„Wir kommen nicht voran, wenn wir nicht über Machtunterschiede sprechen“

Interview

Lou Herbst unterhält sich mit Ed Greve, Antidiskriminierungstrainer und Politiker, über die Chancen und Grenzen einer antidiskriminierenden Identitätspolitik, Intersektionalität und was eigentlich zu einer Spaltung der Gesellschaft führt.

Illustration von Jasmina El Bouamraoui

HBS: Hallo Ed, schön, dass du dir Zeit nimmst für dieses Interview. Wir sprechen heute über Identitätspolitik - ein Begriff, der ja immer wieder in aller Munde ist und auch von unterschiedlichen Seiten derzeit sehr stark bespielt wird. Wie nimmst du die aktuelle Debatte wahr?

Ed Greve: Ich glaube, dass man gerade von linken und von sozialen Parteien oder Parteien, die sich selber als sozial verstehen, erwarten müsste - erwarten können müsste -, dass sie ein besonderes Interesse daran haben und eine besondere Notwendigkeit darin sehen, Gruppen der Gesellschaft, die besonders benachteiligt sind, zu schützen.  Ich glaube, dass es natürlich auch damit zusammenhängt, wie generell Identitätspolitik verhandelt wird.  Bei vielen Leuten entsteht der Eindruck, dass es nicht um „wichtige“ Probleme gehen würde, sondern nur um „banale“ Dinge, wie zum Beispiele die gegenderte Ansprache von Personen. Wobei als „banal“ hier Dinge verstanden werden, die vermeintlich nicht unmittelbar existenzbedrohlich sind, wie z.B. der Verlust der Wohnung. Dabei wird Sprache oft als etwas verhandelt, das getrennt von allem Anderen betrachtet wird. Viele Leute wollen nicht verstehen, dass Sprache mit allen anderen gesellschaftlichen Bereichen und Realitäten zusammenhängt und sie mit aufrechterhält. Genderneutrale und gendergerechte Sprache und die Nutzung einer richtigen Ansprache sind ja bei weitem nur ein Teil von dem, was zum Beispiel trans Personen fordern. Wenn Leute nicht mal sprachlich Respekt zeigen können, werden sie das auch nicht durch andere Sachen tun.

HBS: Oft entsteht der Eindruck, dass der Begriff Identitätspolitik als negativ empfunden wird. Kannst du dir erklären, warum das so ist? Was hat dazu geführt, dass dieser Begriff bzw. das Konzept oft falsch verstanden wird und negativ konnotiert ist?

Ed Greve: Ich glaube, dass Identitätspolitik nicht nur marginalisierten Gruppen eine gesellschaftliche Identität aufgrund von Ausschluss- und Diskriminierungserfahrungen anbietet, sondern dass wir uns selber eine Identität anbieten. Menschen mit Behinderung(en) sind Personen, die auf dieselben Weisen ausgeschlossen werden und damit dieselben Erfahrungen machen. Identitätspolitik führt auch dazu, dass der sonst unsichtbaren, vermeintlich neutralen privilegierten Masse plötzlich eine Identität zugeschrieben wird. Das kennt sie so nicht und will es auch nicht kennen. Das zeigt sich am Deutlichsten, wenn weiße Menschen sich dagegen wehren, als weiß benannt zu werden und ihrerseits aber kein Problem damit haben, Zuschreibungen zu Herkunft usw. bei jeder Person zu machen, die sie irgendwie (un)bewusst als Person of Color erkennen.

Gleichzeitig betreibt ja beispielsweise auch Donald Trump Identitätspolitik. (White) America first, Make (white) America great again, … Das white wird nicht ausgesprochen, aber seine Handlungen zeigen: Er macht Identitätspolitik von und für weiße Leute. Man kann das auch übertragen auf ganz viele andere Bereiche in der Gesellschaft, in denen durchaus Identitätspolitik betrieben wird – nur mit einer Selbstverständlichkeit, weil es da ja um „normale“ Menschen geht. Als hätte die Norm keine Identität bzw. hat die Norm nur die Identität, die sie haben will. Die haben dann als Identität HundeliebhaberIn oder haben als Identität deutsch oder haben irgendetwas, worauf sie sich beziehen können und beziehen wollen. Und wir haben das, worauf wir uns beziehen müssen.

HBS: Inwiefern ruft dieses „Norm benennen“ Widerstände hervor?  Kann es sein, dass Identitätspolitik dadurch nicht mehr ernst genommen wird?

Ed Greve: Genau. Intuitiv würde man ja denken: Okay, was ist jetzt das Problem? Es gibt ja auch kein Problem, wenn ich sagen würde: Ich bin Schachspieler, du bist Fußballfan, und wir bezeichnen uns gegenseitig so. Das Problem entsteht ja, wenn man eine Identität sichtbar macht, die ansonsten oft unsichtbar ist, gerade weil sie im Zusammenhang einer unterdrückenden Hierarchie existiert. Mit dieser Sichtbarmachung macht man immer auch die Machtverhältnisse sichtbar. Ich bin ja nur behindert, weil es Leute gibt, die es nicht sind und weil es irgendwo diese Grenze gibt, wer teilhaben kann und wer nicht. Nicht jede Person, die eine Brille trägt, ist behindert. Das liegt daran, dass es keine Teilhabehindernisse gibt –  es sei denn, du hast kein Geld, dir eine Brille zu kaufen. Aber ansonsten kannst du an allen Bereichen der Gesellschaft partizipieren. Deswegen ist es auch nicht schlimm zu sagen: Ich bin Brillenträger und du bist kein Brillenträger. Aber das Problem mit diesen Identitäten, über die wir im Kontext von Diskriminierung und Politik sprechen, ist, es sind Identitäten, die mit Macht verbunden sind.

HBS: Du hast bereits öfter von Diskriminierung gesprochen. Ist Antidiskriminierungspolitik für dich dasselbe wie Identitätspolitik?

Ed Greve: Nein, es können ja durchaus auch weiße Menschen, oder solche, die christlich-fundamentalistisch sind oder allgemein solche, die in einer Machtposition sitzen, Identitätspolitik machen. Antidiskriminierungspolitik ist nicht dasselbe wie Identitätspolitik. Das, was wir aber gemeinhin meinen mit der progressiven Identitätspolitik, mit Identitätspolitik von marginalisierten Gruppen, beinhaltet immer Antidiskriminierung. Da geht es dann tatsächlich darum zu sagen: Wir als Gruppe mit dieser gesellschaftlichen Identität, mit dieser unterdrückten Identität, wir kämpfen für unsere Rechte. Wir kämpfen dagegen, dass wir weiter diskriminiert werden.

HBS: Oft vernehme ich die Aussage, dass Identitätspolitik essentialistisch sei und Gefahren der Spaltung der Gesellschaft berge. Birgt Identitätspolitik Gefahren, hat sie Grenzen?

Ed Greve: Jein. Natürlich gibt es immer dann, wenn man Kämpfe nicht intersektional führt, die Gefahr, dass Leute, die auch innerhalb der eigenen marginalisierten Gruppe noch weiter unterdrückt werden, zurückgelassen werden. Das erkennst du an diesem Beispiel: weiße schwule cis Männer, die nur für sich irgendwelche Rechte erkämpfen und cis Lesben und andere queere Menschen hinter sich lassen. Wenn Identitätspolitik so betrieben wird, dass es nur um die eigenen Forderungen geht und man nur bei sich selber bleibt, birgt sie Gefahren. Deshalb sollten sich immer die Fragen gestellt werden: Wer gehört denn noch zu meiner unterdrückten Gruppe dazu und wie kann ich mich auf allen Ebenen solidarisieren?

Ich möchte gerne ein Beispiel geben, an dem erkannt werden kann, wie widersprüchlich auch progressive Identitätspolitik sein kann:

Meine politische Strategie besteht darin, dem Vorurteil, dass Migrant*innen nicht arbeiten, etwas entgegenzusetzen. Zum Beispiel in dem ich ganz viele Migrant*innen zitiere, die alle arbeiten. Ich schaffe damit ein anderes Bild von Migrant*innen und gleichzeitig verrate ich damit die Leute, die vielleicht tatsächlich nicht arbeiten, weil sie nicht arbeiten dürfen oder weil sie nicht arbeiten können. Das heißt, ich bewege mich die ganze Zeit in einem Spannungsfeld, wo ich gucken muss: Wie gehe ich jetzt damit um, dass sich die Sachen zum Teil widersprechen? Das ist eine Herausforderung, die die antidiskriminierende Identitätspolitik hat, mit der wir uns immer weiter auseinandersetzen müssen.

HBS: Was ist deiner Meinung nach das Ziel von intersektionaler Identitätspolitik?

Ed Greve: Wir müssen uns erst einmal bewusst werden, dass es Macht gibt. Macht ist, auch wenn es im Deutschen sehr negativ besetzt ist, erst einmal nichts Schlechtes. Macht über andere zu haben ist problematisch. Aber Macht über sich selber zu haben, ist eine gute Sache: Macht, mein eigenes Leben zu gestalten, Macht und Einfluss, die Gesellschaft mitzugestalten. An dieser Macht sind manche Gruppen nah dran, und andere sehr weit weg. Wenn wir intersektional gegen Diskriminierung vorgehen, dann müssen wir Maßnahmen ergreifen, die es allen ermöglicht die Gesellschaft mitzugestalten.

Es sollte darauf geachtet werden, dass alles, was wir machen, so zugänglich und nutzbar ist für die Menschen, die am wenigsten Zugang zu Macht haben. Das ist im Grunde das Ziel. Wir müssen immer noch einmal mehr sagen: Wenn wir jetzt etwas erkämpft haben, müssen wir schauen, wer dabei zurückgelassen wurde, und sagen: Was können wir tun, damit wir euch auch mitnehmen?

HBS: Wie könnte diese antidiskriminierende, intersektionale Identitätspolitik praktisch aussehen? Kennst du konkrete Beispiele?

Ed Greve:  Antidiskriminierende Identitätspolitik kann z.B. Auswirkungen auf die Schulbildung haben, in dem folgende Fragen gestellt werden: Wessen Geschichten werden erzählt? Wessen Geschichten kommen nicht vor? Welche Bilder werden genutzt? Diese Fragen müssen beantwortet und Materialien dann überarbeitet werden. Für eine Antidiskriminierungsgesetzgebung bedeutet das: Wir überprüfen immer wieder. Wir haben im AGG und jetzt auch im Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz Kriterien, anhand derer Diskriminierung verboten wird. Wir gucken immer wieder: Ist dieser Kriterienkatalog ausreichend? Haben wir wirklich alle Identitäten, alle gesellschaftlichen Gruppen, die unterdrückt werden, darin abgebildet oder stimmt das vielleicht nicht? Es ist tatsächlich ein Problem, dass Intersektionalität in der Gesetzgebung nicht mitgedacht wird. Das muss sich verbessern.

HBS: Was braucht es, um aus den schwierigen Dynamiken der Streitkultur über Identitätspolitik herauszukommen?

Ed Greve:  Das Ausgangsproblem ist ja erstmal Folgendes: Diejenigen, die auf Missstände aufmerksam machen, werden leider als die Spalter*innen gesehen und nicht etwa diejenigen, die diese Ungleichheiten aufrechterhalten. Ganz konkret würde ich sagen: Sahra Wagenknecht und Wolfgang Thierse haben eine Gruppe selber abgespalten: nämlich die, für die sie Identitätspolitik machen wollen. Das sind die, die sie für die „normale“ Bevölkerung mit „normalen“ Problemen halten. Hier wirkt aber der strukturelle Ausschluss. Und dann kommt es tatsächlich darauf an, dass diejenigen, die sonst noch dabei sind und diese Streits und Debatten mitbekommen, sagen: Moment! Wir wollen nicht, dass ihr geht. Wir wollen vom Rand her denken. Wir wollen so inklusiv wie möglich denken. Wir wollen unsere Forderungen so aufstellen, dass sie für alle funktionieren. Diejenigen müssen dann laut sein und sagen: Wir stellen uns jetzt gegen solche Spaltungsversuche wie die von Sahra Wagenknecht und Wolfgang Thierse.

HBS: Was würdest du einer Stiftung wie der Heinrich-Böll-Stiftung mit auf den Weg geben? Findest du es wichtig, dass sich eine Stiftung, die Grünen-nahe ist, sich in diese Debatte einmischt mit dem, was wir jetzt hier machen?

Ed Greve: Euch muss bewusst sein, dass ihr Einfluss habt! Eine Grünen-nahe Stiftung wird durchaus ernstgenommen in Parteikreisen und darüber hinaus. Dann ist es die Aufgabe dieser Stiftung sich auch einzumischen. Dann muss ich solidarisch sein mit denjenigen, die am weitesten am Rand stehen. Ich muss sagen: So, wie ihr das gerade diskutiert, ist das nicht in Ordnung. Wir sehen das so und so… Und wir unterstützen Forderungen von Menschen, die am Rand stehen. Wir unterstützen sie verbal, unterstützen sie materiell und mit allem, was wir an Einfluss zur Verfügung haben.

HBS: Wenn du dir die nächsten zwanzig Jahre vor Augen hältst: Wie müsste sich Antidiskriminierungspolitik weiter verändern oder die Debatte um Identitätspolitik? Was ist deine Utopie?

Ed Greve: Ich bin kein sehr utopisch denkender Mensch, bin grundsätzlich eher pessimistisch (lacht). Aber ich glaube einfach, dass wir nicht vorankommen, wenn wir nicht über Machtunterschiede sprechen. Es ist wichtig, dass Menschen genau diesen Aspekt erkennen. Natürlich, intuitiv kann ich verstehen, warum das Sprechen über Macht nicht einfach ist. Emotional kann ich das nachempfinden. Es ist erschütternd festzustellen, dass ich, auch wenn ich daran selber nicht glaube, trotzdem Teil eines Systems bin. Es reicht eben nicht mehr zu sagen: Ich will einer von den Guten sein oder: Ich bin einer von den Guten, weil ich das und das will, sondern es zeigt: Ich habe bestimmte gesellschaftliche Positionierungen geerbt.

Ich kann tatsächlich mein Konto leer machen und irgendjemand anderem mein Geld geben. Es gibt aber auch Dinge, die man nicht abgeben kann. Du kannst nicht komplett abgeben, wie Menschen dich sehen. Wenn du ein cis Mann bist, wirst du das nie abgeben können, dass Menschen dich irgendwie immer für einen bisschen intellektueller oder erfahrener, gebildeter, intelligenter halten als die cis Frau, die neben dir steht. Aber es geht nicht nur darum, selbst etwas abzugeben als Einzelperson, sondern ganz stark auch darum, das Umfeld zu überzeugen. Denn wenn eine Person ihre Haltung und ihr Verhalten ändert, hat das zwar auch Auswirkungen. Aber so wie unsere Gesellschaft gerade aufgebaut ist, brauchen wir für gesellschaftliche Veränderung solidarische Mehrheiten.

HBS: Vielen, vielen Dank!