Die digitale Kluft überwinden - Soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika ist auch eine Frage der Konnektivität

Analyse

Der lateinamerikanisch-karibische Raum ist die Weltregion mit der größten sozialen Ungerechtigkeit. Dies spiegelt sich auch im Zugang und in der Nutzung digitaler Technologien wider.

Illustration "Die digitale Kluft überwinden"

Laut einem Bericht des COVID-19-Observatoriums der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL)[1] verfügten zu Beginn der Pandemie 60 Prozent der Haushalte in dieser Region über einen Internetanschluss – zu wenig, angesichts des erhöhten Bedarfs durch Homeoffice und virtuellen Schulunterricht. Aus dem Bericht geht außerdem hervor, dass die Download-Geschwindigkeit in zwei Dritteln der Staaten nicht ausreichend war. Bei einem Vergleich zwischen Stadt und Land sieht die Lage noch düsterer aus: In den Städten besitzt einer von drei Haushalten keinen Internetanschluss; auf dem Land hingegen beläuft sich der Anteil auf mehr als drei Viertel. Dem Bericht zufolge muss die ärmste Bevölkerung zwischen 12 und 14 Prozent ihres Einkommens für Internetkosten aufwenden. Demgegenüber empfiehlt die UNO einen Prozentsatz von 2 Prozent.

Diese Angaben untermauern die Ergebnisse einer Untersuchung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH)[2]. Dort wurde bereits 2019 darauf hingewiesen, dass der mangelnde Zugang zu Technologien bestehende Ungleichheiten verschärft, so z.B. zwischen «Geschlechtern, geografischen Gebieten oder gesellschaftlichen Gruppen sowie zwischen und innerhalb von Staaten». Die digitale Kluft bezieht sich nicht nur auf den Zugang zum Internet, sondern auch auf die Qualität der Verbindung und auf digitale Kompetenzen, die eine Verwertung der gefundenen Informationen erst möglich machen.

Kolumbien beispielsweise kommt im Hinblick auf Konnektivität, asymmetrische Zugangsbedingungen und unzureichend differenzierte Statistiken auf durchschnittliche Werte und kann deshalb als repräsentativ gelten. Eine dortige Umfrage[3] gibt Aufschluss über die Internetdichte sowie über Art und Zweck der Nutzung. Daraus lässt sich ein Indikator für die digitale Aneignung ableiten. Er lässt erkennen, dass die Menschen das Netz nicht nur zur Kommunikation und Unterhaltung nutzen, sondern auch, um sich zu bilden, zu partizipieren und virtuelle Transaktionen vorzunehmen.

Aus der Umfrage geht hervor, dass in städtischen Gebieten 62,6 Prozent der Frauen über einen Internetzugang verfügen. Bei den Männern liegt der Anteil bei 78,9 Prozent. Auf dem Land erreicht der Prozentsatz der Frauen mit Internetzugang knapp 38,5 gegenüber 65,8 bei den Männern. In beiden Fällen unterscheiden sich die Nutzungsformen ganz erheblich:

In den Städten geben 24,8 Prozent der Frauen an, das Internet überhaupt nicht zu nutzen. 48 Prozent decken darüber Grundbereiche wie Kommunikation und Unterhaltung ab. Die Quote der Frauen mit einem mittleren Nutzungsniveau – z.B. für Aus- und Weiterbildung – beläuft sich auf 24 Prozent, wohingegen der Anteil der fortgeschrittenen Nutzerinnen (z.B. mit Zugang zum Online-Banking) lediglich bei 3,3 Prozent liegt. In ländlichen Gebieten nutzen 40,9 Prozent der Frauen das Internet überhaupt nicht, für einfache Zwecke nutzen es 38,8 Prozent; auf die Gruppe derjenigen mit mittlerem Nutzungsniveau entfallen 18,6 Prozent und auf die fortgeschrittenen Nutzerinnen gerade einmal 1,6 Prozent.

Frauen werden durch eine niedrige digitale Vernetzung und geringe digitale Kompetenzen in ihren Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten eingeschränkt und geraten dadurch mit der zunehmenden Digitalisierung ins Hintertreffen. Dieses Phänomen zeigt sich überall in Lateinamerika und der Karibik und wird durch die COVID-19-Pandemie zusätzlich verschärft.   

Die Überwindung der digitalen Kluft erfordert einen differenzierten Ansatz

Die in Lateinamerika erreichte digitale Vernetzung verschleiert Probleme wie niedrige Qualität und eine unzureichende Digitalisierungsdichte bei vulnerablen Bevölkerungsgruppen, die damit bei der Entwicklung ihrer digitalen Kompetenzen zurückbleiben.

Nur durch soziale Mobilität bietet die Digitalisierung in Lateinamerika die Chance, die Folgen der Pandemie abzumildern. Die Krise dort ist eine dreifache – die der Wirtschaft, der Gesellschaft und des Gesundheitswesens. Armut und ein ungleicher Zugang zu Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten für Millionen von Menschen sind die Auslöser für die jüngsten sozialen Unruhen in Chile und Kolumbien, und ebenso auch für die Migrationskarawanen aus Mittelamerika in Richtung USA.

Damit die lateinamerikanischen Staaten die massive soziale Ungerechtigkeit – und dies bezieht sich auch auf den digitalen Bereich – überwinden und ihre Politik entsprechend ausrichten können, braucht es eine bessere Datenlage und einen besseren Wissensstand.

Alternative Lösungen zur digitalen Vernetzung

Lösungen zur digitalen Vernetzung dürfen nicht ausschließlich von privatwirtschaftlicher und Regierungsseite bereitgestellt werden. Es braucht vor allem eine größere Akzeptanz alternativer Konzepte. Kleine und mittlere Betreiber sowie gemeinschaftliche Netzwerke ermöglichen beispielweise eine Anbindung peripherer Gebiete und Bevölkerungsgruppen sowie ländlicher Regionen. Dort ist die Nachfrage oft nicht gedeckt und aufgrund ihres geringen Markt- und Absatzvolumens sind sie für große Provider wenig attraktiv.

Es gibt diesbezüglich bereits mehrere bemerkenswerte Initiativen in der Region[4]. Beispielhaft im Hinblick auf ihre Wirkung und ihr Potenzial sind die Erfahrungen aus der Anbindung indigener Gemeinden in Mexiko und aus ländlichen Randgebieten in Argentinien. In Mexiko wurden 2016 die ersten Konzessionen für einen gemeinschaftlich organisierten Erwerb, Betrieb und das Management autonomer Telekommunikations- und Funknetzwerke in fünf Bundesstaaten vergeben: Oaxaca, Guerrero, Chiapas, Puebla und Veracruz. Nach diesem Modell betreiben und verwalten die indigenen Gemeinden als Eigentümer die Infrastruktur ihres lokalen Mobilfunknetzes selbst. Die gemeinschaftliche Telefonielösung ließ Familien und Dörfer enger zusammenrücken, das Familien- und Gemeindeeinkommen erhöhte sich, Notlagen wurden besser bewältigt und selbst Menschenleben konnten gerettet werden.

Einbindung diskriminierter und vulnerabler Bevölkerungsgruppen

Der gemeinsame Aufbau von Vernetzungskapazitäten ermöglicht den Gemeinden zugleich, die Technologien bedürfnisgerecht und selbstbestimmt zu gestalten. Dies gilt auch für die vulnerabelsten Bevölkerungsgruppen. Die jüngst von der Association for Progressive Communications (APC) gesammelten Erfahrungen in Brasilien und Argentinien[5] zeigen, wie sich bestehende Netzwerke infolge der COVID-19-Pandemie anpassen mussten, wie sie expandieren und wie sie die gemeinschaftliche Selbstorganisation befördern.

Laut APC-Bericht hat das Netzwerk «Red Comunitaria Atalaya Sur Villa 20» wichtige Informationen für die Bevölkerung der verschiedenen Stadtteile von Buenos Aires veröffentlicht. Von einem Tag auf den anderen stieg daraufhin die Internetnutzung um 50 Prozent, so dass zunächst die Netzstabilität der einzelnen Haushalte beeinträchtigt war. Mittlerweile ist es gelungen, die individuelle Bandbreite zu stabilisieren, und immer mehr Einwohnerinnen und Einwohner schließen sich dem kommunalen Netzwerk an.

In Brasilien kommunizieren Frauen über Podcasts im Netzwerk «Portal sem Porteiras» und knüpfen darüber Kontakte. In Vale do Ribeira konnten Bäuerinnen aus indigenen Gemeinschaften nach der Streichung von Transportzuschüssen ihre Einkünfte und den Verkauf ihrer landwirtschaftlichen Erzeugnisse dank der durch das Gemeinschaftsnetzwerk ermöglichten Selbstverwaltung und ihrer Verbindungen zu feministischen Netzwerken stabil halten. Frauengruppen wie MariaLab haben Informationsmaterialien zur Selbstfürsorge und zur Anzeige von Fällen häuslicher Gewalt erstellt.

Rechteorientierte öffentliche Politiken

Bei der politischen Gestaltung der Digitalisierung sollte der Internetzugang als Instrument zur Wahrnehmung weiterer Rechte betrachtet werden. Dazu gehören unter anderem das Recht auf freie Meinungsäußerung, das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, das Recht auf eine direkte oder indirekte Beteiligung an der Regierung des jeweiligen Landes, das Recht auf Bildung sowie das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung. All diese Rechte können von den virtuellen Räumen profitieren.

Im Mai 2020 legten die Vereinten Nationen einen Fahrplan für digitale Kooperation vor[6]. Darin werden acht Maßnahmen vorgeschlagen, um eine sicherere und gerechtere digitale Welt zu erreichen. Über Zugangsverbesserungen hinaus beinhalten die Empfehlungen auch die digitale Inklusion, insbesondere für vulnerable und ausgegrenzte Bevölkerungsgruppen. Der Fahrplan räumt ein, dass neben einer geschlechtsspezifischen digitalen Kluft noch weitere Trennungslinien bestehen, so z.B. gegenüber Migrantinnen und Migranten, Geflüchteten, Binnenvertriebenen, älteren Menschen, Jugendlichen und Kindern, Menschen mit Behinderung, ländlicher Bevölkerung und indigenen Völkern.

Das Internet hat die Art und Weise verändert, in der wir Kontakte knüpfen und kommunizieren, und es wirkt immer stärker in unsere Interaktionen mit dem Staat hinein. Die bestehende digitale Kluft muss unter Berücksichtigung aller denkbaren Optionen überwunden werden, und zwar nicht nur durch Marktöffnung und Subventionsprogramme der Regierungen, sondern auch dadurch, dass bei politischen Entscheidungen, von denen die vulnerabelsten Gruppen stets am stärksten betroffen sind, die Belange der  Bevölkerung in den Mittelpunkt gerückt werden. Um aber dort, wo es am notwendigsten ist, besonders wirkungsvoll tätig werden zu können, sind differenzierte Daten zur jeweiligen spezifischen Lage erforderlich. Auch Statistiken machen unsichtbar.


[1] Observatorio COVID-19 en América Latina y el Caribe: «Universalizar el acceso a las tecnologías digitales para enfrentar los impactos del COVID-19 (Den Zugang zu digitalen Technologien weltweit ermöglichen, um die Auswirkungen von COVID-19 zu bewältigen)», Chile, 2021. Verfügbar unter: https://www.cepal.org/sites/default/files/presentation/files/final_fina… (Zugriff am 25. 05.2021).

[2] Comisión Interamericana de Derechos Humanos: «Pobreza y Derechos Humanos (Armut und Menschenrechte)», Costa Rica, 2017. Verfügbar unter: https://www.cepal.org/sites/default/files/presentation/files/final_fina… (Zugriff am 25. 05. 2021).

[3] Daten zur digitalen Aneignung finden sich auf der Plattform «Viadata» des Nationalen Beratungszentrums (Centro Nacional de Consultoria).Verfügbar unter: http://www.centronacionaldeconsultoria.com/viadata (Zugriff am 25.05. 2021).

[4] Baca, Carlos; Belli, Luca; Huerta, Erick; Velasco, Karla: «Redes Comunitarias en América Latina: Desafíos, Regulaciones y Soluciones (Gemeinschaftsnetzwerke in Lateinamerika: Herausforderungen, Regulierungen und Lösungen», APC, FGV Direito Rio, Redes por la diversidad, equidad y sustentabilidad A.C., erschienen bei: Internet Society, USA, 2018. Verfügbar unter: https://www.internetsociety.org/wp-content/uploads/2018/11/2018-Redes-C… (Zugriff am 25. 05. 2021).

[5] REDES A.C. in Zusammenarbeit mit APC: «Las redes comunitarias ante el COVID-19 en Latinoamérica (Gemeinschaftliche Netzwerke in Zeiten von COVID-19 in Lateinamerika)» Südafrika, 2020. Verfügbar unter: https://www.apc.org/es/news/las-redes-comunitarias-ante-el-covid-19-en-… (Zugriff am 31.05.2021).

[6] Generalsekretär der Vereinten Nationen: «Roadmap for Digital Cooperation», USA, 2020. Verfügbar unter: https://www.un.org/es/content/digital-cooperation-roadmap/ (Zugriff am 25.05.2021).


Übersetzung aus dem Spanischen: Beate Engelhardt

Dieser Artikel ist Bestandteil des Dossiers Cybergesetze, Bitcoins und Empowerment: Demokratie und digitaler Wandel in Lateinamerika