El Salvador: Der Kampf um Währungssouveränität oder virtuelles Casino?

Interview

Fördert der Bitcoin tatsächlich die finanzielle Teilhabe, neue Arbeitsplätze und eine Modernisierung des Landes? Und wer zahlt die Zeche, wenn das Experiment misslingt?

Illustration zu El Salvador und Währungssouverenität

Korruption, Bandenwesen, eine prekäre wirtschaftliche Lage und die Bedrohungen durch den Klimawandel haben über 1,5 Millionen Salvadorianer/innen in die Migration getrieben. Als die Covid-19-Pandemie ausbrach, lasteten noch immer das Erbe von 20 Jahren Bürgerkrieg und die ausstehende Umsetzung der Friedensvereinbarungen von 1992 auf dem Land. Die Pandemie hat die in Armut lebende Bevölkerung auf 33,8 Prozent[1] ansteigen lassen und das Land noch abhängiger von den Überweisungen («Remesas») der im Ausland lebenden Salvadorianer/innen gemacht, die sich auf 20 Prozent[2] des Bruttoinlandsprodukts belaufen.

Während der Pandemie setzte die Regierung von Nayib Bukele ein ehrgeiziges Sofortprogramm um – mit Sozialtransfers an die ärmsten Haushalte und Zahlungsaufschüben für öffentliche Dienstleistungen und Hypotheken. Diese Maßnahmen haben dazu beigetragen, die Popularität des Präsidenten von derzeit 85 Prozent[3] zu festigen, und ihm darüber hinaus ermöglicht, seine politische Agenda trotz der internationalen Besorgnis über seinen autoritären Führungsstil widerstandslos voranzutreiben. Im Februar 2021 gewann die Regierungspartei Nuevas Ideas 66 Prozent der Sitze im Parlament. Seitdem hat sie die Justiz nach eigenem Gutdünken reformiert, den Generalstaatsanwalt abgesetzt sowie auch mehrere Richter des Verfassungssenats am Obersten Gerichtshof[4]. Mit der Neubesetzung des Senats wurde der Weg frei für die unmittelbare Wiederwahl des Präsidenten, trotz des verfassungsrechtlichen Verbots.

Im Juni kündigte Präsident Bukele in Miami[5] vor einer Gruppe von Kryptoinvestoren überraschend an, dass sein Land Pionierarbeit leisten und den Bitcoin als gesetzliches Zahlungsmittel einführen werde. Innerhalb von 72 Stunden nach dieser Ankündigung kam die Nationalversammlung dem Wunsch des Präsidenten nach und verabschiedete das «Bitcoin-Gesetz»[6], das drei Monate später, am 7. September, in Kraft trat.

In seiner Rede auf der Bitcoin-Konferenz erläuterte der Präsident die Gründe: «Kurzfristig werden dadurch Arbeitsplätze geschaffen und Tausende von Menschen können in den regulären Arbeitsmarkt eingegliedert werden [...] Mittel- und langfristig hoffen wir, dass diese kleine Entscheidung dazu beitragen kann, die Menschheit zumindest ein wenig in die richtige Richtung zu bringen.»[7] Ende Juni warf der Präsident in einer Fernsehrede an die Nation den Kritikern des Bitcoin-Gesetzes vor, den Artikel 7 des Gesetzes falsch darzustellen. Er erklärte, dass das bimonetäre System (Dollar und Bitcoin als offizielle Währungen) auf Freiwilligkeit beruhe. Seine Äußerungen waren jedoch sehr widersprüchlich, da in Artikel 7 keineswegs die «Freiwilligkeit» verankert ist, sondern das Gegenteil. Der Bitcoin muss als Zahlungsmittel akzeptiert werden, Ausnahmen sind nur dann erlaubt, wenn die technischen Voraussetzungen fehlen. Die Ausnahmen sind in

Artikel12 festgehalten.

Bitcoin ist eine Kryptowährung[8], deren Wert von Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Aufgrund der hohen Volatilität des Bitcoins kann er nicht wie der Dollar oder Euro als Leitwährung benutzt werden. Es gibt keine Regulierungsbehörde, und für das sogenannte Mining werden als technologische Basis (Blockchain) Millionen von Servern auf der ganzen Welt benötigt. Nach der Bitcoin-Entscheidung der Regierung beginnt der Rückhalt Bukeles in der Bevölkerung nun zu bröckeln; denn das Bitcoin-Mining ist sehr energieintensiv und lediglich 50 Prozent der Bevölkerung verfügen überhaupt über einen Internetzugang.

Wir haben mit der Finanzexpertin Tatiana Marroquín und dem Wirtschaftswissenschaftler Ricardo Castaneda (beide aus El Salvador) über die Auswirkungen des Bitcoin-Gesetzes gesprochen.

Juliana González Ríos (JGR): Bukele hebt im Zusammenhang mit der Einführung des Bitcoins als Vorteile hervor, dass mehr Menschen Zugang zu den Finanzinstitutionen bekämen und die Transferkosten für die Remesas geringer würden, ein sehr wichtiger Punkt, angesichts der circa 2,3 Millionen Salvadorianer/innen, die im Ausland leben. Wie stichhaltig sind diese Argumente? Dient der Bitcoin tatsächlich dazu, den am stärksten marginalisierten Bevölkerungsgruppen eine Stimme zu geben und ihre finanzielle Teilhabe zu fördern?

Tatiana Marroquín (TM): Bei der Frage der finanziellen Teilhabe geht es nicht nur um den Zugang zu Girokonten. Die Erwerbsbevölkerung verdient einfach zu wenig, um sparen zu können, oder hat auch kein regelmäßiges Einkommen, um einen Kredit zu bekommen. Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Remesas im Wesentlichen das Überleben sichern und nicht zum Sparen verwendet werden. El Salvador ist einzig und allein durch die Geldüberweisungen aus dem Ausland in der Lage, sein derzeitiges Konsumniveau zu finanzieren. Die Menschen könnten die «Chivo»-Wallet[9] für ihre Transaktionen benutzen, aber da kommt die Volatilität ins Spiel. Man spart ja auf ein Vermögen hin, in der Annahme einer gewissen Wertstabilität. Wie soll die Bevölkerung eine Möglichkeit zum Sparen finden – und dies nicht nur wegen der Alltagsschwierigkeiten –, wenn ein wesenseigenes Problem des Bitcoins sein Werterhalt ist?

Ricardo Castaneda (RC): Selbst äußerst wohlwollend betrachtet wird der Bitcoin nur für eine Handvoll Leute aus dem informellen Sektor hilfreich sein, die jetzt lediglich Bargeld bekommen, sich aber mit dem Bitcoin einen größeren Kundenkreis erschließen können. Für die Nutzung von Bitcoins braucht es ein Smartphone und Datenvolumen. In El Salvador gibt es aber Menschen, die noch immer keinen Strom und keinen Zugang zum Internet haben. Sie sind folglich schon allein deshalb ausgeschlossen. Benutzt man das traditionelle Bitcoin-System für den Transfer der Remesas, könnte das teurer werden. So muss beispielsweise eine in den USA lebende Person Bitcoins kaufen und dafür eine Gebühr zahlen. Der Empfänger oder die Empfängerin in El Salvador muss diese Bitcoins in US-Dollar umtauschen und dafür ebenfalls eine Gebühr entrichten. Dann muss sie das Bargeld am Automaten abheben und dafür eine weitere Gebühr zahlen. Die Regierung behauptet, dass bei der Nutzung ihres «Chivo»-Wallets keine Gebühren anfallen. Das aber ist nur ein Trick. Es gibt sehr wohl eine Gebühr, nur wird sie vom gesamten Land finanziert, d.h. über Steuern. Früher wurde die Gebühr von der Person bezahlt, die die Überweisung vornahm. Automaten und Wallets sind jetzt aus Landesmitteln finanziert worden. Das Finanzministerium hat im Parlament 205,3 Millionen US-Dollar angefordert, um die Startkosten des Bitcoin-Gesetzes zu decken. Das entspricht 20 Prozent des gesamten Gesundheitsbudgets. Die Öffentlichkeit erfährt davon nichts.

JGR: China verbietet das Bitcoin-Mining, unter anderem wegen der damit verbundenen Umweltbelastung. Könnte das Schürfen nach Kryptowährungen in El Salvador Arbeitsplätze schaffen?

TM: Möglicherweise liegt einer der Nutzeffekte des Bitcoins nicht in der finanziellen Teilhabe und auch nicht in den Transaktionen, sondern darin, dass ausländische Investitionen angelockt werden, entweder durch die Bitcoins selbst oder das Mining. Für diese Art von Technologie werden aber nur wenige Arbeitskräfte gebraucht. Zweitens erfordert eine solche Arbeit sehr spezifische Fachkenntnisse, die bei der Mehrheit der salvadorianischen Bevölkerung gar nicht vorhanden sind und auch nicht sofort erworben werden können. Dann ist das Mining sehr energieintensiv. Der Präsident hat zwar saubere Energie versprochen, wenn man allerdings die Daten analysiert, so stellt man fest, dass der höchste Anteil des Verbrauchs in El Salvador nicht aus erneuerbaren Energiequellen stammt. Tatsächlich müssen wir Energie importieren. Insofern sind wir gar nicht in der Lage, Arbeitskräfte und zusätzliche Energie für diese Art von Unternehmungen bereitzustellen.

JGR: Welche Strategie steckt dann hinter der Einführung des Bitcoins?

RC: Eine Hypothese ist, dass alle Menschen, die jetzt Bitcoins besitzen, ihren Blick auf El Salvador richten und dadurch Investoren angelockt werden. Eine weitere Hypothese ist, dass die Bitcoin-Entscheidung vor dem Hintergrund des Demokratieabbaus im Land gefallen ist, weil befürchtet wird, die USA könnten Sanktionen verhängen. Solche Sanktionen könnten sich negativ auf die Geldüberweisungen aus dem Ausland auswirken oder zur Einfrierung der Vermögen von Staatsbediensteten führen. Wenn du Bitcoins besitzt, ist es für das traditionelle Finanzsystem schwieriger, dich mit irgendwelchen Sanktionen zu belegen.

JGR: Kann der Bitcoin dazu beitragen, das Land zu modernisieren?

RC: Das Ganze steckt noch sehr in den Anfängen. Zunächst einmal verfügt das Land noch nicht einmal über einen Plan für große Vorhaben bis 2024. Wir vom Zentralamerikanischen Institut für Steuerforschung (Instituto Centroamericano de Estudios Fiscales, ICEFI) sehen für eine Modernisierung des Landes drei Grundvoraussetzungen: die Energiewende und die Transformation der Wirtschaft; die Schaffung formaler Arbeitsmärkte – 70 Prozent der salvadorianischen Bevölkerung sind im informellen Sektor tätig – und schließlich ein leistungsfähiger Staat, d.h. ein Staat, der Rechenschaft ablegt, der die institutionellen demokratischen Strukturen stärkt. Anderenfalls ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein Land die Dynamik der Ausgrenzung, der Armut und der geringen Innovation mit einer isolierten Maßnahme umkehren kann.

JGR: Wer sind die großen Gewinner der Bitcoin-Einführung in El Salvador?

TM: Zum Beispiel diejenigen, die bereits Bitcoins besessen haben und deren Wert durch den Überschwang Bukeles nun in die Höhe getrieben wird. Aus journalistischen Recherchen wissen wir, dass vor allem Personen, die dem Präsidenten und seiner Partei nahestehen, davon wirtschaftlich profitieren.

JGR: Wer zahlt dafür die Zeche, und was ist, wenn das Experiment misslingt?

RC: Die Rechnung zahlen die Bürgerinnen und Bürger. Der Schaden kann sehr folgenschwer sein. Auch wenn es paradox klingt: Es ist durchaus im Interesse der Regierung, wenn es keine Massennutzung des Bitcoins gibt, denn sie würde die ungeheuren Risiken befeuern. Folgende Risiken gibt es: El Salvador könnte als Geldwäsche- und Steuerparadies betrachtet werden, multilaterale Organisationen könnten dem Land den Geldhahn zudrehen und damit die finanzielle Situation des Landes verschärfen. Eine Massennutzung des Bitcoins würde sich in einer Erhöhung der Produktpreise niederschlagen, denn zuallererst würden die Unternehmen die Preise anheben, um sich gegen die Volatilität des Bitcoins abzusichern. Ebenso würden die Zinssätze steigen. Wir haben davor gewarnt, dass alle Bürgerinnen und Bürger die Kosten tragen werden, selbst diejenigen, die keine Bitcoins nutzen.

JGR: Wie erklären Sie sich, dass ein Gesetz zu einem derart komplexen Thema, für das es noch nirgendwo auf der Welt ein Beispiel gibt, innerhalb von fünf Stunden im

Parlament erörtert und durchgewunken wurde?

TM: Das Parlament ist mehrheitlich mit Abgeordneten der Bukele-Partei Nuevas Ideas besetzt. Dementsprechend sind die meisten Entscheidungen, die im Kongress getroffen werden, weder durchdacht noch stützen sie sich auf fachliche Kompetenz. Es geht einzig und allein um die Frage, ob sie von der Regierung gewünscht sind oder nicht.

JGR: Was fehlt dem Präsidenten noch zur vollständigen Kontrolle?

RC: Bislang haben die Menschen dem Präsidenten alles durchgehen lassen, so klatschten sie Beifall bei der Absetzung von Richtern und des Generalstaatsanwalts, oder sie schwiegen dazu, weil sie davon nicht betroffen waren. Mit dem Bitcoin aber hat sich etwas verändert, denn jetzt geht es ihnen ans Portemonnaie.

Als Reaktion auf die Durchsetzung des Bitcoins hat es zum ersten Mal Straßendemonstrationen gegen die Regierung gegeben. Wie zwingend wird das Bitcoin-Gesetz in Zukunft sein?

RC: Der Präsident höchstpersönlich hat versichert, dass es nicht zwingend sei. Artikel 1 und Artikel 7 sind allerdings ganz eindeutig. Wenn beispielsweise jemand derzeit Löhne in Bitcoins ausbezahlen möchte, kann er dies tun. Laut Arbeitsgesetzbuch wird dein Lohn in einer gesetzlichen Währung ausbezahlt; es spricht nicht vom US-Dollar. Was geschieht jetzt in der Praxis? Viele Leute hatten Angst und wollten erst einmal abwarten, wie die Bitcoin-Einführung am 7. September 2021 ablaufen und das «Chivo»-Wallet mit Unterstützung der Regierung starten würde. Jetzt aber wissen wir, dass dahinter ein privates Unternehmen steckt, das über öffentliche Gelder finanziert und von Mitgliedern des Bukele-Clans verwaltet wird – und dass es ein Flop ist. Der Bitcoin bedeutet eine gigantische Feuerprobe für den Präsidenten. Wenn er intelligent ist, wird er die Bevölkerung anhören. Er sollte Artikel 1 und Artikel 7 ändern und den Bitcoin auf freiwilliger Basis belassen. Beharrt Bukele aber darauf, seinen Plan durchzuziehen, wird man sehen, ob dies nicht den Anfang vom Ende seines politischen Projekts einläutet.  


[1] De Rosa, Dr. Claudia M.: «Primer informe de la Situación de País 2021 (Erster Bericht der Situation im Land 2021)» Observatorio de Políticas Públicas (Beobachtungsstelle für öffentliche Politik), Universidad Francisco Gavidia, El Salvador, 2021. Verfügbar unter: https://bit.ly/3ao02MR (Zugriff am 01.10.2021).

[2] Banco Central de Reserva: «Remesas familiares suman US$4,284.9 milliones a julio 2021 (Überweisungen von der Familie aus dem Ausland belaufen sich auf insgesamt 4.284,9 Millionen US-Dollar, Stand: Juli 2021)», El Salvador, 2021. Verfügbar unter: https://bit.ly/3mzwIsu (Zugriff am 07.09.2021).

[3] Segura, Edwin: «Aprobación de Bukele, casi indemne (Bukele's Zustimmungsrate fast unverändert geblieben)», Zeitung La Prensa, El Salvador, 2021. Verfügbar unter: https://bit.ly/3BrMQSO (Zugriff am 10.09.2021).

[4] Organisation Amerikanischer Staaten(OAS): «CIDH y Experto de la ONU rechazan reformas legislativas que destituyen jueces y fiscales en El Salvador y llaman a respetar las garantías para la independencia judicial» («Die Interamerikanische Menschenrechtskommission der OAS und UNO-Experten lehnen die Gesetzesreformen zur Absetzung von Richtern und Staatsanwälten in El Salvador ab und fordern die Einhaltung der Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz»), Pressemitteilung, USA, 2021. Verfügbar unter: https://bit.ly/3ahhdjb (Zugriff am 29.09.2021).

[5] Esposito, Anthony: «El Salvador's president says will send bill to make bitcoin legal tender (El Salvadors Präsident will Gesetzentwurf zur Einführung von Bitcoin als gesetzliches Zahlungsmittel einreichen)», Reuters, 2021. Verfügbar unter: https://reut.rs/3aiODxJ (Zugriff am 07.09.2021).

[6] Dokumentationszentrum der Justiz, El Salvador: «Decreto de Ley Bitcoin (Bitcoin-Gesetzesdekret)». Verfügbar unter: https://bit.ly/3akmRAV (Zugriff am 01.09.2021).

[7] Twitterprofil Nayib Bukele: «Presentación durante conferencia de bitcoin en Miami (Präsentation während der Bitcoin-Konferenz in Miami)», 2021. Verfügbar unter:  https://bit.ly/3pilk7d (Zugriff am 10.09.2021).

[8] Die Europäische Zentralbank definiert als Kryptowährung die «digitale Darstellung eines Wertes, die nicht von einer Zentralbank, einem Kreditinstitut oder einem anerkannten E-Geld-Institut ausgegeben wird und die in einigen Fällen alternativ zum Geld als Zahlungsmittel verwendet werden kann.»Verfügbar unter: https://bit.ly/3Bl2Fe6 (Zugriff am 01.10.2021).

[9] «Chivo» ist eine von der salvadorianischen Regierung entwickelte App - eine digitale Geldbörse mit Kontonummer und PIN


Übersetzung aus dem Spanischen: Beate Engelhardt

Dieser Artikel ist Bestandteil des Dossiers Cybergesetze, Bitcoins und Empowerment: Demokratie und digitaler Wandel in Lateinamerika