Universalismus versus Identitätspolitik: Von einer falschen Gegenüberstellung

Essay

Am 25.2.2021 gab Wolfgang Thierse, deutscher Bundestagspräsident a.D., dem Deutschlandfunk ein Interview, in dem er sich zur Frage der Identitätspolitik äußerte. Der Kontext dieses Gesprächs war ein Artikel, den Thierse wenige Tage vorher zu diesem Thema verfasst hatte und der Bezug nahm auf die Initiative Act Out, einem Statement lesbischer, schwuler, bi, trans*, queerer, inter und non-binärer Schauspieler*innen über Diskriminierung im Film- und Theaterbetrieb.

Illustration von Jasmina El Bouamraoui

Thierse befasst sich mit einem Phänomen, welches er als „Identitätspolitik von links“ bezeichnet. Diese Politikvariante führe dazu, dass er zusammen mit anderen Kommentatoren nicht mehr an ihren Argumenten gemessen würde, sondern daran, dass sie alte weiße Männer seien. Mir wird ehrlicherweise nicht ganz klar, warum linke Identitätspolitik und Diskriminierungskritik an dieser Stelle miteinander identifiziert werden; aber ich möchte den Wunsch des ehemaligen Bundestagspräsidenten dennoch ernst nehmen und in diesem kurzen Text ein paar seiner Argumente nachvollziehen und diskutieren, die auf die zentrale These zulaufen:

Die Diskriminierungskritik ist in vielerlei Hinsicht demokratiefern bis demokratiefeindlich. Praxen wie die Umbenennung von Straßen oder das Stürzen von Statuen kämen einer Reinigung von Geschichte gleich, die einer Demokratie nicht angemessen sei.

Doppelte Standards

Nun könnte man meinen, dass Bauprojekte vom Berliner Stadtschloss über Humboldt Forum bis Potsdamer Garnisonskirche, Holocaustmahnmal bis Neue Wache eine Art Geschichtspolitik mit den Mitteln der Stadtplanung darstellen. Interventionen, die sich, am deutlichsten vielleicht im Falle des Stadtschlosses, auch als eine Art staatlich geförderte Reinigung der Geschichte von ihrer eigenen Gewaltförmigkeit bezeichnen ließen. Das gute Preußenschloss mit leuchtender Kuppel und ethnologischer Sammlung ist ja nun doch eine etwas eigenartige Erzählung für das postnationalsozialistische Deutschland.

Aber das ist nicht gemeint, wenn Thierse von einer Reinigung der Geschichte spricht. Als einer der wichtigsten Unterstützer des Wiederaufbaus des Berliner Stadtschlosses geht es ihm nicht um diese Formen staatlicher Geschichtspolitik, so eigenartig sie auch seien. Vielmehr zielt seine Argumentation auf die Kritik dieser baulichen und stadtplanerischen Entscheidungen, die er als einer Demokratie nicht angemessen empfindet. Dieser doppelte Standard ist kein Zufall, sondern Teil eines Selbstbildes als universell und aufgeklärt, das Thierse im Interview mit dem Deutschlandfunk wie folgt umreißt:

[U]nsere Tradition seit der Aufklärung ist doch die, nicht die Betroffenheit, nicht das subjektive Empfinden darf entscheidend sein, sondern das vernünftig begründende Argument, das muss uns miteinander verbinden, das muss den Diskurs strukturieren.

Diese Tradition sieht der ehemalige Bundestagspräsident in Gefahr, denn derzeit erlebe die Gesellschaft „eine Welle von Bilderstürmerei, Tilgung von Namen, Denunziation von Geistesgrößen. Auf der einen Seite steht Thierse zufolge also eine objektive Haltung, die zur Errichtung eines Stadtschlosses mit den ethnologischen Sammlungen im Herzen der deutschen Hauptstadt geführt hat. Auf der anderen die Kritiker*innen, die diese Entscheidung mit Verweis auf die deutsche koloniale Gewaltgeschichte in Frage stellen und damit subjektive und unlautere Motive verfolgen. Diese Gegenüberstellung hat es in sich.

Eine wichtige Pointe der weit verbreiteten Ideologie vom Universalismus lautet, dass man selber universell handle während die andere Seite demokratiefeindlich, emotional motiviert und nicht gesprächsbereit sei. Sie funktioniert dann besonders gut, wenn ihre Träger*innen tatsächlich glauben, sie handelten im Geiste des Universalismus von Sozialdemokratie bis Aufklärung. Tatsächlich bin ich mir ziemlich sicher, dass Thierse und diejenigen, die ähnlich argumentieren, selber gar nicht bemerken, dass die Behauptung der eigenen Objektivität mit der rassismuskritischen Analyse einer gesellschaftlichen weißen Position korreliert.

Einen Beweis dafür tritt Thierse noch im selben Interview an, als die Sprache auf das Thema Blackfacing kommt. Blackfacing – das sollte man wissen, bevor man sich dazu äußert – ist eine rassistische Praxis, bei der weiße Schauspieler*innen sich seit Jahrhunderten das Gesicht schwarz färben, häufig in karikierender Absicht. Thierse ordnet diese Tradition so ein:

Kulturelle Aneignung über Hautfarben und ethnische Grenzen hinweg muss möglich sein. Das ist ein Wesenselement von Kultur, Grenzüberschreitung, Aneignung von Anderem, von Fremdem, sich zu eigen machen, dabei die Unterschiede wahrzunehmen, das Eigene wahrzunehmen etc.

Thierse steht für eine Diskussion, die schon seit längerer Zeit aus dem Ruder läuft und sich zunehmend in der Gegenüberstellung von linker Identitätspolitik und Universalismus verdichtet. Die Attraktivität dieser Gegenüberstellung liegt vermutlich darin, dass man eine Reihe von sehr unterschiedlichen kritischen Perspektiven und Praxen darunter fassen kann – von den Debatten um einen Umgang mit dem kolonialen Erbe am Beispiel des Humboldt Forums, über eine Diskussion über rassistische Praxen am Theater bis zum eingangs erwähnten Act Out-Statement. Alles eine Gefahr für ein friedliches Zusammenleben in der Demokratie.

Die Selbstlüge

Erinnern Sie sich auch noch an die Zeit, als die Gesellschaft noch gemeinsam und geschlossen an der Umsetzung der Aufklärung arbeitete? Natürlich erinnern Sie sich nicht, denn diese Zeit hat es nie gegeben! Und so findet sich viel Polemik gegen Diskurse und Praxen rund um das Thema (Anti-)Diskriminierung – aber erstaunlich wenig über diese vermeintliche goldene Vergangenheit. Fast scheint es, als schrieben die Kritiker*innen der linken Identitätspolitik für ein Publikum, welches sowieso schon überzeugt davon ist, dass die eigene Perspektive die objektiv richtige sei und die Gegenseite daher nicht zu beachten bräuchte. Ein Schelm, wer das Argument vom Anfang dieses Textes darin erkennt.

Die historisch konkrete Praxis des Universalismus, von der Kritiker*innen der Identitätspolitik schreiben und sprechen, ist also unauffindbar. Was es stattdessen gab, war eine Rhetorik des Universalismus. Aber eine Rhetorik ist noch keine Realität, vielmehr kann sie den gegenteiligen Effekt haben, wenn nämlich ihre Vertreter*innen mit Verweis auf einen vermeintlichen Universalismus antisemitische, sexistische und sonstige diskriminierende Praxen nicht reflektieren. Und vielleicht auch gar nicht reflektieren können,weil man ja Universalist*in ist.

Auch eine genauere Betrachtung der Entstehung der Identity Politics als kritischer Praxis bringt Erstaunliches zutage. Das erste Mal taucht der Begriff nämlich 1974 in den USA im Kontext des Kampfes gegen Rassismus, Sexismus, Homofeindlichkeit und Klassismus auf, die damals wie heute auch in linken Bewegungen existieren. Das Combahee River Collective, eine Gruppe Schwarzer, marxistischer Frauen, schrieben damals einen Text, der gemeinhin als erste Erwähnung der Identity Politics gilt. Dort findet sich folgende Passage:

We are not convinced […] that a socialist revolution that is not also a feminist and anti-racist revolution will guarantee our liberation. We have arrived at the necessity for developing an understanding of class relationships that takes into account the specific class position of Black women...

Die Befreiung aller Menschen

Eine universalistische linke Praxis, die nicht gleichzeitig die Differenz aller ihrer Mitglieder im Blick hat, ist keine, die diesen Namen verdient. Und damit ist auch klar, worum es dem Combahee River Collective eigentlich ging: nämlich um den Versuch, eine linke Bewegung auf ein Niveau zu bringen, das sich nicht in einer Rhetorik des Universalismus erschöpft, sondern die Befreiung aller Menschen auch denken kann.

Dieser Impuls findet sich auf ähnliche Weise in deutschen Kontexten in einem Feminismus, in einer Antisemitismuskritik, in der Kritik an Rassismus gegen Sinti*zzi und Rom*njaa, einer postkolonialen Kritik, einer Kritik an Ableismus usw. Auch hierzulande geht es den Diskriminierungskritiker*innen um eine Teilhabe aller an der Gesellschaft. Und was ist das anderes als ein tatsächlicher Beitrag zum Projekt Universalismus?

Die These von der Zerstörung eines vermeintlichen Universalismus durch linke Identitätspolitik (lies: Diskriminierungskritik) verhindert eine ernsthafte Beschäftigung mit der fortgesetzten Realität gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse. Demgegenüber gilt es anzuerkennen, dass die Entwicklung einer intersektionalen Diskriminierungskritik in den letzten Jahrzehnten zentrale Impulse für unser Verständnis von Diskriminierung und der Geschichte und Gegenwart von Gewalt in der Gesellschaft geleistet hat.

Während die Kritiker*innen einer linken Identitätspolitik sich noch an diesen Perspektiven abarbeiten, zeichnet sich derweil so etwas wie die ersten Umrisse einer Post-Identitätspolitik ab. Ihr zentrales Interesse ist nicht die Beschwörung eines Universalismus, den es so nie gegeben hat, sondern die Frage, wie gemeinsames Handeln in Anerkennung unserer Differenzen denkbar ist. Darauf haben wir bislang noch keine Antwort gefunden. Aber gerade die intersektionale Diskriminierungskritik ist ein notwendiger Schritt, um einen Universalismus denken zu lernen, der seinen Namen auch verdient.