Rechte der Natur: Eine Neubestimmung der Mensch-Natur-Verhältnisse

Einführung

Die Idee, der Natur Eigenrechte zu verleihen (oder diese anzuerkennen), ist nicht ganz neu und berührt grundlegende Fragen unseres Verhältnisses zur Umwelt. Weltweit ebenso wie in Deutschland sind diese Debatten heute in vollem Gange. Was sind ‘Rechte der Natur’? Wie lassen sie sich konkret umsetzen? Welche Auswirkungen hat das auf unser Verhältnis zur Natur und unser Rechtssystem? Und wo könnten Konflikte oder Spannungen entstehen?

Großes Bebirgsmassiv

Wir überschreiten längst die planetaren Grenzen: Die Klimakatastrophe ist Realität, Ökosysteme und biologische Vielfalt sind nachhaltig zerstört, wir übernutzen die Böden, entwalden und überfischen, und in jedem Winkel der Erde findet sich Mikroplastik. All das geschieht mit Verheerungen für Leben und Gesundheit von Menschen, Pflanzen und Tieren und im Kontext krasser sozialer Ungleichheit und Armut. 

Wir wissen schon lange: Um diesen Herausforderungen zu begegnen, sind tiefgreifende ökonomische, soziale, institutionelle und kulturelle Veränderungen notwendig. Die Klimakatastrophe und der massive Verlust biologischer Vielfalt sind der markanteste Ausdruck von massiv gestörten Mensch-Natur-Verhältnissen in allen Teilen der Welt.   

Die ‚Rechte der Natur‘ (engl. “Rights of Nature”) verstehen sich als eine von mehreren Antworten auf diese Herausforderungen, mit potenziell transformativer Wirkkraft für die Beziehungen zwischen Menschen und Natur. 

Weltweit setzen sich vielfältige Akteur:innen des globalen Südens und Nordens auf lokaler bis globaler Ebene für diese Idee ein: Vertreter:innen indigener Völker und Aktivist:innen, Wissenschaftler:innen, Jurist:innen und Richter:innen. Ihre ‚Klienten‘: Flüsse, Berggipfel und andere Ökosysteme, vom ecuadorianischen Nebelwald über den neuseeländischen Whanganui River bis zur Salzlagune Mar Menor in der spanischen Provinz Murcia. 

Was sind die ‘Rechte der Natur’?

Die Idee, die Natur als Ganzes und nicht-menschliche Elemente wie Flüsse, Wälder und verschiedene Ökosysteme als Rechtspersonen anzuerkennen und ihnen damit Eigenrechte ‚zuzugestehen‘, ist nicht neu. Christopher Stone, US-amerikanischer Rechtswissenschaftler, argumentierte dafür bereits in den 1970er Jahren in seinem vielzitierten Werk “Should Trees Have Standing?”. Den Status als Rechtsperson ‚natürlichen‘ Subjekten zukommen zu lassen, würde – so das Argument – eine Symmetrie an Macht und Möglichkeiten herstellen, die im Recht aktuell nicht vorhanden ist.

Im Vergleich zur bestehenden Umweltethik und -gesetzgebung gehen die Rechte der Natur einen Schritt weiter: Natur wird – im Rahmen menschlicher Rechtssysteme – als Subjekt mit intrinsischem Wert und eigenen Rechten anerkannt. In Frage gestellt wird nicht weniger als die anthropozentrische Weltsicht, die uns Menschen als von der Natur getrennt sieht und Natur nur als Eigentum und Ressource betrachtet, die nach Belieben ausgebeutet werden kann – und die es, wenn überhaupt, nur aufgrund ihres Nutzens für Menschen zu schützen gilt.

Natur als Person behandeln...

...und sie vor Gericht ziehen lassen? Vielen erscheint diese Idee erst einmal abwegig.  Jedoch: Veränderungen dieser Größenordnung in der Rechtsprechung – wie die Abschaffung der Sklaverei oder das allgemeine Wahlrecht für Frauen – erschienen Zeitgenoss:innen immer utopisch. Und: Wenn Unternehmen oder gar Kleinkinder, die ebenfalls nicht ‘für sich selbst’ sprechen können, längst unhinterfragt als Rechtssubjekte anerkannt und vor Gericht vertreten werden, warum nicht auch Ökosysteme?

Dem bestehenden, juristisch untermauerten Machtungleichgewicht zwischen menschlichen-ökonomischen Interessen und den Bedürfnissen natürlicher Ökosysteme soll auf diese Weise entgegengewirkt werden. Ein effektiverer rechtlicher Hebel soll einen besseren Schutz von Ökosystemen garantieren – 'zu ihren eigenen Bedingungen' sowie unter Berücksichtigung derjenigen, die am nächsten zu und mit diesen leben: indigener und lokaler Gemeinschaften.

Aufwind für eine globale Bewegung

Was zunächst utopisch erscheinen mag, ist heute in vielen Ländern der Welt reale Rechtspraxis. Seit den 2000er Jahren nehmen Debatte und Praxis der Rechte der Natur an Fahrt auf, dieses Mal ausgehend von Lateinamerika: Ecuador war im Jahr 2008 das erste Land weltweit, das „der Natur, oder ‚Pacha Mama‘“ per Verfassung Eigenrechte zugestand, Bolivien folgte im Jahr 2010 mit eigenen Gesetzgebungen.

Jahrzehntelang hatten sich vor allem indigene Bewegungen und Politiker:innen in beiden Ländern dafür eingesetzt, die im Andenraum verbreitete Auffassung einer lebendigen Umwelt (‘Pacha Mama’, zu dt. oft “Mutter Erde”) und das Streben nach dem ‘Buen Vivir’ (oder ‘Sumak kawsay’, dt. “Gutes Leben”) in die politischen und rechtlichen Systeme einfließen zu lassen. Diese gehen von einer ganzheitlicheren Weltsicht aus, in der Menschen als Teil der Natur angesehen werden, und alles Lebendige als miteinander verflochten. 

Die aktuelle Bewegung, Debatte und Idee der Rechte der Natur beruht auf den Bemühungen progressiver Kräfte im Globalen Süden und auf indigenen Kosmologien, die mit ursprünglich westlichen Rechtskonzepten verknüpft werden.

Gut anderthalb Jahrzehnte später sind die Rechte der Natur in vielen Fällen reale Rechtspraxis, und Akteur:innen auf der ganzen Welt setzen sich auf unterschiedlichen Ebenen für sie ein – von lokalen Initiativen zum Schutz einzelner Ökosysteme bis hin zu transnationalen Organisationen wie der Global Alliance for the Rights of Nature (GARN). Diese schafft mit den internationalen Untersuchungskommissionen und den International Rights of Nature Tribunals einen Rahmen, um prominente Fälle auf Basis der Rechte der Natur und ‚Earth Jurisprudence’ (dt. ‘Erd-Basierten Rechtsprechung’) in fiktiven Gerichtsprozessen neu zu verhandeln und Betroffenen eine Stimme zu geben. Seit 2009 werden diesbezüglich mit dem Harmony with Nature-Programm ausgehend von indigenen Akteur:innen und Ländern wie Bolivien auch auf UN-Ebene Dialoge und Resolutionen angestoßen.

Blick in eine prächtige Baumkrone.

Rechte der Natur

Unsere Beziehung zur Natur ist massiv gestört. Um Mensch und Umwelt nachhaltig zu schützen, brauchen wir neue Ansätze – wie das Verleihen von Rechten an die Natur.

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers Rechte der Natur, das zeigt, wie sich dieser Ansatz praktisch umsetzen lässt und welche Chancen er bietet. ▶ Zum Dossier Rechte der Natur.


Konkrete Umsetzung

Wie werden die Rechte der Natur in Rechtsprechungen verankert? Was sollte als Rechtsperson anerkannt werden?  Und wer ist berechtigt, die Natur zu repräsentieren, im Gerichtssaal und darüber hinaus? Die konkrete Umsetzung und Einbettung der Rechte der Natur ist vielerorts Gegenstand von Debatten in Zivilgesellschaft, Politik und Forschung. Voraussetzung und wichtige Rahmenbedingungen sind unter anderem eine unabhängige Justiz, nationale Gesetzgebungen und demokratische Handlungsspielräume für Zivilgesellschaft und Parlamente. Problematiken und Forderungen, Umsetzungen und Formen der Repräsentation hängen dabei entscheidend von lokalen Akteur:innen und vor allem von politischen, sozialen und kulturellen Kontexten ab – also sehr ‚menschlichen‘ Faktoren.

Im Jahr 2017 wurde der neuseeländische Whanganui River (Māori: Te awa tupua) in einem bahnbrechenden Settlement Act zur Rechtsperson erklärt – als Teil postkolonialer Konfliktlösungs- und Wiedergutmachungsprozesse zwischen indigenen Māoriund neuseeländischer Regierung. In Kolumbien steht die erfolgreiche Anerkennung des Rio Atrato als Rechtssubjekt im Zusammenhang mit gewalttätigen Konflikten um illegalen Tagebau und gefährdeten Lebensbedingungen lokaler indigener und afroamerikanischer Gemeinschaften.

Auch in Europa sind die Rechte der Natur angekommen. Nach jahrelangen Schädigungen des Ökosystems, ökologischer und ökonomischer Krisen und einer erfolgreichen Petition hat das spanische Verfassungsgericht bestätigt: Die Salzlagune Mar Menor in der spanischen Provinz Murcia ist eine ‚Rechtsperson‘. Doch der Zustand des Ökosystems ist nach wie vor kritisch, was aus dem Gerichtsurteil folgt, ist politisch und gesellschaftlich umkämpft.

Davon abgesehen stehen auch in Europa die Rechte von Flüssen vielerorts im Mittelpunkt, so beispielsweise in Großbritannien und Frankreich, wo sich vielfältige Initiativen für die Anerkennung der Rechte lokaler Flussökosysteme einsetzen. In Deutschland gibt es währenddessen Bestrebungen, Gesetzestexte auf Länderebene im Sinne der Rechte der Natur zu verändern, oder gleich das Grundgesetz zu ‚ökologisieren‘.

Spannungen und Machtverhältnisse

Die Rechte der Natur stehen nicht nur im Spannungsverhältnis zu einer anthropozentrischen Weltsicht und wirtschaftlichen Interessen, sondern oft auch zu anderen Rechtsprechungen wie Eigentumsrechten und Menschenrechten. Und:

Um die Rechte der Natur in einem (menschengemachten) System wirksam umsetzen zu können, braucht es sowohl Menschen, die diese Rechte einfordern und den Willen, sie umzusetzen, als auch politische und rechtliche Systeme, in denen sie ihre Wirkkraft entfalten können.

Es braucht also Machtverhältnisse, die Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung sowie die Unabhängigkeit von Gerichten erlauben, wahren und schützen. Global gesehen wird es hier immer kritischer: demokratische Handlungsspielräume schrumpfen oder verschwinden, (umwelt-)politisches Engagement bedeutet für Aktivist:innen vielerorts eine Gefahr für Leib und Leben, Möglichkeiten, politische Forderungen zu äußern, werden kriminalisiert und rechtsstaatliche Prinzipien ausgesetzt. 

Inmitten dieser Situation sind Debatten und Kampagnen für die Rechte der Natur in vollem Gange. Wie lassen sich diese Rechte tatsächlich realisieren, und wo sind sie heute schon Realität? Wer ‚spricht‘ für die Natur und warum? Wer setzt sich weltweit dafür ein? Welche weiteren Fragen stellen sich, und welche Spannungen treten auf? Und was braucht es heute für eine produktive Auseinandersetzung mit der Idee? 

Dieses Online-Dossier versammelt Beiträge internationaler Akteur:innen rund um die Rechte der Natur, zeigt die Vielfalt an Herangehensweisen und Potenzialen auf, führt in grundlegende Visionen und Debatten ein, und stellt Fallstudien zu bestehenden Rechtsfällen, sowie Akteur:innen und Initiativen vor.


Dossier-Koordinatorinnen

Imke Horstmannshoff forscht, schreibt und ist aktiv für sozial-ökologischen Wandel in Deutschland und dem weiteren europäischen Kontext. Ihre Arbeit zu den Rechten der Natur umfasst Netzwerkarbeit, Workshoporganisation und -moderation, und die Koordination des vorliegenden Online-Dossiers. Derzeit forscht sie zu Rechten von Flüssen in Westeuropa in einer Doktorarbeit an der University of Roehampton, London.

Barbara Unmüßig ist Politikwissenschaftlerin und Publizistin, und Mitbegründerin zahlreicher Netzwerke und Organisationen (Deutsches Institut für Menschenrechte, Forum Umwelt & Entwicklung, etc). Als Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung prägte sie über zwei Jahrzehnte lang bis zum April 2022 die internationale und feministische Arbeit der Stiftung.

Literatur & Links