Alexej Nawalny: Sein Platz ist leer geblieben

Kommentar

Kurz vor dem dritten Jahrestags des russischen Überfalls auf die Ukraine jährte sich der Mord an dem populären Putin-Gegner Alexej Nawalny. Angesichts drohender Deals der Imperialisten Putin und Trump ist sein Aufruf „Gebt nicht auf!“ für die Unterstützer*innen von Freiheit und Demokratie in vielen Ländern aktuell.

Foto: Wand mit Porträt von Alexei Nawalny und Text „ALEXEI NAVALNY (1976-2024)“, davor Gehweg.
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Wandbild zu Ehren von Alexej Nawalny, Buenos Aires Argentinien. Für Nawalnys Maxime „Gebt nicht auf!“ werden Demokrat*innen weltweit täglich die Kraft finden müssen.

Als am 16. Februar 2024, vor einem Jahr, die Nachricht vom Tod Alexej Nawalnys in dem arktischen Straflager Charp, eintraf, da zerriss für Millionen Menschen in und aus Russland ein starker Hoffnungsfaden: die Hoffnung, dass in ihrem Land dereinst Freiheit, Bürgerrechte und Offenheit gewinnen und die ungebremste Ein-Mann-Herrschaft mit ihren Kriegs- und Raubzügen, ihren Vasallen überwunden werden könnte. Auch damals tagte, wie gerade jetzt, die Münchner Sicherheitskonferenz – mit Nawalnys Ehefrau Julia inmitten der Gäste und Sprecher*innen. Damals wehrte die Ukraine sich schon fast zwei volle Jahre gegen die brutale imperialistische Vollinvasion aus Russland.

Putin betrachtete Nawalny als persönlichen Feind

Nawalnys „plötzlicher Herzstillstand“ war ein politischer Mord.

Es war klar, dass Nawalnys „plötzlicher Herzstillstand“ ein politischer Mord war, entweder gezielt ausgeführt oder verursacht von jahrelanger Verfolgung, Haft und Folter durch alle Instanzen des Putinschen Unterdrückungsregimes. Denn Nawalny hatte mit persönlichem Mut, politischer Kreativität, mit lebendiger Sprache und charismatischen Auftritten etwas aufgebaut, was in Russland während 25 Jahren Putin-Diktatur niemand sonst bisher vermocht hat: eine volksnahe Alternative, vorstellbar, sichtbar, glaubwürdig und attraktiv für Millionen von Menschen landesweit. Getragen von Zehntausenden Aktiven in fast allen Regionen, vor allem in den Städten, gut gebildeten Mittelschichten, die Ansprüche stellten an das Leben, an sich, die Gesellschaft und den Staat. Insbesondere: Freiheit.

Deshalb betrachtete Putin – in seiner spezifischen Mischung aus Allmachtswahn, Rachsucht und Angst – den jüngeren, zunehmend prominenten Nawalny als persönlichen Feind. Er wurde mit Strafverfahren überzogen, von FSB-Agenten vergiftet, im Lager mit Karzer und Schikanen gequält – und hat doch immer durchgehalten, sogar: trotzdem neue Enthüllungen angeführt, Kampagnen entwickelt, gelacht und Menschen überzeugt. 

Nawalny zeigte, wieviel ein einzelner Mensch bewegen, Widerstand leisten kann – manchmal gewitzt und wagemutig wie Eulenspiegel und Robin Hood: Er schuf eigene Medien und Organisationen und durchbrach das angemaßte Öffentlichkeitsmonopol des Kremls. Er belegte die florierende Korruption der Putin-, Partei-, Business- und Geheimdienstzirkel. Er organisierte Wahlbeobachtung gegen die Stimmabgabe-Farcen, kandidierte 2013 für das Moskauer Bürgermeisteramt und versuchte es 2017 gar, direkt gegen Putin, für das Präsidentenamt. Er kehrte, nach der Genesung vom Nowitschok-Anschlag, im Januar 2021 nach Russland zurück, um dem selbsternannten Zaren weiter die Stirn zu bieten. 

Nawalny warb für die Demokratie und die Unterstützung der Ukraine

Er ging täglich zu den Leuten hinaus, wollte freundlich, volksnah sein und auch selbst ein „Leader“, eine Identifikationsperson – und wurde populär. Mit der Zeit wuchs er auch politisch: In früheren Jahren hatte er auch bei Ultrarechten Verbündete gesucht, deren diskriminierende Losungen gegen Minderheiten und Migrant*innen mitgetragen – und meinte wohl, sich so als Patriot auszuweisen. Deshalb war er in der russischen Zivilgesellschaft nicht unumstritten, und auch viele Ukrainer*innen erinnern kritisch an zweifelhafte Aussagen Nawalnys zur Krim-Annexion. Auch sein letztes Buch, das posthum sein Vermächtnis enthält, heißt nun „Patriot“ – doch angesichts der horrenden Erfahrungen der Gesellschaft mit Putins Willkürherrschaft, die von der russischen Präsidialverfassung erst ermöglicht wurde, hatte Nawalny im Herbst 2023 aus der Haft heraus für das Gegenmodell des Führerstaats geworben – für die Errichtung einer Demokratie und Verfassung. Seine scharfe Opposition zum russischen Angriffskrieg war vom ersten Tag an eindeutig, so wie seine Aufrufe zur Unterstützung der Ukraine.

Er hatte seit längerem auch verstanden, dass es viele „Leader“ braucht, in den Regionen, in den Themen, um eine freie, moderne Gesellschaft der Verschiedenen bauen und halten zu können, er hatte auch eingesehen, dass Feminitive (weibliche Formen von Personenbezeichnungen) kein Sprachspiel sind oder bloß Ideologie, sondern der Versuch einer angemessenen Darstellung der sozialen Realität.

Nawalnys Tod hinterlässt eine große Lücke

Ein Jahr ist vorüber. Er fehlt sehr. Sein Platz ist leer geblieben.

Der bekannte Journalist Sergey Parkhomenko hat seine Würdigung Nawalnys sehr kurz gefasst: „Ein Jahr ist vorüber. Er fehlt sehr. Sein Platz ist leer geblieben.“ Sie spiegelt, was die russische Zivilgesellschaft und ihre Emigrant*innen derzeit prägt: Viele erinnern an Alexej Nawalny mit Trauer und Anerkennung, an zahlreichen Orten – etwa in Berlin, Wien und Prag – pflegt die Diaspora informelle Gedenkstätten für ihn. Niemand hat ihn bisher an Integrations- und Mobilisierungsfähigkeit ersetzt, auch nicht sein Freund Ilja Jaschin und Julia Nawalnaja, seine Ehefrau und Mitstreiterin, die – ähnlich Switlana Tsichanouskaja 2020 in Belarus – die Stafette von ihrem Mann zu übernehmen versucht. 

Auch die unabhängigen Medien, Youtuber*innen und Blogger*innen der demokratischen Opposition können diese Lücke, obwohl sie teilweise ein Millionenpublikum haben, nicht füllen. Möglicherweise liegt in der Erwartung einer neuen charismatischen Führungsperson, die Nawalny „ersetzen“ könnte, ein Hemmnis für die Herausbildung einer neuen, demokratischen politischen Elite, die viele handlungs- und bündnisfähige Akteure braucht. Stattdessen haben sich jedoch die Protagonist*innen der Opposition 2024 noch mehr in politischen Kontroversen und Konkurrenzen, Korruptionsvorwürfen und persönlichen Konflikten zerstritten, wozu auch das Team der von Nawalny aufgebauten Anti-Korruptionsstiftung FBK unerquicklich beigetragen hat. Um die internationale Agenda haben sich die meisten, trotz deren enormer Dringlichkeit, nur am Rande gekümmert.

Gebt nicht auf!

Am Mordtag vor einem Jahr schien es vielen, als bliebe die Zeit stehen. Aber sie geht weiter. Inzwischen hat das Moskauer Regime weitere Gebiete der Ukraine ruiniert und zehntausende Menschen getötet. Inzwischen hat sich die neue US-Administration dem Imperialismus Putins an die Seite gestellt. Beide erheben das Recht des Stärkeren über die Stärke des Rechts; beiden scheint das Schicksal der Ukraine völlig gleichgültig. Die Demokrat*innen in und aus Russland stehen gemeinsam mit ihren Partner*innen in den Zivilgesellschaften Europas vor der Aufgabe, sich diesem Zerstörungswerk entgegenzustellen. Viele tragen in sich die Bereitschaft dazu und leben nun mit einer kurzen Maxime, die ihnen Alexej Nawalny hinterlassen hat: „Ne sdavajtes“ – „Gebt nicht auf!“ Dafür werden die Demokrat*innen in Europa und weltweit, darunter die Exilant*innen aus Russland und erst recht die Menschen im Land, täglich die Kraft finden müssen.