Gegen alle Widrigkeiten: Arbeiten im Gazastreifen

Interview
Der Angriff der Hamas am 07. Oktober auf Israel und der darauffolgende Krieg im Gazastreifen hat die Arbeit des Community Development and Media Centers (CDMC) verändert. Im Gespräch mit Riham Halaseh berichtet Andaleeb Adwan, Direktorin des CDMC, vom Arbeiten unter widrigsten Umständen.
Lesedauer: 9 Minuten
Gegen alle Widrigkeiten: Arbeiten im Gazastreifen

Seit dem 7. Oktober 2023 sind durch den verheerenden Krieg im Gazastreifen so viele Menschen wie nie zuvor getötet worden und unvorstellbares Leid ist über die Bevölkerung gekommen. Wie stellt sich die Situation vor Ort dar – insbesondere für Frauen? 

Seit dem 7. Oktober 2023 tobt im Gazastreifen ein verheerender Krieg, der in nie dagewesenem Ausmaß zu Leid und dem Verlust von Menschenleben führt. Frauen wie Männer, Kinder und ältere Menschen werden Opfer gravierender Menschenrechtsverletzungen, darunter Einschüchterungen, Verfolgung und Vertreibung. Die anhaltende Gewalt führt dazu, dass jeden Tag Zivilist*innen getötet oder schwer verletzt werden. Die Hungersnot ist allgegenwärtig, und das trifft  Frauen und Kinder besonders. 

Frauen und Kinder leben in unsäglichen Verhältnissen, das heißt in improvisierten Unterkünften, es mangelt ihnen an den grundlegendsten Dingen wie Nahrung, Wasser, und Gesundheitsversorgung. Besonders für schwangere Frauen oder diejenigen, die gerade Babys zur Welt gebracht haben, ist die Situation dramatisch. Es ist auch eine Krise der reproduktiven Gesundheit. Die psychischen Belastungen für Frauen sind immens, da sie extremem Stress und Angstzuständen ausgesetzt sind, und gleichzeitig unter diesen schwierigen Bedingungen für ihre Familien sorgen müssen. 

Der gegenwärtige Krieg hat dazu geführt, dass viele Menschen innerhalb des Gazastreifens vertrieben worden sind, die meisten davon Frauen und Kinder. Durch diese Situation werden sie leichter Opfer von Ausbeutung und Misshandlungen. Dass viele Geschäfte zerstört und damit auch Arbeitsplätze verloren gegangen sind, schränkt die Möglichkeiten von Frauen ein, sich am Arbeitsmarkt zu beteiligen, so dass sie einem deutlich höheren Armutsrisiko ausgesetzt sind. Gleichzeitig sind Gemeinschaftsstrukturen und soziale Netzwerke gegenseitiger Unterstützung zerbrochen, so dass Frauen oft isoliert und auf sich alleine gestellt sind. 

Die Flüchtlingsunterkünfte sind überfüllt, so dass es an Privatsphäre fehlt. Das setzt Frauen erheblichem psychologischen Druck und weiteren gesundheitlichen Risiken aus. Ihre geistige und körperliche Gesundheit leidet, weil die Gesundheitsinfrastruktur zerstört ist. Viele medizinische Güter sind im Gazastreifen nicht verfügbar. Viele Frauen und Kinder sind durch Infektionen und Epidemien gefährdet. 

Die Mitarbeiter*innen von CDMC sind infolge der  israelischen Bombardements vertrieben und über den ganzen Gazastreifen verteilt. Stehst Du im Kontakt mit Deinen Kolleg*innen? Wie kommen sie zurecht? 

Die Teammitglieder von CDMC durchleiden schwierige Zeiten mit ihren Familien, viele sind vertrieben und obdachlos. Sie ziehen von Haus zu Haus, von Gegend zu Gegend, stets in Gefahr, bombardiert zu werden, von Heckenschützen oder Drohnenangriffen getroffen zu werden. Sie leiden  Hunger, müssen sich von Tierfutter und Gras ernähren und trinken verunreinigtes Wasser. 

Was unser Büro und alles darin betrifft, mussten wir erfahren, dass unser Büro schwer beschädigt wurde, als die israelische Armee das Shifa-Hospital und westliche Stadtteile und das Zentrum von Gaza Stadt gestürmt hat. Die Einrichtung, Ausstattung, Finanz- und Verwaltungsunterlagen unseres Büros wurden schwer beschädigt. 

Trotz dieser massiven Herausforderungen schafft es CDMC, immer wieder einen Weg zu finden seine Arbeit fortzusetzen. Die Mitarbeitenden kommunizieren wann immer das möglich ist, täglich über soziale Medien, und sie erledigen ihre Arbeit von dort, wo sie gerade sind. Sie nehmen weiterhin an Treffen von Nichtregierungsorganisationen (NRO) und mit Vertreter*innen internationaler Organisationen teil, tragen zu Dokumentation und Berichterstattung bei – sowohl mit Bildern als auch mit Texten über die aktuelle Lage im Gazastreifen. 

Das Community Development and Media Center (CDMC)

Das CDMC ist eine unabhängige zivilgesellschaftliche Organisation, die sich um die Entwicklung eines nachhaltigen Medienkonzepts bemüht, das gesellschaftliche Probleme beleuchtet sowie Demokratie, Gleichberechtigung und Menschenrechte fördert und dabei Frauen- und Jugendthemen in den Vordergrund stellt. Die Organisation verfolgt einen menschenrechtsbasierten Ansatz, um marginalisierte Gruppen, insbesondere Frauen, Jugendliche und Journalist*innen, zu unterstützen, als aktive Bürger*innen vermehrt an gesellschaftlichen Debatten teilzuhaben. Hiermit stärkt CDMC die Entwicklung effektiver, unabhängiger und einflussreicher palästinensischer Medien und Berichterstattung, die für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Teilhabe eintreten. CDMC setzt sich zum Ziel, das Bewusstsein und die Fähigkeiten von Frauen und Jugendlichen über Menschenrechte weiter zu entwickeln und sie darin zu stärken, die an ihnen begangenen Verletzungen zu dokumentieren und die ihnen zur Verfügung stehenden Medien zu nutzen, um auf ihre Rechte aufmerksam zu machen.

Sie bereiten Berichte vor, koordinieren Filmprojekte und helfen zusammen mit anderen Organisationen bei der Verteilung von Hilfsgütern. Wir produzieren darüber hinaus fünf Dokumentarfilme über Aktivistinnen und ihre Bemühungen, das Leid zu mindern, das durch die Vertreibungen in diesem Krieg entstanden ist. Zudem führt CDMC eine Online-Kampagne mit verschiedensten digitalen Inhalten durch, in der gefordert wird, den Krieg zu beenden, die humanitäre Versorgung der Menschen im Gazastreifen zu gewährleisten und den Bedürfnissen von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen gerecht zu werden. Ich stehe täglich im Austausch mit unserem Team und verfolge die Aktivitäten, die CDMC ausführt. Bei allen unseren Aktivitäten hat für CDMC immer die Sicherheit des Teams Vorrang und wir stellen sicher, dass unsere Kolleg*innen keinen unnötigen Risiken ausgesetzt sind.

Der Krieg dauert an; mehr als 80 Prozent der Menschen im Gazastreifen sind vertrieben und befinden sich in improvisierten Unterkünften. Wie steht es um eure Zielgruppen, die jungen Aktivist*innen oder die Mitglieder der Palestinian Female Academic Commission (PFAC)? Stehst Du mit ihnen in Kontakt?

CDMC ist mit unseren Zielgruppen auf die gleiche Art und Weise im Kontakt wie wir untereinander, über soziale Medien. Die Projektkoordination hat eine aktuelle Liste der Akademikerinnen erstellt, aus der hervorgeht, wo die Mitglieder der PFAC sich gerade befinden, wohin sie vertrieben wurden. Das gleiche gilt für die jugendlichen Aktivist*innen, die in den vergangenen vier Jahren an den durch die Heinrich-Böll-Stiftung unterstützten Projekten beteiligt waren. 

Durch die Partnerschaft mit dem Büro der Heinrich-Böll-Stiftung (hbs) in Ramallah konnten wir das Projekt „Junge Botschafter*innen für Frauenrechte“ ins Leben rufen. Diese Gruppe aus jungen weiblichen und männlichen Aktivist*innen, die das Potential zu Führungskräften haben, wird dadurch gestärkt. Durch Fortbildungen, verbesserte Kenntnisse und Erfahrungsaustausch werden sie geübter darin, zu Frauenrechtsverteidiger*innen zu werden und sich in ihren Gemeinschaften zu engagieren. 

Ebenfalls in Kooperation mit der hbs Ramallah haben wir die “Palestinian Female Academic Commission (PFAC)” gegründet, deren Netzwerk über 110 Akademikerinnen angehören, die in verschiedenen akademischen Hochschulen und Universitäten im ganzen Gazastreifen arbeiten. CDMC unterstützt sie durch Fortbildungen in verschiedenen Disziplinen, um sie weiter zu qualifizieren. Das hilft ihnen Strategien zu entwickeln und zu stärken, um genderbasierter Diskriminierung entgegenzutreten und gegen Exklusion und Marginalisierung vorzugehen, wo immer diese in akademischen Einrichtungen im Gazastreifen sichtbar werden. Leider haben wir erfahren, dass einige der jungen Aktivist*innen und Akademiker*innen in diesem Netzwerk in den  israelischen Bombardements umgekommen sind. Andere haben den Gazastreifen verlassen und wieder andere sind über den ganzen Gazastreifen verteilt. 

Gegen alle Widrigkeiten: Arbeiten im Gazastreifen. 5 Frauen Stehen und halten ein Plakat
Treffen der Heinrich-Böll-Stiftung Palästina und Jordanien mit dem Team des CDMC in Gaza, Juni 2023

Seit 2007 arbeitest Du im Gazastreifen mit speziellem Fokus darauf, Frauenrechte zu fördern und geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen. Wie sieht es diesbezüglich jetzt vor Ort aus – welche Herausforderungen gibt es, welche Errungenschaften und sich eröffnende Möglichkeiten?

Der Gazastreifen ist von einer patriarchalen Kultur geprägt, die die Rechte und Teilhabe von Frauen einschränkt – nur wegen ihres Geschlechts. Das hat weitreichende Folgen bezüglich dessen, wie Frauen sich in nachhaltige Entwicklung einbringen, eigene Entscheidungen treffen oder ökonomisch unabhängig sein können – und wie ihre Chancen stehen, Führungspositionen einzunehmen. Folglich waren Frauen oft gezwungen, sich in vorgegebene Rollen zu fügen und im Rahmen dieser Einschränkungen zu arbeiten. Kulturelle, religiöse und gesellschaftliche Normen bestimmen Geschlechterrollen. Ungeachtet der Fortschritte in der Bildung und Ausbildung von Frauen und ihrer Teilhabe am Arbeitsmarkt sind ihre Chancen auf Beförderung begrenzt und sie tragen überproportional viele Verpflichtungen im Haushalt. Nur 14 Prozent der Frauen haben Führungspositionen inne, und die Arbeitslosigkeit unter Frauen beträgt 72,2 Prozent. Frauen im Gazastreifen haben nur begrenzten Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung und sind vulnerabel, was geschlechtsspezifische Gewalt betrifft. Dies wird durch die israelische Blockade, die Beschränkung von Bewegungsfreiheit und den von Israel abhängigen Import von Gütern verschärft – insbesondere von Gütern, die einen maßgeblichen Einfluss auf das Wohlergehen von Frauen haben. 

Journalistinnen sind mit schwierigen Bedingungen durch politische Spaltungen, unausgewogene Geschlechterverhältnisse und traditionelle Normen konfrontiert. Auch unterliegen Frauen häufiger häuslicher Gewalt und der verbreiteten konfliktbedingten Gewalt, ohne dass es ausreichende soziale und juristische Systeme der Unterstützung gäbe. All diese Herausforderungen verletzen Rechte von Frauen und bedrohen ihr Leben, verwehren ihnen das Recht auf ein Leben in Würde, auf akzeptable Lebensbedingungen und sie vermindern ihre Lebensqualität. 

Trotz dieser Herausforderungen sind bedeutende Erfolge zu verzeichnen. Die palästinensischen Frauen haben ein hohes Bildungsniveau erreicht und in einigen Gebieten sind mehr Frauen als Männer in Universitäten eingeschrieben. Viele Frauen engagieren sich aktiv zivilgesellschaftlich, setzen sich für ihre Rechte ein und beteiligen sich im sozialen und politischen Kontext. Immer mehr Frauen gründen mit Unterstützung palästinensischer NROs und verschiedener Förderprogramme kleine Unternehmen. Als Ergebnis jahrelanger gezielter Maßnahmen zur Sensibilisierung und zum Aufbau von Kapazitäten, um Themen aus einer geschlechtergerechten Perspektive zu behandeln, haben sich die lokalen Medien zu einem geschlechtersensiblen Journalismus verpflichtet, der das Bewusstsein schärft und problematische Geschlechterstereotype in Frage stellt.

Es gibt auch Möglichkeiten, etwas zu verbessern. Zahlreiche lokale und internationale NROs engagieren sich für die politische, soziale, rechtliche und wirtschaftliche Stärkung von Frauen durch Bildungs- und Aufklärungsprogramme, in dem sie rechtliche, finanzielle und psychosoziale Unterstützung anbieten und Lobbyarbeit betreiben, die sich an Entscheidungsträger*innen und die lokale Gemeinschaft richtet, um sie für die Rechte der Frauen zu sensibilisieren. Kontinuierliche Investitionen in Bildung und Berufsausbildung, die speziell auf Frauen zugeschnitten sind, können ihre Beschäftigungsaussichten verbessern. Auf nationaler und lokaler Ebene werden Strategien und Initiativen umgesetzt, um Menschen- und Frauenrechte im Gazastreifen zu fördern. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) konzentriert sich darauf, Arbeitsplätze zu schaffen und die wirtschaftliche Entwicklung zu fördern und diese Rechte im Gazastreifen zu stärken. Das richtete sich an junge Frauen und fördert das Wachstum von Unternehmen. 

Wie siehst Du die Zukunftsperspektive der Arbeit des CDMC im Gazastreifen, wenn man bedenkt, was die Organisation in den letzten Jahren alles erreicht hat?

Trotz der vielen Herausforderungen, mit denen wir angesichts des andauernden Krieges im Gazastreifen und seiner katastrophalen Folgen konfrontiert sind, glaube ich, dass die Arbeit des CDMC im Gazastreifen vielversprechend ist, aufbauend auf den bedeutenden Errungenschaften der letzten Jahre. Künftig werden wir prioritär psychosoziale Unterstützung anbieten, da diese sowohl für die Teammitglieder als auch für unsere Zielgruppen lebenswichtig ist. In Anbetracht der traumatischen Erfahrungen, die die Zivilbevölkerung im Gazastreifens machen musste und noch muss, werden sich die nächsten Projekte verstärkt der psychische Gesundheit widmen und kreative Methoden anwenden, um die psychologischen Auswirkungen des Krieges zu mildern. Obwohl dieser anhaltende Krieg für uns alle traumatisierend ist, verfügen alle Teammitglieder über eine beeindruckende Anpassungsfähigkeit, die bedeutend für unsere Resilienz ist. Und Resilienz brauchen wir, um auch zukünftig unsere Aktivitäten von CDMC aufrechtzuhalten und weiterzuentwickeln.

Wirklich erwähnenswert erscheint mir hierbei das vom CDMC entwickelte digitale Engagement, das uns ermöglicht auch unter widrigen Bedingungen zu arbeiten, Projekte zu entwickeln und zu kommunizieren. Wir gehen davon aus, dass dies fortgesetzt wird, um eine größere Reichweite zu erzielen, eine engagiertere Interaktion mit unseren Zielgruppen zu ermöglichen und die Stimmen der marginalisierten Gruppen, insbesondere von Frauen und Jugendlichen, zu stärken und die Arbeit zu Menschenrechten und sozialer Gerechtigkeit effektiver zu gestalten. Schließlich arbeitet das CDMC an der Ausweitung seines internationalen Kooperationsspektrums, in dem es bestehende Partnerschaften stärkt und neue aufbaut. 


Das Interview führte Dr. Riham Halaseh.