"Menschenrechte und Gleichstellung der Geschlechter sind der Schlüssel zu nachhaltiger Produktion"

Interview

Anna Cavazzini ist seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments für die Grünen/EFA. In diesem Interview spricht sie darüber, wie echte Kreislaufwirtschaft und nachhaltige Produktion gelingen können. 

Lesedauer: 5 Minuten
Aquarell-Portrait von Anna Cavazzini

Dieses Interview ist Teil unserer Serie zum Earth Overshoot Day 2022

Der Overshoot Day ist der Tag, an dem wir als Weltgemeinschaft mehr Ressourcen verbraucht haben, als die Erde in einem Jahr regenerieren kann. Dass dieser Tag jedes Jahr auf ein früheres Datum im Kalenderjahr fällt, verdeutlicht die Beschleunigung und Konvergenz mehrerer Krisen, insbesondere der Klima- und Biodiversitätskrise. Dieses Jahr fällt der Tag auf den 28. Juli 2022. Bitte nennen Sie uns 1-2 Themen/Prozesse/Initiativen, die Sie derzeit in Ihrem beruflichen Kontext unterstützen und für absolut entscheidend halten, um uns auf nachhaltigere Wachstumspfade zu lenken.

Eine meiner wichtigsten Aufgaben als Vorsitzende des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz ist es, Voraussetzungen für eine echte Kreislaufwirtschaft zu schaffen. Das bedeutet, dass Produkte leichter zu reparieren sind, in viel größerem Umfang recycelt werden und dass allgemein mehr geteilt, vermietet und wiederverwendet wird. Langlebige Produkte verbrauchen weniger Ressourcen und verursachen weniger Abfall, was Umwelt und Klima zugute kommt. Durch bessere Aufklärung sollten Verbraucher*innen fundierte Entscheidungen treffen können. Doch sollte auch streng vorgeschrieben sein, dass Produkte nachhaltig sein müssen, um auf dem EU-Markt verkauft werden zu dürfen.

Welche Rolle spielen Gerechtigkeit, Menschenrechte und Gleichstellung der Geschlechter bei diesen Prozessen/Initiativen? Welche Rolle sollten sie spielen?

Menschenrechte und Gleichstellung der Geschlechter sind der Schlüssel zu nachhaltiger Produktion. In bestimmten Sektoren, auf die ich mich konzentriere, wie z. B. der Textilbranche, wird dies noch deutlicher. Auch bei Bio-Baumwolle muss sichergestellt werden, dass die Näher*innen unter fairen Bedingungen arbeiten und einen existenzsichernden Lohn erhalten. Deshalb setze ich mich im Europäischen Parlament für eine Gesetzgebung zur Sorgfaltspflicht und für ein Verbot von Produkten aus Zwangsarbeit ein. 

Heutzutage kann niemand mehr behaupten, er wisse nicht, was nachhaltiges Handeln ist oder was der Erhaltung des Lebens auf der Erde schadet. Wir scheinen kein Wissensproblem, sondern eher ein Handlungsproblem zu haben. Wenn Sie 1-3 wichtige Reformen durchführen könnten, um in Ihrem Einflussbereich mehr für die Nachhaltigkeit zu tun: Worauf würden Sie sich konzentrieren und welche Allianzen wären wichtig, um sie zu erreichen?

In meinem Einflussbereich arbeite ich an einer Vielzahl von Reformen und Maßnahmen zur Nachhaltigkeit. Ich setze mich ein für ein gesetzliches Verbot von Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung in Lieferketten von Unternehmen, die in der EU verkaufen. Ich konzentriere mich auf Produktdesignanforderungen, bei denen das Konzept der Nachhaltigkeit von Anfang an eingebunden ist. Ich kämpfe gegen die Einfuhr von durch Abholzung von Wäldern gewonnenen Rohstoffen und gegen Handelsabkommen (wie das EU-Mercosur-Abkommen), in deren Rahmen die Umwelt und Lebensgrundlagen indigener Gemeinschaften nur noch schneller zerstört würden.

Es ist nicht immer leicht, da Erfolg zu haben. Die Arbeit im Europäischen Parlament beruht auf Mehrheitsbildung, die durch Kompromisse und gute Beziehungen zu anderen politischen Gruppierungen zustande kommt. Wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, können Klimaschutz, Nachhaltigkeit und Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffproduzenten wie Russland nicht länger warten. Ich glaube, dass das viele in Brüssel nun begriffen haben. 

Ohne individuelle Resilienz ist es schwierig, sich wirksam und nachhaltig für größere globale Resilienz einzusetzen. Viele Befürworter*innen von Nachhaltigkeit stellen ihren Einsatz für das Gemeinwohl über ihr eigenes Wohlergehen. Darunter ist  eine unverhältnismäßig große Zahl von Frauen, die sowohl in ihrem Privat- als auch in ihrem Berufsleben immer noch die Hauptlast der Care-Arbeit tragen. Was hilft Ihnen, sich geistig und körperlich fit zu halten und wie tanken Sie Kraft?

Um den Kopf frei zu bekommen, muss ich von Zeit zu Zeit abschalten, Zeit in der Natur verbringen und Freund*innen und Familie treffen. Viele von ihnen arbeiten nicht in der Politik, sodass sich unsere Gespräche eher um Essen und Musik drehen ‒ das ist für mich dann eine willkommene Ablenkung. Ich laufe gerne, klettere und mache Yoga, um fit und ausgeglichen zu bleiben. 

Wenn Sie heute Erstklässler*innen sagen müssten, warum es wichtig ist, sich angesichts all der enormen Herausforderungen weiterhin für eine ökologische, soziale und geschlechtergerechte Transformation einzusetzen ‒ was würden Sie sagen und welche Fähigkeiten müssten diese Kinder Ihrer Ansicht nach dafür entwickeln?

Ich weiß, dass die vor uns liegenden Herausforderungen überwältigend sein können ‒ es gibt noch so viel zu tun. Wir müssen unseren Planeten, Natur und Tiere schützen und dafür sorgen, dass alle Menschen auf der Erde gut versorgt und gleich behandelt werden. Das ist keine leichte Aufgabe, aber es ist machbar, wenn wir zusammenhalten, uns anstrengen, ehrgeizig sind und kluge Ideen haben. Das Schlimmste, was wir tun können, ist zynisch zu werden oder den Kopf in den Sand zu stecken. Wir brauchen junge Menschen mit dem Willen, tatsächlich etwas zu verändern. Mein bester Rat wäre: Hört nicht auf zu träumen, doch bleibt dabei auch pragmatisch, habt die Köpfe in den Wolken und die Füße auf der Erde, organisiert euch und erwerbt praktische Fähigkeiten. 

Erzählen Sie uns von einem Buch oder einer Idee, die Sie kürzlich inspiriert hat.

Das Buch Doughnut Economics von Kate Raworth, in dem sie beschreibt, wie wir unsere Wirtschaft im 21. Jahrhundert neu denken und unsere Sucht nach immer mehr Geld und Wachstum überwinden müssen, und wie wir stattdessen Finanzen, Wirtschaft und Geld so umgestalten könnten, dass sie tatsächlich den Menschen dienen und wir eine Wirtschaft schaffen, die von vornherein verteilend und regenerativ ist. 


Dieses Interview wurde leicht gekürzt und erschien zuerst hier: us.boell.org