In seiner Rezension untersucht Michael Martens Shkëlzen Gashis Publikation, in der die Massaker des Kosovo-Kriegs (1998–1999) aufgearbeitet werden. Das Verdienst des Autors ist es, Daten umfassend aufzubereiten, die neue oder aktualisierte Informationen über die Opfer, die Täter und die Suche nach Gerechtigkeit offenbaren.

Im März 1999 begann die NATO mit der Bombardierung Jugoslawiens, das damals nur noch aus Serbien und Montenegro bestand. Die Allianz griff damit erstmals in ihrer Geschichte einen souveränen Staat an. Joschka Fischer rechtfertigte den ersten Kampfeinsatz deutscher Soldaten seit 1945 in seiner „Farbbeutelrede“ auf dem außerordentlichen Parteitag der Grünen in Bielefeld. „Auschwitz ist unvergleichbar“, sagte der damalige deutsche Außenminister. „Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen: Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus.“ Der bombastische Auschwitz-Bezug wurde später viel kritisiert, ebenso wie die unbewiesene Behauptung des SPD-Verteidigungsministers Rudolf Scharping von einem serbischen „Hufeisenplan“ zur Vertreibung der Kosovo-Albaner.
Doch die damaligen Begründungsexzesse lenken bis heute oft von einem wichtigeren Umstand ab: Der Krieg der NATO gegen Serbien (mit Montenegro als Nebenschauplatz) war nicht nur gerechtfertigt, sondern zugleich auf tragische Weise verspätet. Wären der amerikanische Präsident Bill Clinton und die westliche Allianz dem Regime von Serbiens Gewaltherrscher Slobodan Milošević sowie dessen Schergen schon einige Jahre vorher entschlossen entgegengetreten, hätte der Völkermord von Srebrenica verhindert und der Krieg in Bosnien-Hercegovina viel früher beendet werden können.
Dreisprachiges Nachschlagewerk
Der kosovarische Historiker Shkëlzen Gashi zeigt in seinem Buch „Die Massaker im Kosovo 1998 - 1999“, was sich in seiner Heimat damals zutrug. Seine aufwendig recherchierte Arbeit, die er in einem dreisprachigen Band (Albanisch, Serbisch Englisch) vorlegt, ist eher ein Nachschlagewerk als eine durchgehend geschriebene historische Schilderung. Minutiös beschreibt Gashi in 83 Kapiteln ebenso viele Massaker, die sich im Kosovo zwischen Februar 1998 und Juli 1999 ereigneten. Er umfasst also einen Zeitraum, der mehr als ein Jahr vor der NATO-Bombardierung Serbiens beginnt und im Monat nach dem Rückzug des serbischen Militärs aus dem Kosovo endet.
Nach Angaben des Belgrader Zentrums für Menschenrechte wurden zwischen 1998 und 2000 mehr als 10.300 Zivilisten im Kosovo getötet, davon fast 8.700 Albaner.
Fast alle Massaker wurden von serbischen Soldaten, Polizisten oder Freischärlern an Kosovo-Albanern verübt. Nach dem Abzug dieser Soldateska aus dem Kosovo im Juni 1999 kam es unter den Augen der gerade einmarschierten westlichen Truppen allerdings auch zu Rachemassakern an serbischen Zivilisten, was in dem Buch ebenfalls geschildert wird. Gashi schildert zudem, dass manchen Massakern tödliche Anschläge kosovarischer Freischärler von der „Befreiungsarmee Kosovo“ (UÇK) auf serbische Uniformierte vorausgingen. Oft taten die Serben dann das, was ähnlich vor ihnen schon die deutschen Besatzer am Balkan im Zweiten Weltkrieg getan hatten: Ein Dorf, aus dem heraus oder in dessen Nähe sich ein Anschlag ereignet hatte, wurde umstellt und beschossen, die (männliche) Bevölkerung, ob Kämpfer oder Zivilisten, erschossen. Im kosovarischen Fall Frauen, Kinder und Alte nach Albanien oder Mazedonien vertrieben, doch es gab auch Massaker, in denen unterschiedslos gemordet wurde.
Mehr als 10.000 Zivilisten getötet
Gashi, der sich als Historiker nie scheut, auch gegen nationalistische Tendenzen im eigenen Land anzugehen, arbeitet gründlich. Für die Rekonstruktion jedes Massakers stützt er sich auf eine Vielzahl von Quellen, darunter stark auf die grundlegenden Erhebungen des Belgrader Zentrums für Menschenrechte, laut dem zwischen 1998 und 2000 mehr als 10.300 Zivilisten im Kosovo getötet wurden. Knapp 8700 der Opfer waren demnach Albaner, etwa 1200 Serben, die übrigen Roma und andere Minderheiten.
Gashi berücksichtigt zudem damalige oder spätere Berichte von Amnesty International, Human Rights Watch, der International Crisis Group, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und von diversen ausländischen Reportern, die aus dem Konfliktgebiet berichteten. Eine weitere Quelle für die Rekonstruktion der Verbrechen sind Urteile serbischer und kosovarischer Gerichte sowie des UN-Kriegsverbrechertribunals für das frühere Jugoslawien in Den Haag, dessen Archiv mit Tausenden Zeugenaussagen und anderen Dokumenten einen einmaligen Fundus für die historische Forschung bildet.
Überlebende erinnern sich an Ausrufe der Täter
Auffällig ist, wie viele Überlebende sich an die begleitenden Ausrufe der Täter erinnerten: „Geht doch zu Clinton!“ oder „Albanien ist euer Land! Das Kosovo gehört uns!“ hätten diese gerufen. Ein anderes Muster wird aus dem zeitlichen Verlauf erkennbar: Massaker wurden im Kosovo zwar schon vor der Bombardierung Serbiens durch die NATO verübt – Gashi beschreibt 15 solcher Fälle –, doch mit dem Beginn der Luftangriffe auf serbische Stellungen und Infrastruktur am 25. März 1999 weitete Belgrad die Übergriffe systematisch aus.
Allein in der ersten Woche nach Kriegsbeginn verübten Serben im Kosovo demnach fast zwei Dutzend Massaker und töteten dabei mehr als 1000 Menschen. Systematische Vertreibungen setzten ein. Ein „Hufeisenplan“, dessen Vorkriegsexistenz wohl eine westliche Erfindung war, wurde unter dem Deckmantel der westlichen Angriffe nun tatsächlich ausgeführt. Menschen wurden massenhaft erschossen, Häuser geplündert und in Brand gesetzt. Das sollte Überlebenden jeden Gedanken an eine Rückkehr austreiben.
Hunderttausende Albaner flohen aus dem Kosovo, bevor die serbische Mordmaschine ihr Gebiet erreichte. Miloševićs Propaganda (der dafür zuständige „Informationsminister“ war übrigens der heutige serbische Präsident Aleksandar Vučić) behauptete derweil, die Albaner flöhen in Wirklichkeit vor den westlichen Bomben. Obwohl die nicht über kosovarischen Dörfern niedergingen, gibt es im Westen bis heute Kreise, die die Propagandalüge von den durch die NATO ausgelösten Flüchtlingstrecks bereitwillig verbreiten.
In Serbien haben die Schuldigen nichts zu fürchten
Anders als in Bosnien, wo der Völkermord von Srebrenica mit mehr als 7000 Toten für die jahrelange Politik der „ethnischen Säuberungen“ steht, gibt es im Kosovo kein einzelnes Verbrechen, das zum Synonym für die serbische Unrechtspolitik geworden wäre. Das größte Massaker dort war das in den Dörfern Meja und Korenica im April 1999, das sich ereignete, nachdem albanische Freischärler dort vier Angehörige der serbischen Polizei (einen Albaner und drei Serben) getötet hatten. Einheiten der serbischen Polizei und Armee rückten daraufhin aus und töteten in den beiden Dörfern 350 Männer. Bei den Opfern handelte es sich um Christen, die der katholischen Minderheit unter den Kosovo-Albanern angehörten.
Keiner der an diesem Massaker direkt beteiligten serbischen Männer wurde dafür je verurteilt. Die politische Führung Serbiens, die für diese Politik verantwortlich war, musste sich dagegen vor dem Haager Tribunal verantworten. Ein früherer stellvertretender Regierungschef wurde zu 22, der Generalstabschef von Serbiens Armee zu 15 Jahren Haft verurteilt. Mehrere im Kosovo stationierte serbische Generäle und Polizeichefs erhielten Freiheitsstrafen zwischen 14 und 22 Jahren. Auch der serbische Gerichtshof für Kriegsverbrechen verurteilte einige führende Köpfe der Verbrechen. Das ist allerdings Jahre her. Im heutigen Serbien, das von dem Mann regiert wird, der zum Tatzeitpunkt die Verbrechen leugnen oder der NATO anlasten ließ, haben die Schuldigen von damals nichts zu fürchten.
Mitschnitt der Veranstaltung vom 5. März 2025 I Booklaunch & Discussion
Documenting „Massacres in Kosovo 1998-99“ – a step towards reconciliation?
Documenting „Massacres in Kosovo 1998-99“ – a step towards reconciliation? - Heinrich-Böll-Stiftung
