Dieses Land musste hart kämpfen wie wenige. Aber es hat doch immer Freiräume erhalten – die nun auf dem Spiel stehen. Sieben Charakterzüge eines einzigartigen Staates.

Klischees überlagern das Bild vom Libanon: Die einen trauern einem so nie dagewesenen "Paris des Nahen Ostens" nach, für andere ist es ein Hort terroristischer Milizen. Wer sich mit den komplexen Realitäten befasst, merkt vor allen eines: Es ist auch ein einzigartiger Ort in der Region, dessen Freiräume für kritisches Denken und künstlerischen Ausdruck mehr denn je gebraucht würden. All das steht derzeit allerdings auf dem Spiel.
Eine fünfstöckige Torte der Desaster, jede Schicht überzogen mit pastellfarbenem Zuckerguss, so zeichnet der libanesische Illustrator Bernard Hage die vergangenen fünf Jahre des libanesischen Niedergangs in einem seiner jüngsten Cartoons. Vom untersten Tortenboden – der Finanzkrise – geht es über Covid zur Hafenexplosion, gefolgt von der politischen Krise und einer "Massendepression" – der allgemeinen Hoffnungslosigkeit, weil sich für keine der Notlagen eine Lösung auch nur abzeichnet.
Israels Krieg gegen die Hisbollah nun trifft ein Land, das schlechter denn je darauf vorbereitet ist, die humanitären Folgen des Krieges aufzufangen.
Hage hat ihn in seinem Bild als die sprichwörtliche Kirsche auf dem Kuchen dekoriert, das letzte i-Tüpfelchen. Die verheerenden Luftangriffe der vergangenen zwei Wochen haben nahezu 2000 Menschen getötet und mehr als eine Million Menschen innerhalb des eigenen Landes vertrieben.
Der Libanon ist von der Fläche gesehen gerade einmal halb so groß wie Hessen, aber mit Krisen der Superlative konfrontiert. Die Wirtschaft befindet sich in einer Rezession, die weltweit als eine der schlimmsten seit 1850 gilt. Eine höhere Inflationsrate plagt derzeit nur Simbabwe und Venezuela. Die Währung, das libanesische Pfund, hat innerhalb weniger Jahre über 95 Prozent seines Wertes verloren.
Es ist ein einzigartiger Ort der Ambivalenz, dessen politische Pleiten denselben Grund haben wie die außerordentlichen Freiräume für Kunst und Gedanken in der ganzen Region. All das steht allerdings auf der Kippe. Es ist wichtig, das Land zu begreifen in diesem Schicksalsmoment; es lohnt sich zurückzugehen in seiner Geschichte und den Libanon in seinen Wesenszügen zu beschreiben. Es geht nicht um reine Desaster wie in der Torte des Zeichners dargestellt, sondern eher um Wesensmerkmale eines Landes, das mit Krisen und Kriegen umgehen musste, erstaunlich improvisierte, aber nie Halt gefunden hat. Eine Annäherung in sieben Charakterzügen.
Schwache Staatlichkeit
Die eigene schwache Staatlichkeit wurde dem Libanon immer wieder zum Verhängnis. Sie ermöglichte, dass die PLO und andere palästinensische Gruppen in den 1970er Jahren von hier aus Israel angreifen konnten. Nach deren Vertreibung etablierte sich die Hisbollah als Staat im Staat – zwar eine libanesische Miliz und Partei, aber Irans Führung in Treue ergeben. Die Feindschaft der Palästinenser wie der Hisbollah gegenüber Israel führte dazu, dass sowohl Israel als auch Syrien während des Bürgerkriegs im Libanon einmarschierten und ihre jeweiligen Interessensphären durch jahrzehntelange Besatzung und von ihnen finanzierte Milizen zementierten. Durch sie wurde Libanon zum Terrain, auf dem internationale und regionale Konflikte stellvertretend ausgetragen wurden.
Das komplexe politische System, mit dem nach dem Krieg der Proporz zwischen den einzelnen Konfessionen gewährleistet werden sollte, hat Tücken. Zwar verhindert es die Alleinherrschaft einer Partei. Gleichzeitig aber können sich dadurch die verschiedenen politischen Akteure gegenseitig blockieren. So kommt es, dass auch zwei Jahre nach dem Ende seiner Amtszeit kein Nachfolger für Präsident Michel Aoun im Amt ist. Libanesinnen und Libanesen, die dem System kritisch gegenüberstehen, scherzen gelegentlich, statt eines Diktators hätten sie 18 – für jede konfessionelle Gruppe einen.
Der Libanon wurde zum Terrain, auf dem internationale und regionale Konflikte stellvertretend ausgetragen wurden.
Dass die Hisbollah nach dem Ende des Bürgerkriegs 1990 die einzige Miliz war, die ihre Waffen nicht abgegeben hat, machte sie innenpolitisch zu einem starken und gefürchteten Akteur. Niemand konnte sie damals zwingen, der Iran wollte es nicht. Aber um ihre Rolle zu erfassen, ist es wichtig zu verstehen, dass sie nicht bloß eine Miliz ist: Als bewaffnete Gruppe schüchtert sie ein und begeht politische Morde. Das tödliche Attentat auf den ehemaligen libanesischen Premierminister Rafik Hairi 2005 und eine Serie von Anschlägen auf Politiker, Journalistinnen und Journalisten, missliebige Ermittler, und zuletzt 2021 der Mord an ihrem schärfsten Kritiker, Lokman Slim – all das geht auf ihr Konto. Gleichzeitig ist sie als politische Partei in Parlament und Regierung vertreten; sie ist Teil der Wirtschaft und der Schattenwirtschaft mit weitverzweigten internationalen Netzwerken und bietet überdies soziale Leistungen wie Krankenversicherungen an, die für ihre Gefolgschaft umso wichtiger geworden sind, je näher der Staat einem Totalausfall kommt.
In Ermangelung staatlicher Ressourcen und internationaler Unterstützung ist im Wesentlichen sie es, die momentan Binnenflüchtlinge aus ihrer Klientel unterstützt – und damit an sich bindet.
Ungeahnte Freiräume
Dieses sich gegenseitige In-Schach-Halten der einzelnen Fraktionen im Libanon hat einen geeinten Widerstand immer wieder zerfallen lassen, bevor eine Protestbewegung die korrupte Elite hätten stürzen können. Sie hat den Staat zugrunde gehen lassen. Gleichzeitig aber haben dieses ewige Patt und die mangelnde Durchsetzungskraft staatlicher Institutionen verhindert, dass eine Diktatur entstehen konnte. Die positive Kehrseite des Scheiterns ist die Freiheit, die im Libanon immer noch größer ist als woanders in der arabischen Welt. Auch wenn es ungeschriebene rote Linien gibt und selbst im Libanon die Räume für progressives, kritisches und queeres Engagement in den letzten Jahren enger geworden sind, ist es immer noch ein Land beachtlicher Presse- und Meinungsfreiheit, in dem die punktuellen Versuche staatlicher Einschüchterung beherzt zurückgewiesen werden.
Im vergangenen Jahr wurde die Satirikerin Shaden Fakih wegen eines Videos vors Militärgericht zitiert, weil sie während des Covid-Lockdowns aufgezeichnet hatte, wie sie die libanesische Armee um die Lieferung von Monatsbinden bat. "Als ich die Vorladung erhielt, habe ich als erstes ein Video gepostet: "Jungs, denkt ihr, ich habe Angst? Nein, Habibi, ihr flößt mir keine Furcht ein." Sie wurde wegen "Demütigung und Rufschädigung der libanesischen Armee" zu einer Geldstrafe verurteilt.
Der Comedian Nour Hajjar wurde letztes Jahr wegen eines ähnlichen Sachverhalts verhaftet. Er hatte gespottet, wenn er Essen bestelle und dem Pizzaboten die Tür öffne, salutiere er erst einmal. Damit spielte er darauf an, dass Armeeangehörige Zweitjobs annehmen, weil sie von ihrem Sold kaum mehr ihre Familie ernähren können. Nach seiner Verhaftung sammelten sich Aktivistinnen und Aktivisten, um dagegen zu protestieren. Nour Hajjar kam frei. "Satire hat eine wichtige soziale Rolle, und unsere Comedians sollten weitestgehenden rechtlichen Schutz genießen, insbesondere, wenn sie öffentliche und religiöse Autoritäten oder Handlungen aufs Korn nehmen, in einem Land, das sich auch sonst durch Straflosigkeit auszeichnet", sagte damals Ghida Frangieh, Anwältin der Nichtregierungsorganisation Legal Agenda.
Der Libanon ist immer noch ein Land beachtlicher Presse- und Meinungsfreiheit.
Die Organisation ist Teil der überaus lebendigen, streitbaren Zivilgesellschaft, die den politischen und gesellschaftlichen Diskurs im Libanon prägt. In eine ähnliche Richtung argumentiert Monika Borgmann, Dokumentarfilmerin, die der Organisation Umam und dem Mena Prison Forum vorsteht: Kunst sei eine Form des Widerstands im Libanon, und selbst wenn man um den Raum und die Freiheit kämpfen müsse – auch das mache den Libanon aus.
Leben ohne den Staat
In der libanesischen Gesellschaft sind die Erwartungen an den Staat gering, die Menschen haben sich mit seiner weitgehenden Abwesenheit abgefunden. Umso größer ist das Talent, für jedes Problem eine Lösung zu finden. Kaum war 2019 die Finanzkrise über den Libanon hereingebrochen, blühte das Geschäft mit Kryptowährungen; eine Goldgrube für diejenigen, die Orte ausfindig machten, an denen sie genügend Strom für das energieintensive Schürfen nach Kryptowährungen bekamen, und halbe Dörfer in Serverfarmen verwandelten.
Auch jede Lücke in der staatlichen Infrastruktur wird stets durch jemanden gefüllt. Als es kein Benzin mehr gab, kam sofort eine App auf den Markt, mit der man "Schlangensteher" buchen konnte, die für einen stunden-, tagelang in den endlosen Autoschlangen vor den Tankstellen anstanden. Die Krise war nicht behoben, aber ein bisschen umgangen. Alles ist erhältlich – vorausgesetzt, man hat Geld. Das ist hilfreich, birgt allerdings auch das Risiko, dass das, was als Behelfslösung beginnt, ein Eigenleben entwickelt und einer dauerhaften Lösung im Weg steht.
Keine Unbeschwertheit
Staatliche Stromversorgung rund um die Uhr etwa gab es auch vor den aktuellen Krisen nicht. Daher war es üblich, sich Strom von privaten Betreibern von Generatoren hinzuzubuchen. Je länger dieser Zustand aber andauerte, desto klarer wurde, wie profitabel er für die Anbieter ist, die überdies oft auch das Monopol in ihrem jeweiligen Viertel innehaben.
Jede Lücke in der staatlichen Infrastruktur wird stets durch jemanden gefüllt.
So erwuchs daraus über die Jahre eine regelrechte Generatorenmafia. Deren Macht bekam die Stadt Zahle zu spüren. Als sie in besseren Jahren den Ehrgeiz entwickelte, rund um die Uhr Strom zur Verfügung zu stellen, riefen die Generatorenbetreiber zunächst zu Protesten auf. Als diese nicht fruchteten, beschossen sie Transformatoren mit Panzerfäusten.
Mittlerweile hat der Libanon kein Geld mehr, die Treibstofflieferungen zu bezahlen, sodass die Stromversorgung fast ausschließlich wieder in privater Hand ist.
Das Beste aus aller Welt
Was den Libanon vor dem Zusammenbruch bewahrt, ist unter anderem der Fakt, dass er traditionell ein Auswanderungsland ist. Insbesondere Hungersnöte Mitte des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts, aber auch der Bürgerkrieg 1975 bis 1990 führten dazu, dass Hunderttausende ihr Glück in Nord- und Südamerika oder Afrika suchten.
Fast viermal so viele Libanesinnen und Libanesen leben im Ausland. Allein in Brasilien sind es doppelt so viele wie im Libanon selbst. Die Gelder, die Privatpersonen in den Libanon überweisen, machen rund 30 Prozent des aktuellen Bruttoinlandsprodukts aus.
Auch in den vergangenen Jahren haben die Krisen viele junge Leute dazu bewegt, den Libanon zu verlassen. Neben der Perspektivlosigkeit im eigenen Land spielt eine Rolle, dass sie dank des immensen Stellenwerts der Bildung bestens qualifiziert und sprachlich versiert sind. Dreisprachigkeit – Arabisch, Französisch und Englisch – ist insbesondere in der Stadt eher die Regel als die Ausnahme.
Das mühelose Gleiten von einer Sprache in die andere, gerne auch innerhalb eines einzigen Satzes, ist ein nicht wegzudenkender Teil der kulturellen Identität. Ein typischer Satz, gefallen in einer Boutique: "C’est k’tir, k’tir chic bas k’tir, k’tir simple" – "Das ist sehr chic, aber gleichzeitig schlicht" – ein Satz, zwei bis drei Sprachen, fünf Wechsel dazwischen. Eine Studie der American University of Beirut dokumentierte, wie verbreitet Vielsprachigkeit auch in den Schildern und Namen Beiruter Geschäfte und Unternehmen sind. Dass viele Menschen Verwandte in anderen Ländern haben, sorgt für Weltoffenheit und dafür, dass viele Trends schnell im Libanon ankommen. Dort fließen sie ein in die pulsierende Kulturszene, die wiederum Gruppen und Kunstschaffende von internationalem Rang und Namen hervorbringt. Neben der mittlerweile auseinander gegangenen Indierock-Band Mashrou‘ Leila sind dies in Deutschland zum Beispiel Künstler wie Mazen Kerbaj oder Rabih Mroué, Regisseur Ali Chahrour, der in diesem Sommer im Rahmen des "Love is a Verb"-Festivals die Theaterikonen Hanane Haj Ali und Roger Assaf nach Berlin brachte, die Künstlerin Etel Adnan oder der jüngst verstorbene Schriftsteller Elias Khoury.
Tanz auf dem Vulkan
Nicht wegzudenken aus Beirut, von der Küste oder den Ski-Resorts in den Bergen sind die Clubs und Bars, in denen, Krise hin oder her, gefeiert wird. Während man sich in Deutschland Sorgen macht, wenn niemand weiß, was in ein paar Monaten vielleicht kommt, ist man im Libanon gewohnt, dass alle Pläne mit einem Streich zunichtegemacht werden können. Stabilität, so empfinden viele Menschen im Land, ist schon, wenn man weiß, was der morgige Tag bringt. Alles Längerfristige tritt dahinter zurück.
Stabilität ist schon, wenn man weiß, was der morgige Tag bringt.
Auch im Angesicht des drohenden Krieges waren die hippen Clubs noch brechend voll – oder auch gerade deswegen. Insgesamt hat sich die wirtschaftliche Lage zwar stark verschlechtert, über 80 Prozent der Bevölkerung sind unter die Armutsgrenze gerutscht. Aber wer Geld hat, gibt es aus – denn Sparen hat keinen Sinn mehr. Alles, was für die Zukunft – die Alterssicherung oder die Ausbildung der Kinder – zurückgelegt war, ist weg, verschwunden im trickreichen System, mit dem der Chef der libanesischen Zentralbank, Riad Salameh, jahrelang die Prosperität des libanesischen Bankensektors vorgaukelte. Auch das führt dazu, sich völlig auf den Moment zu konzentrieren. "Mein Leben fühlt sich an wie der Tanz auf einem Vulkan", das ist ein Satz, der immer wieder aus Beirut zu hören ist – und den spätestens nach der unvorhersehbaren großen Explosion im Hafen von Beirut 2020 jeder versteht.
Resilienz als Schimpfwort
Auch, wenn die Situation jetzt besonders bedrückend ist: An Zeiten der Unbeschwertheit, in denen kalkulierbarer erschien, was kommen würde, kann sich im Libanon kaum jemand erinnern.
Zu improvisieren ist somit nicht mehr nur aus der Not geboren, sondern zum Lebensgefühl geworden. Es ist aufwendig, erfordert Kommunikation, ist aber auch eine Selbstvergewisserung, dass immer irgendetwas geht.
Gesellschaftliches Miteinander
Bei allen Belastungen zutiefst beeindruckend ist, dass die innergesellschaftliche Gewalt sich nicht so gravierend verschärft hat, wie man es erwarten könnte. Raubüberfälle haben zugenommen – vor allem aber eine besondere Form davon: Überfälle, bei denen mit vorgehaltener Waffe die Apothekerinnen und Apotheker gezwungen wurden, Windeln oder benötigte Medikamente herauszugeben. Oder Banküberfälle, bei denen Menschen drohten, sich selbst im Kassenraum zu erschießen, um Geld von ihren eigenen Konten für Krankenbehandlungen freizupressen.
Ähnlich verhielt es sich lange mit Übergriffen auf Syrerinnen und Syrer. Über eine Million syrischer Geflüchteter sind seit 2011 über die Grenze gekommen. Damit machen sie ein Fünftel oder mehr der Bevölkerung im Libanon aus. Über die Jahre haben alle politischen Parteien eine aggressive Rhetorik gegenüber Geflüchteten angenommen. Der Rassismus ist im Alltag deutlich spürbar. Und doch hielt sich die Zahl gewalttätiger Übergriffe in Grenzen.
"Auch in unserer Gegend ist der Ton gegenüber Syrerinnen und Syrern sehr scharf", erzählt Friedrich Bokern, der mit der Organisation Relief and Reconciliation im nördlichen Akkar humanitäre Hilfe betreibt, "aber als ein syrisches Kind bei einem Motorradunfall zu Tode gekommen ist, kam das gesamte Dorf, um zu kondolieren. Hunderte von Stühlen wurden mitgebracht und vor dem Zelt aufgestellt." Ein anderer Ort habe die Anordnung erhalten, alle Syrer auszuweisen. Am Ende habe der Bürgermeister eigenständig entschieden, das nicht zu tun. "Im ländlichen Raum gilt einfach weiterhin die unglaubliche Gastfreundschaft, dass wirklich jeder, der am Haus vorbeigeht, auf einen Kaffee eingeladen wird. Meist lehnt man ab, aber die Tradition hat sich hier bewahrt."
Seit der Krieg eskaliert, ist es für Syrerinnen und Syrer im Libanon allerdings deutlich unsicherer geworden. Viele vom syrischen Regime Verfolgte hatten in Syrien am eigenen Leibe erfahren, mit welcher Brutalität die Hisbollah Assads Machterhalt dort verteidigte. Die Videos im Internet, auf denen sie im syrischen Idlib öffentlich feiern, haben im Libanon Ressentiments geschürt. Seither zirkulieren viele Aufnahmen, in denen Syrer auf offener Straße im Libanon gedemütigt und angegriffen, sie als "Verräter" beschimpft werden.
Den Libanon verlieren
Wir wollen nicht resilient sein müssen
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass Krisen und Krieg zusammen den ganzen Libanon erschüttern. Resilienz empfinden viele mittlerweile eher als ein Schimpfwort. "Wir wollen nicht resilient sein müssen", zürnt die libanesische Filmemacherin Carol Mansour in ihrem Dokumentarfilm zur Hafenexplosion. Für sie und andere ist es eine Ausrede, etwas, das Außenstehende am Libanon preisen, um keine Verantwortung zu übernehmen – als werde Libanon katzengleich immer auf den Füßen landen, egal, was passiere.
Syrerinnen und Syrer, einst aus Syrien geflohen, sind in den letzten Tagen trotz Furcht vor Verhaftung zurück nach Syrien gegangen, mit ihnen viele libanesische Flüchtlinge. Auch wenn Israel von einer zielgerichteten Operation spricht, die sich nur gegen die Hisbollah richte und sich lediglich bis zum Fluss Litani erstrecke: Die Befehle, umgehend die eigenen Häuser zu verlassen, umfassen mittlerweile Gebiete weit nördlich des Litani. Das bedeutet ungefähr ein Drittel des Landes. Ob und wann die Menschen zurückkehren können, ist nicht sicher. Viele Orte sind nach den intensiven Bombardements ohnehin kaum mehr bewohnbar. Leid und Elend werden ebenso zunehmen wie Flucht und Migration, und der rasante Absturz, in dem das Land sich zuvor schon wirtschaftlich und politisch sah, wird sich weiter beschleunigen.
Die Art der Kriegsführung ist dazu angetan, Radikalisierung zu fördern und selbst jene – nicht wenigen – zu verlieren, die den Tod des Hisbollah-Anführers Hassan Nasrallah als Befreiung gefeiert haben.
Um auf die Ambivalenz zurückzukommen: Trotz der Schrecken des Krieges hält die Bevölkerung dem Staat die Treue: dem Staat, mit dem sie schon so viele bittere Enttäuschungen erlebt hat. Oder vielleicht gerade, weil sie schon so viele Krisen überstanden hat. Auch die sorgsam austarierte Balance der Bevölkerungsgruppen untereinander stabilisiert die öffentliche Ordnung. Flucht und Vertreibung würden dieses heikle Gleichgewicht gefährden.
Sollte der Libanon zerbrechen, würde dies den unwiederbringlichen Verlust eines einzigartigen Ortes bedeuten. Dabei wäre er als Refugium für kritische Debatten und wegweisende Ideen für die ganze Region wichtiger denn je.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei ZEIT Online.