Fragile Staaten sind meist nicht in der Lage die Menschenrechte gegenüber der eigenen Bevölkerung zu gewährleisten. Doch Grundrechte sind keine Gefälligkeiten, sondern Pflichten, die von den Machthabenden zu gewähren sind.

Dass Menschenrechte unteilbar sind und sich gegenseitig bedingen, ist allgemein anerkannt. Ebenso besteht Einvernehmen darüber, dass es nicht ausreicht, diese Rechte in der nationalen Gesetzgebung oder politischen Rhetorik anzuerkennen, sondern dass gewährleistet sein muss, dass sie ohne jegliche Diskriminierung für alle Bürger und Bürgerinnen gelten und von ihnen ausgeübt werden können. Wie ist aber mit diesem Rechtsanspruch im Kontext von fragilen Staaten umzugehen?
Die Bezeichnung „fragiler Staat“ impliziert, dass die betreffende Regierung nicht in der Lage ist, ihren Aufgaben und Verpflichtungen gegenüber den meisten Bürgerinnen und Bürgern nachzukommen. Fragile Staatlichkeit zeichnet sich durch eine Reihe von Merkmalen aus, zumeist aber durch eine Kombination aus schwacher Verwaltungskapazität und mangelndem Einfluss in einzelnen Landesteilen, sowie durch ein fehlendes staatliches Gewaltmonopol und unzureichende Rechenschaftslegung gegenüber der Bevölkerung, insbesondere gegenüber armen und ausgegrenzten Menschen. Ein Staat ist dann schwach, wenn er gegenüber der Mehrheit seiner Bevölkerung keine Sicherheit und Entwicklungsmöglichkeiten gewährleisten kann. Vor einem Jahrzehnt gehörten die meisten der als fragil bezeichneten Staaten zu den einkommensschwachen Ländern, heute sind nicht wenige von ihnen Länder mit mittlerem Einkommen.
Der Mehrheit der Bürger/innen in den besonders fragilen Staaten ist arm, häufig Gewalt ausgesetzt und erfährt wirtschaftliche Ausgrenzung und soziale Ungleichheit. Kann die fragile Staatlichkeit ein Vorwand sein, die Menschenrechte nicht zu respektieren?
Trotz all der starken Prinzipien der Menschenrechte kommt es in der Realität immer wieder dazu, dass während und nach Konflikten oder in anderen instabilen Kontexten Individualrechte verletzt und das Recht auf persönliche Sicherheit missachtet werden. Oftmals werden dabei weitere Rechte außer Kraft gesetzt, weil die staatlichen Institutionen und die Regierung nicht fähig sind (oder es ihnen an politischem Willen mangelt), die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen.
Welche Rechte müssen und welche sollten erfüllt werden – wann und von wem?
Der allererste Schritt sollte die Einhaltung der Grundprinzipien der Menschenrechte sein: Chancengleichheit, Nichtdiskriminierung, Partizipation, Empowerment und Rechenschaftslegung. Neben Transparenz können insbesondere Inklusivität und Nichtdiskriminierung dazu beitragen, Spannungen und Frustrationen der Rechteinhaber/innen zu mindern, selbst wenn die staatlichen Institutionen nicht in der Lage sind, alle Rechte einzuräumen. Ein Möglichkeit wäre, verschiedenen Akteuren, darunter auch die Zivilgesellschaft, die Chance zu geben, an der Durchsetzung von Rechten und der Stärkung von demokratischen Institutionen mitzuwirken. Das könnten beispielsweise demokratische Wahlen sein, die mit einem Anspruch auf Inklusivität geplant und durchgeführt werden, um sicherzustellen, dass allen Bürger/innen, auch den sozial und wirtschaftlich ausgegrenzten und besonders schutzbedürftigen Gruppen die Teilnahme möglich ist. Zur Partizipation gehören auch Maßnahmen, mit denen die Fähigkeit dieser Gruppen gefördert wird, ihr Recht auf Vereinigungs-, Versammlungs- und Meinungsfreit auszuüben.
Priorisierung und Reihenfolge?
Die UN-Menschenrechtscharta – einschließlich der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und des Internationalen Pakts über bürgerliche und zivile Rechte – weisen eine ganze Reihe von Rechten aus. Aber es gibt keine Richtlinien, welche dieser Rechte Priorität haben, zumal heute die feste Überzeugung herrscht, dass sie sich gegenseitig bedingen.
Einige Rechte können jedoch nie außer Kraft gesetzt werden. In Artikel 4 (2) des Internationalen Pakts über bürgerliche und zivile Rechte sind die Rechte festgeschrieben, die nie eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt werden dürfen. Dazu gehören unter anderem diejenigen, denen zufolge niemand willkürlich seines Lebens beraubt werden darf, der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf, in Sklaverei gehalten werden darf oder wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden darf, die zur Zeit ihrer Begehung nach inländischem oder nach internationalem Recht nicht strafbar war. Auch das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit darf nie ausgesetzt werden. In Artikel 4 heißt es, dass andere Rechte im Fall eines öffentlichen Notstands unter strengen Auflagen vorübergehend außer Kraft gesetzt werden können.
In der besonderen Situation staatlicher Unfähigkeit oder sogar völligen Scheiterns ist es nicht möglich, alle öffentlichen Dienste sofort wiederherzustellen und alle Bedürfnisse zu erfüllen. In dem Fall müssen zwangsläufig Prioritäten gesetzt und festlegt werden, welche Rechte vorrangig zu gewähren sind und welche über einen bestimmten Zeitraum umgesetzt werden müssen. Das ist das Konzept der schrittweisen Verwirklichung von Rechten.
Der Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte lässt die schrittweise Verwirklichung von Rechten im Laufe der Zeit zu, wenn auch unter einigen (bereits genannten) Einschränkungen. Einige der wirtschaftlichen Rechte müssen allerdings jederzeit eingehalten werden, darunter das Grundrecht auf Nahrung und Unterkunft.
Wer ist verantwortlich?
Solange es sich nicht um eine Situation handelt, in der es gar keine Regierung mehr gibt, liegt die Verantwortung dafür, dass die Bürger/innen ihre Grundrechte ausüben können, unabhängig von der aktuellen Lage beim Staat. Grundrechte sind keine Gefälligkeiten, die der Staat oder die Regierung seinen Bürgern zubilligt, sondern Pflichten, die von den Machthabenden zu gewähren sind.
Die fragilen Staaten verfügen vielleicht nicht über die institutionellen Mittel, allen Verpflichtungen in einem bestimmten Zeitraum nachzukommen, aber es ist üblich geworden, dass andere Akteure einige der staatlichen Pflichten übernehmen, damit die Grundrechte erfüllt werden können. Das scheint die einzige Möglichkeit zu sein, mit der Situation umzugehen. Hier gibt es jedoch noch Spielraum für Verbesserungen.
Verschiedenen UN-Organen obliegt der Schutz dieser Rechte in besonderen Situationen. Zu diesen Organen gehören der UN-Sicherheitsrat, der mit oder ohne Zustimmung der nationalen Behörden handeln kann, die UN-Generalversammlung, der Wirtschafts- und Sozialrat etc. Folgende Organe verfügen über unterschiedliche Möglichkeiten im Rahmen von „Friedenseinsätzen“ tätig zu werden: UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte, Ad-hoc-Untersuchungsausschüsse usw. Den Vereinten Nationen kann auch das exekutive Mandat übertragen werden, administrative Staatsaufgaben zu übernehmen (Elfenbeinküste, Kosovo, Osttimor). Aber bei all diesen Einsätzen müssen unbedingt die politischen und ideologischen Interessen in den Hintergrund treten – und das ist nur mit einer besseren Aufstellung des Sicherheitsrats möglich.
Verantwortung anderer Akteure?
Zivilgesellschaft/NGOs: Aufgrund ihrer Flexibilität und Fähigkeit, schnell auf Krisen zu reagieren (weniger Bürokratie, weniger von Politik und Eigeninteressen angetrieben, Möglichkeit der Ressourcenmobilisierung), sowie ihrer Erfahrung und Expertise spielen Nichtregierungsorganisationen eine immer größere Rolle bei der Verwirklichung von Rechten in allen Situationen, vor allem aber in fragilen Zusammenhängen. Sie müssen ermutigt und befähigt werden, diese Rolle auch in der Zeit der Post-2015 Ära weiterzuspielen. Der aktuellen Einschränkung ihrer Spielräume, vor allem in Afrika, muss auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene mit Entschiedenheit entgegengewirkt werden.
Die Rolle von zivilgesellschaftlichen Organisationen (CSOs) als Watchdog zur Überwachung der öffentlichen und privaten Akteure sollte von besonderem Interesse sein, da sie durch ihr Eintreten für die Einhaltung oder Einführung von Menschenrechten als Katalysator für Rechenschaft wirken können, insbesondere im Zusammenhang mit fragiler Staatlichkeit. Sie muss daher von allen Stakeholdern nachdrücklich unterstützt werden.
Was ist mit Wirtschaftsunternehmen? Laut den UN-Leitprinzipien müssen Wirtschaftsunternehmen, als spezialisierte Organe der Gesellschaft, die spezialisierte Aufgaben ausführen, das gesamte geltende Recht, auch die internationalen Gesetze, befolgen und die Menschenrechte respektieren. Das gilt unabhängig davon, ob der Staat in der Lage oder willens ist, seine Menschenrechtsverpflichtungen zu erfüllen. Wenn aber Unternehmen zum Teil des Problems geworden sind, muss hinsichtlich der Rechenschaftslegung auf dem Weg in die Post-2015-Ära etwas unternommen werden. Multinationale Konzerne sind in einer ganzen Reihe von fragilen Kontexten tätig und profitieren von der Situation. Meist fungieren sie in Konfliktzonen als Katalysatoren und tragen dazu bei, dass die Situation weiterhin fragil bleibt, indem sie beispielsweise mit bewaffneten Gruppierungen und Regierungen Geschäfte machen: so in der Demokratischen Republik Kongo, der Zentralafrikanischen Republik, im Südsudan u.a.
Afrika gehen durch illegale Finanzströme jährlich 50 Milliarden US-Dollar verloren. Davon stammen mindestens 70 Prozent aus der Rohstoffindustrie, darunter auch aus einer Reihe fragiler Staaten, in denen der Staatshaushalt nicht für die Erfüllung der wirtschaftlichen Grundrechte ausreicht. Einige Länder wie die USA unternehmen hier die ersten interessanten Schritte, aber wir brauchen eine weltweit koordinierte Aktion.
Die in diesem Artikel zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind ausschließlich die des Autors und entsprechen nicht notwendigerweise den Ansichten seiner Organisation.