Soziale Ausgrenzung im Cyberspace Lateinamerikas

Hintergrund

Die Vorstellung, dass das Internet per se ein demokratischer Raum sei, hat nichts mit der Realität zu tun. Um die Menschenrechte zu schützen braucht es eine demokratische Governance im Cyberspace.

Illustration "Soziale Ausgrenzung im Cyberspace"

Mit der weltweit voranschreitenden Digitalisierung ist eine wichtige Debatte über die soziopolitische Beschaffenheit des Cyberspace und die dringende Notwendigkeit seiner Regulierung entstanden. Es herrscht der Glaube vor, dass Plattformen wie Twitter, TikTok, Facebook, Instagram oder YouTube per se kostenlos, freiheitlich und gerechtigkeitsfördernd seien und somit Demokratisierungseffekte erzielten – als ob es für die multinationalen Konzerne, als Eigentümer solcher Netzwerke, einen Anreiz dazu gäbe.

Der Cyberspace und die genannten Plattformen sind aber keineswegs demokratisch: Nach Einschätzung der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) zeigt die digitale Kluft die tiefgreifenden sozialen Ungleichheiten, und dies nicht nur wegen des mangelnden Zugangs zum Internet, sondern auch wegen fehlender Kenntnisse, um digitale Anwendungen überhaupt nutzen zu können.[1]

Hinter dem wenig aussagekräftigem, in den sozialen Netzwerken aber gängigem Begriff «User» könnte sich ein ideologischer Aspekt verbergen. Vielleicht bezeichnen uns die multimedialen Konzerne als User, weil sie uns als reine Konsument/innen sehen, und wir nehmen diese Rolle stillschweigend an.

Ist das Internet ein öffentlicher Raum?

Was sind wir also im Cyberspace? Ist das Internet Teil des öffentlichen Raums oder Hoheitsgebiet der Konzerne, die das Netz heute mit intelligenten Marketingstrategien kolonisieren? Die Antwort hat Konsequenzen für die Demokratie.

Die mittelalterlichen Ritter betrachteten die Welt als ausgedehntes Territorium, das es zu durchstreifen galt, und die Renaissance war geprägt von Eroberungsfeldzügen. In beiden Epochen war die brutale Aneignung kollektiven Reichtums das Leitmotiv.

Es mussten mehr als vier Jahrhunderte vergehen und ein Völkermord wie der Holocaust geschehen, bis die Menschheit neue Normen absteckte: die Menschenrechte. Aus diesem Blickwinkel leben wir heute vermutlich im Mittelalter des Cyberspace. Das virtuelle Territorium wird von den Konzernen monopolisiert und von autoritären Regierungen kontrolliert, und gleichzeitig ist es Schauplatz von Kämpfen zwischen faktischen Mächten und Schattenmärkten. Die gute Nachricht ist, dass der Cyberspace gleichzeitig auch Raum für das Regieren bietet, für Sozialisation, Handel, Arbeit, Gesundheit, Bildung, Gerechtigkeit, für Wissen und Unterhaltung und auch für vielfältige Debatten und Aktionen.

Bildung, Datenschutz, Strafjustiz

Bereits bestehende strukturelle Ungleichheiten sind durch die Wechselwirkungen im Cyberspace noch verschärft worden. Besonders deutlich werden diese in den Bereichen Bildung, Datenschutz und Strafjustiz, in denen gesellschaftliche Ausgrenzung, Korruption, Straflosigkeit und Rechtsverletzungen häufig zu Tage treten.

1. Bildung:

Die meisten Länder Lateinamerikas haben mit improvisierten Maßnahmen und Freiheitsbeschränkungen auf die Covid-19-Pandemie reagiert. Mexiko ordnete die Schließung von Bildungseinrichtungen an, ohne dass dieser Schritt von Maßnahmen zur Beschleunigung der Digitalisierung und entsprechender Zugangsmöglichkeiten flankiert worden wäre, um so das Potenzial der Online-Bildung überhaupt nutzen zu können.

Amtliche Daten über die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die im Schuljahr 2019/20 eingeschriebenen Schülerinnen und Schüler im Alter von 3 bis 29 Jahren[2] zeigen, dass 72 Prozent der Grundschulkinder für die Teilnahme am Distanzunterricht und die Erledigung ihrer Hausaufgaben ein Mobiltelefon benutzten, und davon wiederum 74 Prozent das Handy mit anderen teilen mussten.

Die Gesamtzahl der Schulabbrüche lag bei 738.400. Davon erfolgten 58 Prozent aus Gründen, die mit der Covid-19-Pandemie in Zusammenhang standen. Als vorrangige Motive wurden genannt: «... hat den Kontakt zu Lehrer/innen verloren oder konnte die Hausaufgaben nicht erledigen (28 Prozent); eine im Haushalt lebende Person wurde arbeitslos oder die Einkünfte haben sich verringert (22,4 Prozent); die Schule wurde endgültig geschlossen (20,2 Prozent); 17,7 Prozent hatten keinen Computer, andere Geräte oder keinen Internetzugang. Die höchsten Abbrecherquoten gab es in der Vorschule (94,7 Prozent) sowie in den Grundschulen (73,2 Prozent).

Für das laufende Schuljahr 2020/2021 wurden 2,3 Millionen schulpflichtige Kinder der oben genannten Altersgruppen wegen der Pandemie nicht eingeschrieben. Für 2,9 Millionen geschah dies weitgehend aus denselben Gründen wie im vorangegangenen Schuljahr.

 In keinem anderen Bereich zeigte sich während der Pandemie die digitale Kluft so drastisch wie hier.

2. Datenschutz und digitale Sicherheit:

Mitte Juli dieses Jahres veröffentlichte Amnesty International in Forbidden Stories eine Untersuchung über die vom israelischen Unternehmen NSO Group entwickelte Spionagesoftware «Pegasus», die von mehreren Regierungen gekauft wurde, angeblich, um die organisierte Kriminalität und den Terrorismus zu bekämpfen. Die Software wurde jedoch zur Überwachung von Aktivist/innen, Oppositionellen und Medienschaffenden genutzt. «[Sie] wurde eingesetzt, um auf der ganzen Welt in massivem Ausmaß Menschenrechtsverletzungen zu ermöglichen. Das ergab eine groß angelegte Untersuchung des Leaks von 50.000 Telefonnummern potenzieller Überwachungsziele[3].» 15.000 der insgesamt 50.000 betroffenen Telefone wurden in Mexiko ausspioniert, darunter auch das des amtierenden Staatspräsidenten López Obrador. Dennoch hat sich seine Regierung nicht zufriedenstellend zu der Frage geäußert, ob das System weiterhin benutzt wird und ob dessen Einsatz in einem Gewirr von Korruption, illegaler Spionage, Straflosigkeit, Machtmissbrauch und gravierenden Lücken in der Cybersicherheit rechtmäßig war. [4]

3. Zugang zu gerechten und fairen Verfahren:

Ende Juni dieses Jahres erwirkten zehn zivilgesellschaftliche Organisationen eine Anhörung vor der Interamerikanischen Menschenrechtskommission über die Durchführung von virtuellen Gerichtsverhandlungen in Strafverfahren während der Pandemie.[5] Sie hatten festgestellt, dass die häufigen Online-Verhandlungen zu weniger gerechten Verfahren geführt hatten. Das Recht auf einen fairen Prozess wurde oftmals verweigert, willkürliche Verhaftungen und Folter nahmen zu und es kam zu ungerechtfertigten Anordnungen von Untersuchungshaft. Davon betroffen waren und sind insbesondere vulnerable Bevölkerungsgruppen, wie z. B. mittellose Frauen.

Die Organisationen beklagten sich auch darüber, dass das Format der Online-Verhandlungen die ohnehin im Strafrechtssystem herrschende Bürokratie noch weiter verschärft habe. Insbesondere in der Anfangsphase eines Prozesses seien die mit der Verfahrensaufsicht betrauten Richter bestrebt, die Verhandlungen zu beschleunigen, ohne Raum für eine wirksame Strafverteidigung zu lassen, bei der z. B. geltend gemacht werden könnte, wenn die Polizei willkürlich verhaftet, ihre Macht missbraucht oder exzessiv Gewalt angewendet hat oder wenn sie Isolationshaft und Folter eingesetzt hat.

Manchmal werden Beschuldigte in einem Büroraum des Gefängnisses vor einen Computer gesetzt, wobei ihr Verteidiger sie nicht begleiten darf, sondern nur online zugeschaltet wird, und dies unter strengster Beobachtung von Strafvollzugsbeamten, Vertreter/innen der Staatsanwaltschaft oder sogar der Polizist/innen, von denen die Gefangenen möglicherweise misshandelt worden sind.

Deshalb fordern die Organisationen, dass Strafprozesse in der Anfangsphase stets in Form von Präsenzverhandlungen durchgeführt werden.

Governance im Cyberspace ... dringend notwendig!

Die demokratischen Herausforderungen im Cyberspace sind groß und es bedarf dringend einer Steuerung. Es braucht ein Konzept von demokratischer Governance, das u.a. auch die Beteiligung von Regierungen, Privatwirtschaft, Gesellschaft, Wissenschaft und betroffenen Gemeinden vorsieht.

 Hierzu gehört auch die Idee einer demokratisch legitimierten territorialen Governance, um den Cyberspace als öffentlichen Raum neu zu denken und ihn schrittweise von Monopolisten wie Amazon, Google, Facebook, Twitter und Apple zu befreien.[6] Eine direkte Mitwirkung der lokalen Gemeinden an den Planungs-, Regulierungs-, Organisations- und Entscheidungsprozessen von allgemeinem Interesse könnte so in den Vordergrund rücken. In diesem Sinne muss Governance im Cyberspace inklusiv gestaltet sein und die Vielfalt an Bedürfnissen und spezifischen Interessen der Menschen in den Mittelpunkt stellen, so dass sie ihre bürgerlichen Freiheiten in vollem Umfang ausüben können, wie sie dies auch in der analogen Welt tun könnten. Dies geht weit über eine rein passive Rolle hinaus.

Die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung bildet hierfür den Ausgangspunkt.[7] Sie gibt neben anderen Aspekten einen Fahrplan für den Kampf gegen Armut und die Klimakrise vor. In der Regel wird die Agenda 2030 mit Aktionen im physischen Raum in Verbindung gebracht, jedoch sollte auch die digitale Ebene künftig immer mit einbezogen werden.

Perspektivisch erfordert Governance im Cyberspace: 1) die digitalen Rechte als Menschenrechte zu verstehen; 2) uns, die wir daran teilnehmen, als Bürgerinnen und Bürger zu betrachten; 3) den Cyberspace schrittweise zu entkolonialisieren, indem der Handlungsspielraum der Konzerne eingeschränkt wird und in gleichem Maße die Optionen für eine freie Nutzung, z. B. von Software und öffentlichen Dienstleistungen, ausgeweitet werden; 4) die Informations- und Kommunikationstechnologien zur Bewältigung von Problemen zu nutzen, die unser Überleben gefährden, wie zum Beispiel die Umwelt-, Ernährungs-, Gesundheits- und Bildungskrise; und schließlich 5) der Verhütung und Bekämpfung von Gewalt und Ungleichheit einen größeren Stellenwert einzuräumen. 


[1] CEPAL: «Una mirada regional al acceso y tenencia de tecnologías de la información y comunicaciones – TIC, a partir de los censos (Ein regionaler Blick auf den Zugang und Besitz von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) anhand der Volkszählungen)»,Chile, 2018. Verfügbar unter: https://www.cepal.org/es/enfoques/mirada-regional-al-acceso-tenencia-te… (Zugriff am 07.08. 2021).

[2] INEGI: «Encuesta para la Medición del Impacto COVID-19 en la Educación (ECOVID-ED) 2020 (Umfrage zur Ermittlung der Auswirkungen von COVID-19 auf das Bildungswesen (ECOVID-ED) 2020)», Technische Anmerkung: 2. Auflage, Mexiko, 2020.Verfügbar unter: https://www.inegi.org.mx/contenidos/investigacion/ecovided/2020/doc/eco… (Zugriff am 10.08.2021).

[3] Amnesty International: ««Projekt Pegasus»: Spionagesoftware späht Medien und Zivilgesellschaft aus», 2021. Verfügbar unter: https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/projekt-pegasus-spionage-sof… (Zugriff am 06. 10. 2021).

[4] Ferri, Pablo: «El «caso Pegasus»: así evolucionó la amplísima red de vigilancia sostenida desde el Gobierno de México (Der «Fall Pegasus»: So entwickelte sich das ausgedehnte Netz dauerhafter Überwachung durch die mexikanische Regierung)», El País, 2021. Verfügbar unter:  https://elpais.com/mexico/2021-07-25/el-caso-pegasus-asi-evoluciono-la-… (Zugriff am 11.08.2021).

[5] Fair Trials: «Fair Trials pide el fin de las audiencias virtuales en procedimientos penales en América Latina (Fair Trials fordert eine Beendigung virtueller Verhandlungen in Strafverfahren in Lateinamerika)», 2021. Verfügbar unter: https://www.fairtrials.org/news/fair-trials-pide-el-fin-de-las-audienci… (Zugriff am 10.08.2021).

[6] Scott, Galloway: «Four. El ADN secreto de Amazon, Apple, Facebook y Google (The Four: Die geheime DNA von Amazon, Apple, Facebook und Google)», 2018, Conecta, Mexiko, S. 67.

[7] Vereinte Nationen: «La Asamblea General adopta la Agenda 2030 para el Desarrollo Sostenible», USA, 2015. Verfügbar unter: https://www.un.org/sustainabledevelopment/es/2015/09/la-asamblea-genera… (Zugriff am: 4. 08.2021).


Übersetzung aus dem Spanischen: Beate Engelhardt

Dieser Artikel ist Bestandteil des Dossiers Cybergesetze, Bitcoins und Empowerment: Demokratie und digitaler Wandel in Lateinamerika