Dekarbonisierung – der südostasiatische Weg

Hintergrund

Kein einheitlicher Kurs. Die Ziele und Vorhaben der südostasiatischen Länder auf dem Weg zur Klimaneutralität lesen sich wie individuelle Rezepte mit unterschiedlichen Zutaten und Zubereitungsweisen, um am Ende (hoffentlich) doch dasselbe Gericht zuzubereiten. Aber die Region und die ganze Welt sind immer noch weit davon entfernt, die Erderwärmung unter zwei Grad Celsius zu halten und bis etwa 2050 klimaneutral zu werden.

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Hochwasser in Bangkok 2011

Klimaneutralität ist ein gemeinsames Ziel für den gesamten Planeten, aber die Länder Südostasiens machen ihre eigenen Fahrpläne – einschließlich einiger Umwege, wie manch einer sagen würde –, um in den nächsten drei oder vier Jahrzehnten an diesem Ziel anzukommen.

Die Länder des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN) erklären, es gebe keinen einheitlichen Weg dorthin. Die Beschreibungen ihrer Maßnahmen, Ziele und Vorhaben bis 2050 und darüber hinaus klingen wie individuelle Rezepte mit teilweise den gleichen, aber doch nicht exakt denselben Zutaten, die in verschiedenen Mengen und in anderen zeitlichen Abläufen zusammengemischt werden, um unterschiedliche Versionen desselben Gerichts zuzubereiten.

Wir werden Atomkraftwerke bauen. Und wir werden massiv Wasser- und Geothermiewerke bauen.

Man sehe sich nur die Vielfalt der „Zutaten“ an, die im September von den Energieministern, Staatssekretären und Expert*innen auf einem Forum zur kohlenstoffarmen Energiewende in Südostasien genannte wurden – ein Forum, das von dem in Jakarta ansässigen Economic Research Institute for ASEAN and East Asia (ERIA) veranstaltet wurde.

Die Verpflichtungen der Philippinen beinhalten, bis 2040 beim Energiemix einen 50 prozentige Anteil von erneuerbaren Energien zu erreichen und den Schwerpunkt auf geothermische Energie zu legen, wobei in diesem Bereich jetzt 100 prozentige Auslandsinvestitionen zugelassen sind. Zu den „Vorsätzen“ gehört das ehrgeizige Ziel, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 75 Prozent zu reduzieren.

„Wir werden Atomkraftwerke bauen. Und wir werden massiv Wasser- und Geothermiewerke bauen“, erklärte Indonesiens Energieminister Arifin Tasrif und fügte hinzu, dass sich das Land auch mit Sonnenenergie befassen werde, da nach 2030 keine neuen mit fossilen Brennstoffen betriebenen Kraftwerke mehr gebaut sowie Kohle- und Dieselkraftwerke zwischen 2031 und 2040 stillgelegt würden.

Thailand richtet seinen Fokus auf das Finden und Schaffen neuer Kohlenstoffsenken, wie etwa durch Aufforstungen. Der laotische Energieminister Daovong Phonekao nannte Baumpflanzungen, Wasserkraft und Ökotourismus als Schritte des Landes auf dem Weg in die Klimaneutralität. Wenn es dem Land gelingt, die Waldbedeckung von 49 Prozent im Jahr 2015 auf 60 Prozent im Jahr 2025 zu erhöhen, würde der Wald „mehr CO2 aufnehmen, als das Land emittiert, und es würden noch zusätzliche Kapazitäten geschaffen, um die Atmosphäre zu verbessern“, sagte er im Juni.

Die Notwendigkeit einer „Energiesicherheit“ ist unter den ASEAN-Ländern ein ständig wiederkehrendes Thema. Der Primärenergiebedarf dieser Länder wird dem ERIA zufolge bis 2050 um das 2,2-fache steigen. Trotz eines niedrigeren Kohlendioxidausstoßes pro Kopf spüren sie die Auswirkungen des Klimawandels weit mehr.

Der Bergbau- und Energieminister Kambodschas, Suy Sem, äußerte auf dem Forum im September: „Kambodscha hat zwar einen sehr niedrigen CO2-Ausstoß, gehört aber zu den von verschiedenen Folgen des Klimawandels am meisten betroffenen Ländern.“ Der philippinische Energie-Staatssekretär Jesus Posadas wählte fast die gleichen Worte, um diesem Punkt Nachdruck zu verleihen.

„Es (Myanmar) ist derzeit nicht in der Lage zu einem die ganze Wirtschaft umfassenden Ansatz, die Emissionen zu berechnen und zu reduzieren. Aber wir sind bestrebt, dies zukünftig zu tun”, erklärte Aung Than Oo, der nach dem Coup im Februar vom Militär zum Elektrizitätsminister Myanmars ernannt wurde.

Hinter diesen Mischungs- und Kombinationsmöglichkeiten stecken die unterschiedlichen Realitäten innerhalb der ASEAN. Während Singapur, Thailand und Vietnam einen hundertprozentigen Zugang zur Stromversorgung haben, liegt der Zugang in Myanmar bei 70 Prozent, in Kambodscha bei 89 Prozent und in den Philippinen bei 93 Prozent (Stand 2020). Um den CO2-Ausstoß zu reduzieren, versucht Myanmar nach wie vor, die Haushalte dazu zu bewegen, von Brennholz und Strom auf Flüssiggas umzusteigen.

Die Emissionen steigen weiter an

In einer Region, in der fast 80 Prozent des Primärenergiemix aus fossilen Brennstoffen stammt (Öl, Kohle und Erdgas), ist der Höhepunkt beim CO2-Ausstoß noch nicht erreicht. Indonesien wird 2040 die höchsten Emissionen haben, aber schon im Jahr 2060 statt 2070, wie zunächst angepeilt, Netto-Null-Emissionen erreichen. In Thailand und den Philippinen werden die Emissionen 2030 am höchsten sein, wobei Thailand zwischen 2060 und 2065 auf Netto-Null kommen wird.

Bis zur Corona-Pandemie war Indonesien der weltweit größte Kohleproduzent (und liegt jetzt hinter Australien an zweiter Stelle). Vietnam und Kambodscha investieren in Solarenergie.

Dunst über der Skyline von Jakarta, aufgenommen von der Spitze des Nationalmonuments in der Stadtmitte Jakartas.

Ganz verschieden sind auch die erneuerbaren Energien, die den Ländern als Übergang zu saubereren Brennstoffen geeignet erscheinen – Erdgas ist zwar eine erneuerbare, aber dennoch eine fossile Energiequelle und bei großen Wasserkraftwerken wird die Nachhaltigkeit in Frage gestellt.

„Es gibt kein allgemeingültiges Rezept“, sagt Jun Arima, leitender Wissenschaftler beim ERIA – auch wenn sich alle zehn ASEAN-Länder zu den Zielen des Pariser Klimaabkommens hinsichtlich der Treibhausgase verpflichtet haben, von denen drei Viertel Kohlendioxid sind. „Die Länder können unterschiedliche Wege zur Klimaneutralität einschlagen“, erklärt Arima weiter, aber sie müssten jetzt sofort die ersten Schritte machen, um noch in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts klimaneutral zu werden.

Der Wissenschaftler fährt fort: „In jedem Land müssen die spezifischen nationalen Gegebenheiten berücksichtigt werden. Bei den Dekarbonisierungspfaden müssen Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Finanzierbarkeit gesichert sein, [denn] die hohe Priorität auf Armutsbekämpfung oder das Bildungs- und Gesundheitswesen geht immer mit einem hohen Finanzbedarf einher.“

Aus der „My-World“-Bevölkerungsumfrage der Vereinten Nationen geht hervor, dass in den ASEAN-Ländern der Klimaschutz unter den 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung an vierter bis sechster Stelle steht. Bildung hat die höchste Priorität, gefolgt vom Gesundheitswesen und der Armutsbekämpfung.

Daran zeigt sich, welchen Spagat die Länder, insbesondere die Entwicklungsländer, zwischen dem Wichtigen und dem Dringenden machen müssen.

Corona kommt als weiteres Problem zu den Verwundbarkeiten Südostasiens durch den Klimawandel hinzu. Laut dem Klimazentrum der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung stehen fünf Länder aus der Region auf der Liste der Länder, die von den schwersten klimawandelbedingten Wetterextremen betroffen sind, deren Folgen das Pandemie-Problem verschärfen (Bericht vom September 2021).

Als der Taifun Ulysses (Vamco) im November 2020 auf die Philippinen und Vietnam traf, waren 4,94 Mio. Menschen davon betroffen. Und im Oktober 2020 starben in Kambodscha, Laos, Thailand und Vietnam 289 Menschen in den Überschwemmungen, die durch den Tropensturm Linfa verursacht wurden.

Die Philippinen und Myanmar führen die Liste der Länder in der Region an, in denen die Kinder am verletzlichsten gegenüber den Auswirkungen des Klimawandels sind. In dem vom UN-Kinderhilfswerk im August veröffentlichten ersten Klima-Risiko-Index für Kinder (Children’s Climate Risk Index) gehören die Kinder beider Länder mit einem Risiko-Score von 7,1 zu den gefährdetsten.

Seit 2020 sehen sich immer mehr Länder – die meisten davon außerhalb Südostasiens – dringend dazu veranlasst, ihre Ziele höher zu stecken, als das Pariser Klimaabkommen vorgibt: Sie wollen die Erderwärmung auf 1,5º Celsius begrenzen (statt „deutlich unter“ 2ºC) und die Klimaneutralität bis 2050 erreichen (statt „in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts“).

Aber sie sind noch weit davon entfernt, diese Ziele auch zu erreichen. Im August warnte der Weltklimarat (Intergovernmental Panel on Climate Change), dass die Erderwärmung im 21. Jahrhundert die 2-Grad-Grenze überschreiten wird.

Angesichts der Gegebenheiten in Südostasien beinhaltet seine Dekarbonisierungsstrategie immer noch Maßnahmen wie eine Erhöhung der Kraftstoffeffizienz, eine Elektrifizierung der Industrie, ein Stopp für neue Investitionen in Kohle und fossile Brennstoffe sowie eine Intensivierung der Aufforstung oder ein Schutz der Moore, die natürliche Kohlenstoffsenken sind.

Im Gegensatz dazu diskutieren die Industrieländer verstärkt über technologiebasierte Ansätze zur Wiedernutzung von Kohlendioxid oder zu seiner Speicherung in Tankanlagen oder unterirdischen Speicherung. Im September ging in Island die weltgrößte Anlage zur CO2-Abscheidung in Betrieb: Ihre Ventilatoren saugen das Kohlendioxid aus der Luft. Bei Norwegens laufendem „Longship“-Projekt geht es darum, Kohlendioxid-Emissionen aus Fabriken in Speicheranlagen unter dem Meeresboden der Nordsee zu pumpen.

Die Erneuerbare Energien auszubauen ist kompliziert

Was für Südostasien leichter erreichbar scheint – erneuerbare Energie – ist aufgrund ihrer ökologischen und sozialen Auswirkungen nicht gerade unkompliziert.

Aber das ASEAN Centre for Energy begreift es als einen Fortschritt, dass der Strommix der ASEAN-Länder 2020 zu 33,5 Prozent aus erneuerbaren Energien stammte. Das liege nur 1,5 Prozent hinter den für 2025 anvisierten 35 Prozent, sagte Beni Suryadi, Geschäftsführer der Abteilung Stromerzeugung und alternative Energien.

Im Jahr 2020 seien etwa 82 Prozent der neuen Stromerzeugungskapazitäten der ASEAN aus erneuerbaren Energien erzeugt worden – Solarenergie in Vietnam, Wasserkraft in Laos, erklärte Suryadi weiter und fügte hinzu: „Bis 2025 werden über 60 Prozent der neu installierten Kapazitäten aus erneuerbaren Energien stammen.“

Asien ist zweifellos Hauptverursacher der steigenden CO2-Emissionen zwischen heute und 2050

Erdgas, das bei seiner Verbrennung weniger Kohlendioxid ausstößt als Öl, wird als Energiequelle für den Übergang und als kleineres Übel gegenüber Kohle oder Öl angepriesen, aber diejenigen, die sich für den Klimaschutz einsetzen, wollen, dass auch die Nutzung von Erdgas allmählich eingestellt wird. Singapur kündigte im September an, versuchsweise Wasserkraft aus Laos zu importieren – auch um die Nutzung erneuerbarer Energien zu erhöhen.

„Asien ist zweifellos Hauptverursacher der steigenden CO2-Emissionen zwischen heute und 2050“, äußerte Arima. Deshalb muss Südostasien einen wichtigen Beitrag zum Klimaschutz leisten.

Die Herausforderung ist enorm. Nach Erreichen des höchsten Emissionsniveaus im Jahr 2030 muss Thailand seine Emissionen bis 2060 um 52 Prozent reduzieren, sagt Thwarat Sutabutr, Generalinspektor im thailändischen Energieministerium. Im Emissions Gap Report 2020 der Vereinten Nationen wird Indonesien als ein G20-Land bezeichnet, dessen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung mit einem „hohen CO2-Ausstoß“ einhergehen.

Der Climate Action Tracker beurteilte die Klimaschutzmaßnahmen Indonesiens und Vietnams als „sehr unzureichend“ und die von Singapur und Thailand als „völlig unzureichend“. (Die 5-Punkte-Skala des Tracker reicht vom niedrigsten Wert bzw. „völlig unzureichend“ bis zum höchsten Wert bzw. „mit dem 1,5-Grad-Ziel und dem Pariser Abkommen vereinbar”.)

Die Reduzierung von Treibhausgasemissionen oder die Abkehr von der Nutzung von Produktionsmitteln, die Emissionen verursachen, reicht allein nicht aus, um den Prozess zur Erreichung des Unter-2-Grad-Ziels zu beschleunigen. Deshalb erwägt auch Südostasien, in Technologien zur CO2-Abscheidung einzusteigen, die in den Industrieländern genutzt werden – wie das Vergraben von Kohlenstoff, die Umrüstung von mit fossilen Brennstoffen betriebenen Kraftwerken, um sie mit einem Mix aus verschiedenen oder saubereren Kraftstoffen zu betreiben, sowie die Nutzung von Wasserstoff oder Ammoniak zur Stromerzeugung.

„Unter Berücksichtigung unserer nationalen Gegebenheiten müssen wir alle möglichen technologischen Möglichkeiten in den Blick nehmen“ sagte Indonesiens Energieminister Tasrif, stellte aber fest, dass die gegenwärtigen Ansätze „zumeist auf Länderebene verfolgt werden, wobei die regionale Zusammenarbeit kaum berücksichtigt wird“. In anderen Diskussionen wurde auch die zukünftige Nutzung des ASEAN-Stromnetzes und seines Pipeline-Netzes thematisiert.

Zur Erfüllung der Klimaziele müsste Südostasien mit den Methoden zur Abscheidung, Nutzung und Speicherung von CO2 (CCUS) bis 2050 mindestens 200 Mio. Tonnen an Emissionen aus der Atmosphäre entfernen. Die Internationale Energieagentur (IEA) erklärte Brunei, Indonesien, Malaysia, Thailand und Vietnam als möglicherweise geeignete Orte für die CO2-Speicherung.

Allerdings heißt es in einem Bericht der IEA, dass die Kosten der CO2-Abscheidung ungeheuer hoch seien: Zwischen 2025 und 2030 müsste dafür jährlich fast eine Milliarde Dollar investiert werden.


Aus dem Englischen übersetzt von Ina Goertz.