Ein harter Wahlkampf und ein unübersichtliches Bewerberfeld bestimmen die Präsidentschaftswahlen in Tunesien. Mehrere Kandidat/innen können sich Hoffnungen auf den Einzug in die Stichwahl machen. Auf dem Spiel steht nicht nur die zukünftige politische Ausrichtung des Landes, sondern möglicherweise auch seine Staatsform. Tunesien ist die große Hoffnung der Region. Es ist das einzige Land, in dem auf den „Arabischen Frühling“ eine demokratische Regierung folgte.

Eigentlich hätten die Tunesier/innen erst im November einen neuen Präsidenten gewählt, doch der unerwartete Tod von Präsident Beji Caid Essebsi Ende Juli vor Ablauf seiner Amtszeit hat den Kalender durcheinandergebracht. Statt nach den Parlamentswahlen Anfang Oktober wird das neue Staatsoberhaupt nun bereits am 15. September gewählt. Entsprechend konzentriert sich die öffentliche Debatte in Tunesien vor allem auf Köpfe, weniger auf Programme. „Es hat doch niemand ein richtiges Programm, nicht mal Ennahdha“, donnerte Kandidat Abdelfattah Mourou, über seine eigene muslimisch-konservative Partei. Er ist einer der 26 Kandidaten und Kandidatinnen, der sich gewisse Chancen auf die Stichwahl ausrechnen kann, die voraussichtlich zwischen Ende September und Mitte Oktober stattfinden wird.
Wirtschaftlicher Aufschwung als Wahlkampfthema
Ganz oben auf der Liste der Themen, die die Wähler/innen bewegen, steht die wirtschaftliche Situation des Landes. Nach dem politischen Umbruch 2011 eingebrochen, hat sie sich bis heute nicht erholt. Zwar hat sich der tunesische Dinar in den letzten Monaten etwas stabilisiert und der Tourismus wieder deutlich Zuwächse verbuchen können, doch eine Reihe anderer Indikatoren bereiten den Tunesier/innen sorgen. Während die Inflationsrate sich seit Monaten zwischen 6,5% und 7% bewegt, hat das Haushaltsdefizit im ersten Halbjahr 2019 mit 2,4 Milliarden Dinar (rund 772 Millionen Euro) einen neuen Negativrekord erreicht.
Doch die Wirtschaft liegt eigentlich nicht in der Zuständigkeit des Präsidenten, genauso wenig wie eine Reihe weiterer Themen, die derzeit diskutiert werden. Denn das tunesische semi-parlamentarische System hat die Rechte des Präsidenten deutlich eingeschränkt, um zu verhindern, dass sich wie vor 2011 ein autoritärer Herrscher an der Spitze des Landes festsetzt. Der Staatspräsident gibt die Leitlinien der Außen- und Verteidigungspolitik vor, alles andere ist Aufgabe des Premierministers. Dieser wird zwar vom Präsidenten offiziell vorgeschlagen, allerdings vom Parlament gewählt. Einzig über Gesetzesinitiativen, die der Präsident vorschlagen kann, hat er die Möglichkeit, Akzente zu setzen. Darüber hinaus hat er vor allem ein moralisches Gewicht, kann verhandeln und im besten Fall das oft zersplitterte tunesische Parlament auf einen gemeinsamen Weg bringen.
Das Erbe der Revolution – ein Wahlkampfthema?
Der verstorbene Präsident Essebsi hat sich zu seiner Amtszeit oft laut zu Wort gemeldet und sich in die Tagespolitik eingemischt. Er hat seinen Einfluss jedoch kaum dazu genutzt, die Anliegen der Revolution zu unterstützen und demokratische Reformen und die weitere Umsetzung der Verfassung von 2014 voranzutreiben. So gibt es zum Beispiel bis heute kein Verfassungsgericht, das eigentlich bereits seit vier Jahren im Amt sein sollte.
Kandidaten wie der unabhängige Juraprofessor Kais Saied werben daher ganz gezielt mit dem Versprechen, im Falle ihres Wahlsiegs die Forderungen der Revolution endlich umzusetzen. Andere versprechen wirtschaftlichen Aufschwung und die Unterstützung armer Bevölkerungsschichten. Die einzige Frau, die ein nennenswertes Ergebnis erreichen könnte, ist Abir Moussi, glühende Anhängerin des ehemaligen Herrschers Ben Ali. Mit ihrem Versprechen, Recht und Ordnung in Tunesien wiederherzustellen, spricht sie einen Teil der tunesischen Mittelschicht an. Auch wenn sie sich Frauenrechte auf die Fahnen schreibt, geht es ihr de facto darum, in dieser Hinsicht den status quo zu bewahren. Weitreichende Neuerungen wie zum Beispiel die gesellschaftlich umstrittene Reform des Erbrechts sind für sie keine Priorität.
Kandidat/innen für die Präsidentschaftswahlen
Zersplitterte Parteienlandschaft
Unter den 24 Kandidaten und zwei Kandidatinnen fällt vielen Tunesiern und Tunesierinnen die Wahl schwer, weil sie ihnen grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. Das Vertrauen in Politiker/innen und staatliche Instanzen ist auch knapp neun Jahre nach dem politischen Umbruch und dem Ende der Diktatur gering, denn die Revolutionsrendite ist für die meisten Bürger/innen bis jetzt ausgeblieben. Für viele zählt daher vor allem, ob die Kandidat/innen vertrauenswürdig sind.
Mindestens ein halbes Dutzend der Kandidat/innen kann sich Chancen auf die Stichwahl ausrechnen, denn es ist höchst unwahrscheinlich, dass ein/e Kandidat/in bereits im ersten Wahlgang mehr als die Hälfte der Stimmen auf sich vereinen kann. Da es keine zuverlässigen Umfragewerte im Vorfeld der Wahl gibt, sind Prognosen entsprechend schwierig. Darüber hinaus ist die politische Landschaft gespaltener denn je. Allein aus dem bürgerlichen Lager um die ehemals stärkste Kraft Nidaa Tounes treten sieben Kandidaten an, die sich gegenseitig die Stimmen wegnehmen. 2012 von Beji Caid Essebsi als Sammlungsbewegung gegen Ennahdha gegründet, hatte die Partei im Parlament 2014 noch die größte Fraktion gestellt. Doch inhaltliche Auseinandersetzungen und Querelen um Essbsis Sohn Hafedh, der den Parteivorsitz übernommen hat, haben dazu geführt, dass Nidaa Tounes in Einzelteile zersplittert ist. Neben Abdelfattah Mourou kandidieren außerdem drei weitere Kandidaten aus dem muslimisch geprägten Parteienspektrum, darunter zwei ehemalige Ennahdha-Mitglieder. Und auch der linke Parteienverbund Front Populaire ist kurz vor den Wahlen zerbrochen und tritt mit zwei Kandidaten an. Angesichts dieser unübersichtlichen Lage ist es schwierig vorauszusehen, ob Präsident und Regierung aus dem gleichen Lager kommen, oder ob sich bei den beiden Wahlgängen unterschiedliche Fraktionen durchsetzen können. Nach wie vor offen ist außerdem, ob die Stichwahl vor oder nach den Parlamentswahlen am 6. Oktober stattfinden wird und wie sich die Ergebnisse gegenseitig beeinflussen.
Die zunehmende Zersplitterung der Parteienlandschaft hat auch im Parlament zu einem regelrechten „Fraktionstourismus“ geführt, bei dem Abgeordnete oft mehrfach innerhalb der vergangenen Legislaturperiode Partei und oder Fraktion gewechselt haben. Daher fordern mehrere Kandidat/innen eine Reform des politischen Systems. Denn so wie bisher sei es quasi unmöglich, stabile Mehrheiten zu bilden und das Regierungsprogramm auch umzusetzen. Während einige Kandidat/innen die Reform des Wahlrechts und die Einführung einer 3%-Hürde fordern, möchte Verteidigungsminister Abdelkrim Zbidi, der als unabhängiger Kandidat antritt, in einer Volksabstimmung die Wähler/innen zwischen einem parlamentarischen oder präsidialen System abstimmen lassen. Andere fordern gleich die Rückkehr zu einem Präsidialsystem mit einem starken Mann an der Spitze. Eine Aussicht, die vor allem der starken Zivilgesellschaft Sorge bereitet, die den Rückfall in autoritäre Strukturen fürchtet.