Senegal: „Wenn ich es nicht weiß, frage ich – wenn ich es weiß, teile ich es“

Interview

Das Internet ermöglicht den Menschen in Senegal zunehmend, ihre Meinung zu äußern und Teil der Demokratie zu sein – das ist deutlich geworden in digitalen Initiativen wie Sunu 2012 oder #FreeSenegal. Wie wichtig hierbei auch die (panafrikanische) Vernetzung ist, erklärt der senegalesische Aktivist Cheikh Fall im Interview.

Illustration: Porträt von Cheikh Fall vor einem lila Hintergrund, im Vordergrund eine Faust, die eine Smartphone hält

Du bezeichnest dich selbst als einen „Change Agent“ und Cyberaktivisten. Was hat dich zu einem Aktivisten gemacht?

Cheikh Fall Was mich zu einem Aktivisten, einem engagierten Akteur, einem engagierten Afrikaner gemacht hat, war ein Schlüsselmoment während der Präsidentschaftswahlen 2007. Wir mussten mit ansehen, wie der damalige Präsident Abdoulaye Wade – trotz heftiger Kritik an seiner Regierungsführung – für eine zweite Amtszeit wiedergewählt wurde. Ich hatte bisher noch bei keiner einzigen Wahl meine Stimme abgegeben, da ich den Sinn darin nicht sah. Doch als mein Bruder 2007 aus seinem Wahllokal zurückkam, unterhielten wir uns. Er sagte, dass alle, die in einer Demokratie nicht zur Wahl gehen, auch keinerlei Mitspracherecht haben. Diese doch so einfache Aussage hat mich plötzlich wachgerüttelt, denn sie kam aus dem Mund einer Person, die jünger war als ich. Seit diesem Tag habe ich mir fest vorgenommen, zu kämpfen und meine Fähigkeiten darauf zu verwenden, meinem Land und meinem Kontinent zu helfen - und Andere dazu zu bewegen, Gleiches zu tun. Ich fing an, das Internet und die Informatik zu nutzen um bürgerliches Engagement zu fördern und eine partizipative Demokratie durch „mündige Bürger*innen“ („citoyenneté augmentée“) zu schaffen. Die Möglichkeiten des Internets haben mich letztendlich zu einem Aktivisten gemacht.

Vor zehn Jahren hast du das Online-Projekt Sunu 2012 („Unser 2012“) ins Leben gerufen. Kannst du uns ein bisschen mehr darüber erzählen?

Auslöser dafür war der Weckruf meines Bruders in 2007. Ab diesem Zeitpunkt begann ich eine intelligente Plattform zu programmieren, die dabei helfen sollte, die nächsten Wahlen 2012 zu organisieren. Ziel war es, die Bürger*innen zu informieren und zu mobilisieren, und die Wahlen mit Hilfe von digitalen Überwachungsnetzwerken zu beobachten. Zu diesem Zeitpunkt war das in Senegal eine Neuheit: eine digitale Bürgerplattform, die von einem Senegalesen für andere Senegales*innen entworfen wurde.

Was genau war daran neu?

Mit Sunu 2012 haben wir uns zum Beispiel das Wahlgesetz und die Verfassung vorgenommen und die doch sehr formelle juristische Sprache in einer Reihe von Tweets und Posts auf Facebook zusammengefasst und anhand von Infografiken vereinfachend dargestellt. Infos wie „Präsidenten haben eine Menge Macht, schaut euch die politische Agenda und das Wahlprogramm vor der Wahl ganz genau an“, aber auch konkrete Tipps wie „Wer das T-Shirt seines Kandidaten trägt, um wählen zu gehen, kann dafür bestraft werden!" wurden somit schnell zugänglich gemacht und in das Bewusstsein der Leute gebracht. Dann gab es auch Botschaften über die generelle Bedeutung von Wahlbeteiligung oder Analysen von Problemen vorangegangener Wahlen.

Im Vorlauf und während der Wahlen 2012 gab es auch unglaublich viele Demonstrationen, vor allem aufgrund der umstrittenen Kandidatur des scheidenden Präsidenten Abdoulaye Wade. Die Opposition und viele Bürger*innen fanden in der Bewegung Y’en a marre („Wir haben es satt“) ihr Sprachrohr.

Sunu 2012 war mit vor Ort, postete live auf Facebook und anderen Kanälen und informierte somit die ganze Welt über das Geschehen in Senegal. Wir statteten hunderte junge Senegales*innen mit Handys aus und verteilten sie auf unterschiedliche Wahllokale, um den Prozess zu überwachen und die Ergebnisse aufzuzeichnen. In unserem Hauptquartier in Dakar sammelten und bündelten wir die Informationen. So war es möglich, dass wir die vorläufigen Ergebnisse – bzw. zumindest einen Trend – am Wahltag bereits um 21 Uhr senden konnten. Aus internen Kreisen wissen wir, dass unsere Nachricht zum vorläufigen Ergebnis die Grundlage dafür war, dass der scheidende Präsident Wade seinen Gegner Macky Sall anrief, um ihm zum Sieg zu gratulieren. Dank unserer Arbeit konnten auch die traditionellen Medien, vor allem die Fernsehsender, die Ergebnisse in Echtzeit übertragen.

Du bist auch Mitbegründer des panafrikanischen Netzwerks von Online-Aktivist*innen und Blogger*innen, Africtivistes. War der Erfolg von Sunu 2012 auch eine Art Startschuss für dieses Netzwerk?

Nach dem Erfolg von Sunu 2012 wurde ich in mehrere afrikanische Länder eingeladen, um die senegalesischen Erfahrungen mit der Revolution und dem Monitoring der Präsidentschaftswahlen durch die Bürger*innen zu teilen. Viele junge Leute, die ich traf, ob in Guinea, Mali, der Elfenbeinküste, Benin, Togo oder anderswo, äußerten den Wunsch, bei sich im Land dasselbe zu tun. Sie alle wollten das von mir mit einer Open-Source-Lizenz kostenlos angebotene, frei zu kodierende Modell Sunu 2012 nachbauen. Ich habe die jungen Leute dabei unterstützt, ihre Netzwerke aufzubauen und Bürgerinitiativen zu gründen. So entstanden zum Beispiel: „Guinea vote", „Mali vote", „Benin vote", „Burkina vote", „Togo vote" und viele andere Initiativen.

Das große Interesse der jungen Leute zeigte mir, dass der Wunsch nach politischem Wandel und Mitbestimmung groß ist, gleichzeitig aber auch Angst vorherrschte, weil viele von ihnen unter sehr restriktiven Regimen lebten. Also fragte ich mich: Was bringt es jungen Leuten, Netzwerke zu bilden und Initiativen zu gründen, wenn es ihnen am Ende an der für die Umsetzung erforderlichen Freiheit mangelt? So entstand die Idee eines panafrikanischen Netzwerks, das alle jungen politischen „Change Agents“ des digitalen Bereichs (Blogger*innen, Programmierer*innen etc.) zusammenbringt. 2015 wurde bei einem Gipfeltreffen in Dakar mit 150 Teilnehmenden aus unterschiedlichen afrikanischen Ländern Africtivistes ins Leben gerufen.

Du sprachst davon, dass viele der jungen Aktivist*innen sich in restriktiven politischen Kontexten bewegen. Sind auch Aktivist*innen aus der Diaspora Teil von Africtivistes?

In der Tat leben die meisten Aktivist*innen von Africtivistes außerhalb des Kontinents. Wir sprechen hier von jungen Menschen, die zu Hause nicht frei genug sind, um ihr Engagement auszudrücken und sich gezwungen sehen, zu fliehen oder zu gehen. Viele von ihnen landen in Europa, manchen haben wir bei der Flucht geholfen, beispielsweise ein Flugticket gekauft. Andere wiederum unterstützen wir dabei, eine sichere Bleibe zu finden. Ich spreche hier von jungen Afrikaner*innen, die in anderen Ländern, auf anderen Kontinenten leben, und von dort „kämpfen“. Im Kongo oder im Tschad wird bei politischen Ereignissen oft das Internet abgeschaltet. In diesen Fällen ist es dann die afrikanische Diaspora, die über Africtivistes für die lokalen Akteur*innen einspringt und sich zum Sprachrohr der Menschen erhebt, die mundtot gemacht werden sollen. Das Verebben der Stimme der Zivilgesellschaft wird somit verhindert. Es ist die Diaspora, der es heute gelingt, sich Gehör zu verschaffen und die zivilgesellschaftlichen Kämpfe auszutragen, die oft im eigenen Land nicht möglich sind. Deshalb spielt sie auch bei all unseren Aktivitäten eine so überaus wichtige Rolle.

Erst im März diesen Jahres kam es in Senegal zu massiven Protesten (#freesenegal), woraufhin die Regierung das Internet – und somit wesentliche soziale Kommunikationskanäle – abschaltete.

Diese Praxis der Einschränkung des Internets und der sozialen Netzwerke ist kein Einzelfall in Senegal. Und es ist so schade, dass es überhaupt ein Thema ist. Wir haben 2021 und eigentlich sollten wir über Demokratisierung, Zugang und über die Schließung der „digitalen Versorgungslücke“ sprechen. Aber unseren politischen Anführern fällt nichts Besseres ein, als die Zivilgesellschaft legal, subtil und brutal zu ersticken. Durch Zensur und „Internet-Shutdowns“ werden Menschen davon abgehalten, sich frei und öffentlich zu äußern. Internetüberwachung und online Bedrohungen sind allgegenwärtig.

Für wie einflussreich hältst du große internationale Unternehmen wie Google oder Facebook, die mit Facebook Zero etc. vielen Menschen kostenfrei Zugang gewähren, dabei aber Daten für ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen sammeln?

Hier stecken wir in einem Zwiespalt. Für viele unserer Aktivitäten und insbesondere die Mobilisierung sind wir auf sie angewiesen. Sie bieten uns scheinbar kostenlose Dienstleistungen, nutzen dafür im Gegenzug aber unsere persönlichen Angaben und Daten. Deshalb ist es für die Anwender*innen sehr wichtig, die wirtschaftlichen Interessen dieser Unternehmen zu verstehen. Zu verstehen, wie sie funktionieren, bedeutet sich zu schützen und genau darin liegt die gesamte Logik der Cybersicherheit. Wir müssen uns die Zeit nehmen, Datenschutzrichtlinien zu lesen.

Und es ist auch von essentieller Bedeutung, dass auf Staatsebene nicht alles akzeptiert werden darf, wenn die „digitalen Giganten“ kommen. Wenn Rechenzentren bereitgestellt oder das Internet kostenlos angeboten wird, muss ein rechtlicher Rahmen diese Bereitstellung regeln. Oberste Priorität sollte hier die digitale Souveränität und der Schutz der Bürger*innen und ihrer personenbezogenen Daten sein.

Worin liegen für dich die Hoffnungen und Risiken von Informations- und Kommunikationstechnologien?

Hoffnungen gibt es nach wie vor viele. Heute macht Afrika – auch dank dieser Technologien – Fortschritte hin zu mehr Demokratie, Rechenschaftspflicht, Transparenz und einer gerechteren Justiz. Dank des Internets wurde Korruption aufgedeckt und Verbrechen geahndet. Junge Menschen haben innovative und bahnbrechende Projekte verwirklicht. Die Jugend bringt zunehmend nicht mehr nur den „typischen Protest“ hervor, sondern auch konkrete Verbesserungsvorschläge. Wir bewegen uns in einem digitalen Umfeld, in dem es der Einfallsreichtum ist, der uns gegenseitig anfeuert. Genau das passiert gerade.

Was mir Sorge bereitet, ist die zunehmend auch im digitalen Bereich stattfindende Einschränkung des zivilgesellschaftlichen Raums durch Zensur, Internet-Shutdowns, Manipulation und Missbrauch der Technologien. Dem können wir nur entgegenwirken, wenn wir gemeinsam – und unter Einbeziehung der politischen Akteur*innen – an folgenden Punkten arbeiten:

  • Erstens müssen wir Wege finden, um das Bewusstsein über digitale Transformation und Revolution zu schärfen und zu fördern;
  • Zweitens müssen wir die Nutzer*innen in „digitaler Hygiene“ schulen. Das heißt sie darüber aufklären, wie sie die Technologien und digitalen Werkzeuge gut und sicher nutzen können;
  • Drittens ist es essentiell, die rechtlichen Rahmenbedingungen die derzeit im Cyberspace gelten, verständlich und gut zugänglich zu machen und die Nutzer*innen über ihre Rechte aufzuklären.
  • Viertens und letztens müssen wie einen sicheren Rahmen für Diskussion und Austausch schaffen, in dem die Zivilgesellschaft und die Regierungen gemeinsam digitale Lösungen finden. Anstatt ausländischen Unternehmen unsere Daten anzuvertrauen, sollten wir mit lokalem Wissen und Kompetenzen an unserer eigenen digitalen Souveränität arbeiten.

Wie lautet deine Botschaft an junge Aktivist*innen, die mit dem Cyberspace arbeiten?     

Wir sind alle Teil einer Community, eines Netzwerkes. Allein kommt man zwar weit voran, aber es kostet viel Zeit. Alleine kann man zwar viel erreichen, aber das Geschaffene hat nur einen Wert, wenn man es auch für andere zugänglich macht. Nur gemeinsam können wir weit gehen, nur gemeinsam können wir stark sein. Und das ist heute einer der Werte des Internets: „Wenn ich es nicht weiß, frage ich – wenn ich es weiß, teile ich es“.

Vielen Dank für das Interview.


Cheikh Fall ist Experte und Berater für digitale Medien, Sicherheit und Entwicklung und Mitbegründer von AFRICTIVISTES, einem panafrikanische Netzwerk mit mehr als 200 Mitgliedern aus 40 Ländern des afrikanischen Kontinents. Für sein Engagement im Bereich der digitalen Entwicklung in Afrika wurde er bereits mehrfach ausgezeichnet.