Identitätspolitik – ein Platz in der gesellschaftlichen Gesprächsrunde

Illustration von Jasmina El Bouamraoui

Gesellschaften richten sich stets nach einer etablierten Norm. Personen beziehungsweise Personengruppen, die dieser Norm entsprechen, machen die Mehrheitsgesellschaft aus. Sie sind „normal“. Jene, die nicht als Teil der Mehrheitsgesellschaft verstanden werden, werden als „anders“ wahrgenommen. Sie leben ihre Teilhabe in ihren kühnsten Träumen: Frühzeitig aus dem Elternhaus ausziehen zu können, der Teilnahme an Klassenfahrten, gleiche Karrierechancen, kein Gehaltsunterschied nach Geschlecht, barrierefreie Gebäude, oder was vorerst banal scheint: sich in Medien repräsentiert zu sehen. Die Liste ist endlos. Identitätspolitik soll eben diese Bedürfnisse oder Forderungen durch Personen vertreten, die ähnliche Formen von Diskriminierung erfahren. Denn damit gehen des Öfteren, aber nicht immer, ähnliche Werte, Verständnis und Vorstellungen ein. Anders ausgedrückt, sollen mit Identitätspolitik oben genannte Gruppen mit ihrer Ausgrenzung in Diskussionen fokussiert werden, sodass für diese ein bleibendes gesamtgesellschaftliches Bewusstsein entwickelt werden kann. Das Endziel ist, selbstredend strukturellen Wandel herbeizuführen – allerdings passiert das nicht von heute auf morgen: Für nachhaltigen sozialen Wandel ist es wichtig, dass Träume nicht nur kühn bleiben, sondern auch pragmatische Anwendung in der Realität finden. Mit Blick auf Repräsentation kann das zum Beispiel bedeuten, dass es normal werden muss, dass eine Schwarze Frau selbstverständlich als das Gesicht einer internationalen Beauty-Kampagne gezeigt wird, dass ein koreanischer Mann als Finanzminister fungiert oder, dass ein Mensch mit Behinderung an einem Lehrstuhl für Biochemie tätig ist.
Wer sind diese Menschen? Was beschäftigt sie? Wie gestalten sie ihren Alltag? Was macht sie glücklich? Repräsentation ist mehr als die bloße Darstellung: Es geht von einem Erzählen und Reden über zu einem Reden mit, einem Erzählen durch die jeweiligen Personen. Was wir einmal wahrnehmen, wird schwer wieder vergessen. Wenn Menschen sich repräsentiert fühlen, dadurch etwa, dass sie eine ihnen ähnliche Person in einer bestimmten Position sehen, werden Assoziationsketten geschaffen, die Hoffnung geben. Denn je früher Erfolgschancen wahrgenommen werden, umso früher entwickeln bereits jüngere Generationen ein Bewusstsein dafür, dass sie es auch verdienen alles zu werden und zu sein, was sie sich ausmalen. Sie probieren sich aus.

In Debatten um Identitätspolitik meinen einige, dass es nicht notwendig ist dieselbe Marginalisierung zu erfahren, um für andere authentisch einzutreten. Gerne wird dann hinsichtlich Identitätspolitik von einer Spaltung der Gesellschaft oder einer „Opferolympiade“ von links gesprochen. Interessant ist, dass an dieser Stelle gern behauptet wird, dass man keine Hautfarben oder Geschlechter sehe, da  doch alle gleich seien. Prinzipiell ein nobler Gedanke, wenn dieses Argument nicht oftmals dem Unwillen entspringen würde, einen kritischen Blick auf sich und die eigenen Privilegien zu werfen. Leider folgt darauf kein greifbarer Alternativvorschlag, sondern ein Verschließen der Augen vor dem, was selbst nicht erlebt wurde und was somit nicht zu existieren scheint. Privileg bedeutet also etwas nicht erfahren zu müssen. Gleichzeitig verkennt diese Argumentation einen wichtigen Punkt: Dass alles was wir Menschen machen Identitätspolitik beinhaltet. Es sind nicht nur „die Linken“ und „die Minderheiten“, die Identitätspolitik betreiben. Mehrheitsgesellschaften nennen ihre Glaubenssätze und Wertvorstellungen selten bis gar nicht Identitätspolitik, denn „es ist halt so und ist schon immer so gewesen!“. Wir alle als Teil der Gesellschaft verhandeln stets unsere zahlreichen Identitäten mit unserer Umwelt und uns selbst. Oftmals sogar, ohne uns dessen bewusst zu sein. Mit jeder Entscheidung positionieren wir uns . Selbst wenn wir uns enthalten, positionieren wir uns.

Identitätspolitik ist ein Ansatz für ein eigenmächtiges und selbstbestimmtes Eintreten für politische Teilhabe. Der neue Bundestag zeigt die Früchte, die aus den Ansprüchen nach Diversität und strukturellem Wandel geerntet werden können: Mit der Rechtsanwältin Awet Tesfaieus und der Dipl. Ing. für Forst und Waldwirtschaft, Tessa Ganserer, wie auch der Politikerin Nyke Slawik, ziehen zum ersten Mal eine Schwarze Frau und zwei trans Frauen in das Parlament ein. Ein historisches Ereignis. Alle drei bringen ihre jeweilige Expertise, zudem Erfahrungswissen hinsichtlich gesellschaftlicher Ausgrenzung mit. Ich erwähne diesen Fakt, da Identitätspolitik gerne insofern kritisiert wird, als dass es vermeintlich rein um die Erfüllung von Quoten ginge und nicht darum, wie sehr eine Person für die Position geeignet sei. Es muss wiederholt werden, dass die Frage danach, wer geeignet ist, den Status quo illustriert. Denn dadurch, dass bei der Auswahl Diversität nicht mitgedacht wird, ist ein Diversitätsanspruch überhaupt erst notwendig. Mit Identitätspolitik soll also sichergestellt werden, dass unterschiedlichste Stimmen Einzug in die gesellschaftliche Gesprächsrunde erhalten, zum Beispiel Darkskin Schwarze Frauen oder Menschen mit Behinderung. Ihnen wird die Last und der Druck genommen sich zwanghaft anpassen zu müssen. Ein Problem  von Identitätspolitik sehe ich darin, dass logische Schlussfolgerungen und gute Argumente bereits im Keim erstickt werden, da die Person, die diese tätigt, einer bestimmten Gruppe angehört (z.B. studiert, männlich, vermögend oder weiß ist) und somit nicht mitsprechen „darf“ – ungeachtet davon, ob sie gängige Haltungen der Gruppe vertritt, welcher sie zugeordnet wird. Ziel sollte sein eine produktive Gesprächskultur zu fördern. Es geht bei der Identitätspolitik also nicht um Mitleid, sondern darum anzuerkennen, dass es Lebensrealitäten gibt, welche scheinbar fernab der eigenen liegen, aber im Grunde doch nicht so verschieden sind – es gilt, diese in ihrer vollen Komplexität anzuerkennen und somit auf lange Sicht kritische Gespräche auf Augenhöhe zu führen.