der Wahlkreise führt darüber hinaus dazu, dass die Zahl der Bürger*innen, die durch einen Sitz in der ersten Kammer vertreten sein werden, massiven Schwankungen unterliegt. Während in einzelnen Wahlkreisen auf einen Sitz rund 15 000 potentielle Wählerstimmen kommen, sind es in anderen bis zu 90 000. Welche Kriterien beim Zuschnitt der Wahlkreise angelegt wurden, ist unklar.
Unterdessen findet der Wahlkampf in der Öffentlichkeit kaum ein Echo. Ohne große finanzielle Mittel und mit strengen Auflagen zur Wahlkampffinanzierung sind die meisten Kandidat*innen kaum präsent.
Ein Konflikt zwischen der unabhängigen Medienaufsichtsbehörde HAICA und der Wahlbehörde ISIE, deren Mitglieder seit einer Gesetzesänderung direkt vom Präsidenten ernannt werden, führt außerdem dazu, dass viele Medien verunsichert sind, welche Regelung für die Wahlkampfberichterstattung gelten.
Während HAICA und ISIE früher gemeinsame Regeln veröffentlicht hatten, die dazu dienen sollten, dass keine unlautere Propaganda verbreitet und die Öffentlichkeit ausgewogen informiert wurde, hat dieses Mal jede Institution eigene Regeln aufgestellt. So verbietet die ISIE zum Beispiel unter Androhung strafrechtlicher Verfolgung den Kandidat*innen, mit ausländischen Medien zu sprechen.
Überregionale tunesische Medien müssen unter notarieller Aufsicht auslosen, welche Kandidat*innen in ihren Programmen zu Wort kommen dürfen, wenn sie nicht alle der mehr als tausend Kandidierenden interviewen wollen. Dies führt dazu, dass viele Medien sich um Problemen aus dem Weg zu gehen, auf ein Minimalmaß an grundsätzlichen Informationen zu den Wahlen beschränken. Die Medienaufsicht hat unterdessen gegen die Wahlbehörde ein Verfahren wegen Kompetenzüberschreitung angestrengt.
Das eigentliche Interesse gilt der Wahlbeteiligung
Bis das neu gewählte Abgeordnetenhaus seine Arbeit aufnehmen kann wird es noch einige Wochen oder gar Monate dauern. Voraussichtlich wird es in mehreren Wahlkreisen zu einem zweiten Wahlgang und möglicherweise Einsprüchen gegen Teilergebnisse kommen. Vor März wird daher das Parlament wahrscheinlich nicht zusammentreten können. Außerdem werden in den Auslandswahlkreisen ohne Kandidierende voraussichtlich im Verlaufe des kommenden Jahres Nachwahlen durchgeführt werden. Bis die neugewählten Volksvertreter*innen die parlamentarische Arbeit organisiert, eine Geschäftsordnung verabschiedet und die mutmaßlich völlig heterogenen einzelnen Abgeordneten Fraktionen gebildet haben, kann es Herbst werden, schätzen Beobachter*innen.
Offen ist nach wie vor, wann und nach welchen Kriterien die zweite Kammer des Parlaments gewählt und wie sich die Zusammenarbeit zwischen den beiden Kammern in Zukunft gestalten wird. Turnusmäßig stehen 2023 außerdem zum zweiten Mal nach der Revolution in Tunesien Kommunalwahlen an, sollte das derzeitige System der kommunalen Strukturen beibehalten werden. Unklar ist auch, wie sich die neue Verfassung auf das Mandat des Präsidenten auswirkt. Während Kais Saied sich bis jetzt nicht geäußert hat, ob er sein Mandat von 2019 bis 2024 regulär zu Ende führen wird, argumentieren Analyst*innen, dass er eigentlich mit dem Inkrafttreten der neuen politischen Ordnung sein Amt hätte zur Verfügung stellen und Neuwahlen ansetzen müssen. Auch nach der neuen Verfassung darf der Präsident maximal zwei Amtszeiten regieren.
Angesichts der schon beim Referendum im Juli vergleichsweise niedrigen Wahlbeteiligung wird sich auch bei den Parlamentswahlen der Blick der Beobachtenden vor allem darauf richten, wie viele Tunesier*innen ihre Stimme abgeben werden. Dies wird entscheidend dafür sein, welche Legitimität das Parlament an sich, aber auch der Präsident für sein politisches Projekt beanspruchen kann. Wie schon beim Referendum handelt es sich also vor allem um eine Abstimmung für oder gegen Kais Saied und den von ihm eingeschlagenen Weg. Die unmittelbaren Auswirkungen der Wahlen auf den Alltag der Bevölkerung, die zunehmend unter der desolaten wirtschaftlichen Situation leidet, dürften hingegen zunächst gering sein.