Jenseits von Chinas "Belt and Road": Wie geht es weiter mit der EU in Lateinamerika?

Analyse

Global Gateway sollte die Antwort der EU auf Chinas Belt und Road Initiative sein. Doch ein Jahr, nachdem Milliardeninvestitionen in der Region lanciert wurden, sind die Meinungen über die Erfolgsaussichten geteilt. 

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GPT  Foto: Im Vordergrund sind EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Belgiens Premierminister Alexander De Croo im Gespräch. Dahinter stehen Bulgariens Premierminister Nikolai Denkov und Zyperns Präsident Nikos Christodoulidis.
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Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, auf dem EU-CELAC-Gipfel im Juli 2023. Bei der Veranstaltung trafen führende europäische Politiker mit Vertretern aus Lateinamerika und der Karibik zusammen und gaben den Startschuss für die Global Gateway-Investitionsagenda in der Region.

Im vergangenen Jahr hat die Europäische Union ihr wirtschaftliches und strategisches Interesse an Lateinamerika wiederentdeckt, und Investitionen in Höhe von 45 Milliarden Euro (48,7 Milliarden US-Dollar) angekündigt. Angesichts der wachsenden Präsenz Chinas in der Region, sieht man in der Europäische Union darin eine Möglichkeit, wieder an Einfluss in Lateinamerika zu gewinnen. Unter dem Banner seines Infrastrukturinvestitions-Programms Global Gateway kündigte die EU an, in den nächsten vier Jahren über 130 Projekte in der Region anschieben zu wollen werden, wobei Lithiumabbau, Projekte zu erneuerbaren Energien, grünem Wasserstoff, Verkehr und Gesundheit die Schwerpunkte sein sollen. Die politischen Veränderungen in der EU nach den Parlamentswahlen im Juni 2024 werfen nun jedoch Fragen über die Zukunft der Initiative auf. 

Lateinamerikanische Experten sind sich uneinig, inwieweit sich diese neuen politischen Dynamiken auf die Global Gateway-Projekte auswirken werden. Zwar konnten pro-europäische politische Gruppierungen ihre Mehrheit behaupten, doch rechtsextreme Parteien haben ihren Einfluss im Europäischen Parlament ausgebaut, und sie sind wohl kaum an Umweltschutz und strategischer Zusammenarbeit mit anderen Regionen interessiert. Gabriel Merino, Forscher am Nationalen Rat für wissenschaftliche und technische Forschung (CONICET) in Argentinien, nimmt daher an, dass „der Vormarsch der extremen Rechten die europäische politische Szene verkompliziert“, denn aus seiner Sicht werde „die Fragmentierung verstärkt – und das schwächt die Fähigkeit der EU-Führung international Präsenz zu zeigen.“ 

Das politische Szenario 

Die fünf vergangenen Jahre seit den vorherigen Wahlen waren in der EU mit Turbulenzen und vielfältigen Herausforderungen verbunden:  wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten nach der Pandemie, Unsicherheiten bei der Nahrungsmittel- und Energieversorgung im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine, geopolitischen Streitigkeiten mit China und die ambitionierte neue Klimaagenda des europäischen Green Deal. Auch wenn ihre Stimmenanteile nun letztlich geringer ausfielen als erwartet, könnte der Vormarsch rechtsextremer Parteien in Europa dennoch „dazu führen, dass z.B.  Umwelt- und Klimathemen an Gewicht verlieren, während nationale Identitäten oder (Anti)-Migrationspolitik an Bedeutung gewinnen“, so Juan Carlos Pérsico, Koordinator der Europaabteilung des Instituts für Internationale Beziehungen der Universität La Plata in Argentinien. 

Zwar war die Wiederwahl von Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission ein klares Zeichen der Kontinuität, doch die Neubesetzung von Parlamentssitzen betrifft gerade die wichtigsten EU-Länder wie Frankreich, Deutschland und Italien.

Das Europäische Parlament entscheidet über den Haushalt der Gemeinschaft und beeinflusst Bedingungen für die Arbeit der Europäischen Kommission, des Exekutivorgans der EU. Aber auch mit der neuen politischen Zusammensetzung wird die Finanzierung von Global Gateway kurzfristig nicht beeinträchtigt, erklärt Ilse Cougé, Leiterin der Kooperationsabteilung der EU in Argentinien. „Die Mittel, die wir für Lateinamerika bereitgestellt haben, sind bereits bis 2027 im Budget eingestellt und werden sich nicht ändern. Nach 2027 werden wir unsere langfristige Global Gateway-Strategie fortsetzen, aber natürlich müssen wir den neuen politischen Kontext berücksichtigen“. Solange es gemeinsame Interessen zwischen der EU und Lateinamerika gibt, hoffe ich, dass wir die Strategie weiterentwickeln können, wenn auch vielleicht mit anderem Schwerpunkt.“ 

Lateinamerika und die EU 

Der Handel mit Dienstleistungen und Waren zwischen Lateinamerika (inclusive der Karibik) und der EU erreichte in den Jahren 2021 und 2022 369 Milliarden USD, ein Anstieg von 39 Prozent gegenüber 2013. Die Investitionen der EU in der Region beliefen sich 2021 auf insgesamt 693 Milliarden USD, ein Anstieg von 45 Prozent gegenüber 2013. Der Handel zwischen der EU und Mercosur – dem Block, zu dem Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay und seit Juli auch Bolivien gehören – erreichte im Jahr 2023 rund 110 Milliarden USD. Obwohl die EU der zweitgrößte Handelspartner von Mercosur ist, ist das Handelsvolumen zwischen beiden Blocks im Vergleich zu anderen Märkten weniger stark gewachsen. Während der letzten 10 Jahre hat China sich zum wichtigsten Handelspartner des Mercosur entwickelt, als Empfänger von 29 Prozent der Exporte des Blocks, und Herkunft von 25 Prozent seiner Importe. 

Grafik: Liniengrafik der Mercosur-Exporte von 2000 bis 2023. China überholt EU und USA als wichtigster Handelspartner, Chile und Mexiko weit darunter.

Im Rahmen von Global Gateway in Lateinamerika nennt die EU eine Reihe von Leuchtturmprojekten: Produktion und Anwendung von grünem Wasserstoff in Argentinien und Chile; Lithiumabbau im Cono Sur; Bau von Häfen und Eisenbahnen in Brasilien; Förderung der Elektromobilität in Kolumbien, der Dominikanischen Republik und Costa Rica; Wasser und Sanitärversorgung in Barbados und Guatemala; erneuerbare Energien in Kuba, Honduras  sowie in Trinidad und Tobago; digitale Konnektivität in Kolumbien und El Salvador; und das Amazonia-Programm, ein Katalog umfassender Maßnahmen zu CO– Reduzierung.

Im Vergleich zu früheren EU-Initiativen in Lateinamerika unterscheidet sich Global Gateway darin, dass dem privaten Sektor eine führende Rolle zugewiesen wird. „Im Fall von Argentinien haben wir beispielsweise daran gearbeitet, europäische Unternehmen mit nationalen und regionalen Behörden in Kontakt zu bringen, um Lithiumbetriebe zu besuchen“, berichtet Cougé. „Hier geht es nicht nur um den Rohstoffabbau, sondern auch darum ganze Wertschöpfungsketten aufzubauen.“

Ein Jahr nach seiner Einführung, weisen offizielle Dokumente 59 Global Gateway-Projekte in Lateinamerika aus, doch fehlen öffentlich zugängliche Daten über den aktuellen Stand einzelner Maßnahmen. In Argentinien räumte die europäische Delegation ein, dass es noch keine konkreten Ergebnisse gibt: man hoffe, in den kommenden Monaten konkrete Aussagen zu Investitionen und Kooperationsprojekten machen zu können.

Foto: Seitenansicht eines Elektroautos mit CEPM-Logo und der Aufschrift "100% Eléctrico". Das Auto steht auf einem Parkplatz, im Hintergrund sind Gebäude.
Ein Elektroauto in der Dominikanischen Republik, wo die EU die Förderung einer nachhaltigen städtischen Verkehrsinfrastruktur zugesagt hat. Der Anteil der Elektromobilität an der Fahrzeugflotte des Karibikstaates ist noch nicht sehr hoch.

Die Energiewende

Für Cornelia Schmidt-Liermann, ehemalige Präsidentin des Auswärtigen Ausschusses im Unterhaus des argentinischen Nationalkongresses, ist das erneute Interesse der EU an Lateinamerika vor allem geopolitisch motiviert.

„Es ist eine Reaktion auf den Vormarsch Chinas und auf den Bedarf an Energie- und Agrarrohstoffen, der sich aus dem Krieg in der Ukraine ergibt“, sagt sie. „Europa versucht auch, sich von China unabhängiger zu machen, ähnlich wie es die Vereinigten Staaten tun.“

Ein Schwerpunkt der Investitionen von Global Gateway ist die Energiewende. Dies entspricht den Prioritäten der EU im Rahmen des europäischen Green Deals, der wichtigsten Klimainitiative des Blocks.  Darin verpflichtet sich die EU, die die Kohlenstoffemissionen bis 2030 gegenüber dem Stand von 1990 um 55 Prozent zu senken und bis zum Jahr 2050 „Klimaneutralität“ zu erreichen. Allein der Verkehr ist für ein Viertel der Treibhausgasemissionen der EU verantwortlich, also gehören der Energiesektor und die Beschaffung von Mineralien für die Elektrifizierung von Fahrzeugen, zu den wichtigsten Themen für die europäische Industrie.

Schmidt-Liermann schätzt die Gefahr, dass der Green Deal in der europäischen Politik an Bedeutung verlieren wird als gering ein - selbst angesichts des wachsenden Einflusses  rechtsextremer Parteien. „Sowohl im Europäischen Parlament als auch in der Europäischen Kommission hat die grüne Agenda höchste Priorität“, sagt sie. „Am Ende kann die Koalition der traditionellen Parteien jeden Vorstoß zur Abschwächung der Umweltagenda blockieren.“

Chinas Rolle

Global Gateway wird von vielen als die europäische Antwort auf die Belt und Road Initiative (BRI) gesehen, ein Dach unter dem China im letzten Jahrzehnt seine Präsenz bei Investitionen und Infrastrukturprojekten in rund 150 Ländern weltweit ausgebaut hat. Im Rahmen der Initiative hat China mehr als 200 Kooperationsabkommen unterzeichnet und Partnerschaften mit 30 internationalen Organisationen aufgebaut. Bis 2023 überstiegen die bisher im Rahmen der BRI zugesagten Gesamtmittel eine Billion US-Dollar.

Laut Gabriel Merino von CONICET „beginnt die EU gerade damit, China als systemische Bedrohung zu definieren und nährt sich damit der Positionierung der USA an“. Das manifestiere der Block mit der Initiative von Global Gateway: „[Die EU] verwirft damit die Idee der Belt und Road Initiative beizutreten, und lanciert stattdessen eine eigene Initiative, um nicht weiter an Einfluss im Globalen Süden zu verlieren.“

Das Potential von Global Gateway der EU im globalen Süden wieder zu mehr Einfluss zu verhelfen hat aber Grenzen. Unter anderem verweist Merino auf die anhaltende wirtschaftliche Stagnation des Blocks und auf den Verlust der Führungsrolle bei Schlüsseltechnologien, etwa bei erneuerbaren Energien. Chinesische Hersteller dominieren inzwischen den globalen Markt sowohl für Solar- als auch im Windkraftbereich. Sinkende Kosten für die chinesischen Produkte haben zu einem großflächigen Ausbau solcher Technologien beigetragen, wie z.B. in Brasilien.

Analysten des spanischen Elcano Royal Institute wiesen Anfang des Jahres auf weitere Herausforderungen für Global Gateway hin:  Es gebe keine „klaren Verfahren für die Beantragung und Durchführung von Projekten“. Die Voraussetzungen für die Bereitstellung der Budgets, und die Kriterien nach denen Projekte priorisiert würden, seien verwirrend. Auch beim Gesamtbudget halte Global Gateway einem Vergleich mit der Belt und Road Initiative nicht stand. Während unter BRI weltweit Projekte im Wert von 1 Billion USD abgewickelt werden, strebt Global Gateway zwischen 2021 und 2027 lediglich 300 Milliarden USD an, stellten die Analysten fest.

Wie die argentinische Forscherin Juliana González Jáuregui uns kürzlich mitteilte, verfüge Europa einfach „nicht über die Finanzkraft Chinas“, und der Schwerpunkt von Global Gateway auf der Mobilisierung privater Investitionen trage dazu bei, dass es bei erneuerbaren Projekten in Lateinamerika hinter China zurückfalle. Global Gateway sei bislang eher „eine diskursive Antwort auf den Wettbewerb mit China“.

Andere Analysten warnen davor, dass Global Gateway versucht mit den Investitionssummen zu konkurrieren, die unter der Belt and Road Initiative bereitgestellt wurden.  Stattdessen solle Europas Engagement auf Qualität setzen. „Die Fokussierung der BRI auf Rohstoffabbau habe kaum zu der Entwicklung von Industrien und qualifizierten Arbeitsplätzen in den Empfängerländern geführt. Sie stärke Pekings Unabhängigkeit [im Rohstoffsektor] auf Kosten der zunehmenden Abhängigkeit seiner Partnerländer.  Das sollte die EU vermeiden“, schrieb der politische Analyst José Ignacio Torreblanca letztes Jahr für den European Council of Foreign Relations.

Dennoch könnte die Zusammenarbeit mit europäischen Regierungen, Unternehmen und Organisationen für Lateinamerika Chancen bereithalten, insbesondere zur Entwicklung von Technologien, die die Energiewende voranbringen. Sie könnte der Region auch helfen, ihre Investitionsquellen zu diversifizieren, zu einem Zeitpunkt in dem sich die Art der chinesischen Investitionen verändern und Unternehmen und Investoren beginnen, sich auf kleinere Projekte zu konzentrieren. Die großen, staatlich kreditgestützten Infrastrukturprojekte, die das letzte Jahrzehnt im Rahmen der Belt und Road-Initiative geprägt habe scheinen jedenfalls am Ende.