Identitätspolitik – Was macht sie aus? Für wen ist sie da?

Editorial

Wir wollen einen Raum für die machtkritische Auseinandersetzung mit Debatten um Identitätspolitik schaffen.

Illustration von Jasmina El Bouamraoui

Die Stiftung befasst sich seit Jahren mit verschiedensten Dimensionen von Diskriminierungen und Ausschluss. Mehr denn je nehmen wir die Verflechtungen von etwa Rassismus, Sexismus oder Klassismus in den Blick. Uns fällt auf, dass in den kontroversen Debatten um Identitätspolitik Diskriminierungen (re)produziert werden. Wenn Identitätspolitik eine Reaktion auf Diskriminierung ist, dann, braucht es eine konsequent menschenrechts- und gerechtigkeitsorientierte Perspektive darauf. Denn nur so entstehen Strategien für mehr Teilhabe von ausgegrenzten und diskriminierten Gruppen.

Wir sind uns bewusst, dass politische Interessen – das wofür wir eintreten – mit unserer Perspektive auf die Welt zusammenhängen. Identitätspolitik ist ein politisch aufgeladener Begriff, der je nach politischer Positionierung unterschiedliche Bedeutungen haben kann: Identitätspolitik kann sowohl progressiv als auch rückwärtsgerichtet sein. Anders formuliert: Stets geht es entweder um die Infragestellung von Machtverhältnissen oder um deren Erhaltung. Hegemoniale, sprich machterhaltende Identitätspolitiken streben die Beibehaltung der Besserstellung privilegierter Gruppen an. Progressive Identitätspolitiken fordern Gerechtigkeit für diskriminierte Gruppen, also gleichberechtigte Teilhabe für alle.

Wir werfen Schlaglichter auf Identitätsdebatten sowohl in Deutschland als auch international und spiegeln damit den Ansatz der Bildungsarbeit der Heinrich-Böll-Stiftung wider.

Mit den ausgewählten Beiträgen erheben wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit und sind überzeugt davon, dass das, was wir auswählen subjektiv, nicht losgelöst von unseren eigenen Perspektiven, Diskriminierungserfahrungen und Machtpositionen ist. Die hier getroffene Wahl der Beiträge hat daher keinen Anspruch darauf „neutral“, „objektiv“ oder „ausgeglichen“ die verschiedenen Positionen darzustellen.

Strukturell haben wir uns für eine Dreiteilung entschieden. Wir beginnen mit der Geschichte des Begriffs. 1977 wurde der Begriff „identity politics“ erstmals von einem Schwarzen feministischen Kollektiv in den USA in den politischen Diskurs eingeführt. Doch das Phänomen, mit Identitäten Politik zu machen, ist viel älter: So ist auch der mit Olympe de Gouges im Zuge der französischen Revolution begonnene Kampf, Bürgerrechte für Frauen zu erstreiten, Identitätspolitik. Genauso wie der Klassenkampf im Sinne von Marx und Engels oder die antikolonialen Unabhängigkeitsbewegungen Mitte des 20. Jahrhunderts, um nur einige zu nennen. Jeweils wurden Bevölkerungsgruppen, denen die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe strukturell verwehrt wurde, sichtbar gemacht und mobilisiert.

Im zweiten Teil präsentieren wir unterschiedliche Perspektiven, die von menschenrechtlichen Ansätzen, diskriminierungskritischen Perspektiven und Stimmen aus dem Bereich der Erinnerungspolitik geprägt sind. Ergänzt werden die aktuellen Debatten in Deutschland durch Beiträge zu Diskussionen aus anderen Ländern, die Ähnlichkeiten und Unterschiede etwa aus Bosnien und Herzegowina, Südafrika, Chile und Tansania aufzeigen.

Abgerundet wird das Dossier schließlich mit Visionen eines Zusammenlebens ohne Diskriminierung und für Empowerment. Hier finden sich künstlerische Beiträge, wie Gedichte, Bilder, Essays sowie ein Audiobeitrag, zu dem wir im Rahmen eines Open Calls eingeladen haben.

Wir wünschen eine anregende Lektüre.

Barbara Unmüßig, Josephine Apraku, Lou Herbst, Gita Herrmann, Ines Kappert und Jana Prosinger