Shrinking Spaces in Afghanistan: Gesetzgebungen für NGOs und ihre Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft

Bericht

Auch unabhängig vom aktuellen Vormarsch der Taliban haben zivilgesellschaftliche Organisationen in Afghanistan keinen leichten Stand. So erfahren Nichtregierungsorganisationen (NGOs) schon seit längerer Zeit zunehmend Einschränkungen auch von staatlicher Seite. Durch seine jüngsten NGO-Gesetzgebungen verstoße der Staat allerdings nicht nur gegen die afghanische Verfassung, sondern auch gegen allgemeine Menschenrechte.

Sohaib Ghyasi

Beim nachfolgenden Text handelt es sich um die deutsche Zusammenfassung des bereits auf Englisch erscheinen Berichts von Zia Mobalegh: Limiting Space for Civil Society in Afghanistan: the implications of policies and legislations on NGOs.

Deutsche Zusammenfassung: Gita Herrmann

NGOs in Afghanistan

Eingetragene zivilgesellschaftliche Organisationen haben eine lange Tradition in der modernen Geschichte Afghanistans: Vor etwa einem Jahrhundert gründeten Gelehrte und gesellschaftliche Eliten bereits nichtstaatliche Organisationen. Im Zuge des Bürgerkriegs, Ende der 1970er Jahre, wurden viele NGOs gegründet, die hauptsächlich im Bereich humanitärer Hilfe und Grundsicherung tätig wurden und ein Minimum an sozialer Infrastruktur aufrechterhielten. Während dieser Zeit erhielten NGOs erhebliche finanzielle Unterstützung von internationalen Gebern wie dem Welternährungsprogramm (WFP) und USAID.

Seit 2001 stieg die finanzielle Unterstützung aus dem Ausland und entsprechend stieg auch die Zahl der NGOs. Mit der Entstehung eines demokratischen Staates im Jahr 2001 wurden dabei vermehrt Mittel für Initiativen im nation building bereitgestellt, was dazu führte, dass NGOs vermehrt im politischen Bereich tätig wurden. Einige Beobachter*innen bezeichnen diese Entwicklung als einen schrittweisen Wandel in der Rolle der NGOs von ausführenden Akteur*innen hin zu Vermittler*innen einer partizipativen Gemeinschaft.

2018 arbeiteten mehr als 85.000 Menschen in NGOs in Afghanistan. Damit hat der NGO-Sektor auch eine starke wirtschaftliche Bedeutung für das Land.

Gesetzliche Rahmenbedingungen für NGOs in Afghanistan

Im Juli 2005 ratifizierte die afghanische Regierung ein Gesetz, das die Tätigkeiten von NGOs im Land offiziell erlaubte. Demnach fallen diese in den Zuständigkeitsbereich des Wirtschaftsministeriums.

Dem Wirtschaftsministerium zufolge schließen NGOs effektiv die Lücke zur Bereitstellung von Dienstleistungen in abgelegenen und unsicheren Gebieten des Landes, in denen Menschen keinen oder nur sehr begrenzten Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen und Infrastruktur haben (in Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft und sozialer Sicherung). Auch das Afghanistan Analysts Network (AAN) bestätigt, dass NGO-Programme entscheidende Unterstützung in Distrikten anbieten, die umkämpft sind oder unter der Kontrolle der Taliban stehen.

Konflikt um die Verteilung internationaler Gelder

Gegenüber NGOs bestehen allerdings auch Vorbehalte – ihnen wird teils vorgeworfen, in ihrer Arbeit und Agenda von internationalen Geldgebern beeinflusst zu werden. So urteilt Omar Sadr, Politikwissenschaftler an der American University in Kabul, sie seien „nur den Geldgebern und nicht Afghanistan gegenüber rechenschaftspflichtig.“

Diese Ansicht teilt auch die afghanische Regierung und sieht internationale NGOs als Stellvertretende anderer Länder, die ihre eigene Entwicklungsagenda und Ziele für Afghanistan durchzusetzen versuchen. Hamed Karzai (Präsident von 2001-2014) äußerte sich in diesem Zusammenhang besonders drastisch und urteilt: „Die drei großen Übel, mit denen Afghanistan in seiner Geschichte konfrontiert wurde sind Kommunismus, Terrorismus und NGO-ismus“.

Der Politikwissenschaftler Danny Singh (Teesside University) ist überzeugt, dass die Diskreditierung von NGOs in direktem Zusammenhang mit dem Anspruch auf staatliche Souveränität steht. Berichte der Agency Coordinating Body for Afghan Relief (ACBAR) zeigen außerdem, dass NGOs nur einen Bruchteil der für Afghanistan verfügbaren internationalen Gelder bekommen und dass ein Großteil an die afghanische Regierung selbst geht. Vertreter*innen der Zivilgesellschaft sehen in der Kritik an NGOs daher eine gefährliche Rechtfertigungsgrundlage zur Eindämmung der Spielräume der Zivilgesellschaft.

Gesetzliche Einschränkungen

In ihrem Vorstoß, den Einfluss zivilgesellschaftlicher Organisationen zurückzudrängen, setzt die afghanische Regierung auf Überwachung und gesetzliche Einschränkung von NGOs auf nationaler und provinzieller Ebene. Unter dem Vorwand der Transparenz werden dabei neue Steuerbelastungen und Registrierungspflichten verordnet und der bürokratische Aufwand in den Arbeitsprozessen von NGOs merklich erhöht.

2017 wies Präsident Ashraf Ghani das Wirtschaftsministerium an, ein konsolidiertes „One NGO Budget“ aufzustellen, das Organisationen dazu verpflichtet, all ihre Finanzströme offenzulegen. Zuletzt wurde im Dezember 2020 ein NGO-Gesetz verabschiedet, das Regierungsvertretenden, die Teilnahme an internen Meetings, den Zugang zu internen Dokumenten und direktes Eingreifen in die Aktivitäten von NGOs gestattet. Darüber hinaus kann das Wirtschaftsministerium Lizenzen oder deren Verlängerungen ohne Begründung ablehnen.

Generell bleibt das Gesetz in seiner Formulierung vage und birgt damit die Gefahr willkürlicher Eingriffe von staatlicher Seite. So bestehen beispielswiese unklare Definitionen über Berichterstattungsprozesse, Antrags- und Berichtszeiträume. Das Gesetz besagt außerdem, dass die Aktivitäten von NGOs im Sinne des „nationalen Interesses“ und den bestehenden „religiösen Werten“ sein müssen. Was genau damit gemeint ist bleibt dabei unklar. Es schreckt jedoch NGOs im Advocacy-Bereich ab und schränkt die Offenheit des gesellschaftlichen Diskurses ein.

Von den Einschränkungen betroffen sind allerdings auch Organisationen, die außerhalb des gesellschaftspolitischen Bereichs tätig sind – so beispielsweise technische Organisationen und Wohltätigkeitsvereine. So dürfen NGOs keine Bauvorhaben durchführen, was z.B. die  Umsetzung  von Infrastrukturprojekten durch Hilfsorganisationen verhindert.

Die Einschränkungen und Regulierung von Seiten der Regierung führen zur Verlangsamung von Arbeitsprozessen, der Beendigung zahlreicher Projekte und oft auch zur endgültigen Auflösung von Organisationen. So müssen NGOs ihre Projekte einzeln beim Wirtschaftsministerium registrieren und sind von Genehmigungen der Regierung abhängig. Dabei kommt es zu Verzögerungen, welche oft zum Scheitern von Kooperationen mit internationalen Organisation führen. Infolgedessen ziehen sich internationale Geldgeber zurück, weshalb dem dritten Sektor auch zunehmend die Ressourcen ausgehen.

Verstoß gegen Verfassung und Menschenrechte

Indem die Regierung NGOs kontrolliert und bei der Arbeit behindert, schränkt sie Räume für den gesellschaftspolitischen Diskurs und die politische Teilhabe ein. Die afghanische Regierung verhält sich damit weder konform zu den allgemeinen Menschenrechten, zu deren Gewährleistung sich das Land verpflichtet hat, noch zur afghanischen Verfassung, die Versammlungs- und Organisationsfreiheit garantiert. Durch Regularien der Organisationsstruktur von NGOs greift sie in das Recht auf Vereinigungsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung ein.

Fazit

Während die afghanische Regierung die Einschränkungen von NGOs mit der Eindämmung ausländischer Einflussnahme rechtfertigt, sind die Auswirkungen vor allem für die afghanische Bevölkerung spürbar: Insbesondere marginalisierte Gruppen leiden darunter, wenn Hilfsorganisationen in ihrer Arbeit, Leistungen der Daseinsfürsorge bereitzustellen, behindert werden. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene äußern sich die Einschränkungen durch eine Schwächung von gesellschafspolitischen Diskursen und der Zivilgesellschaft im Allgemeinen. Indem die Regierung die wichtige Rolle von NGOs in diesen Bereichen verkennt, behindert sie eine nachhaltige Entwicklung Afghanistans.

Gita Herrmann arbeitet seit März 2021 als studentische Teilzeitkraft für die hbs.

⇒ Englische Langversion des Berichts von Zia Mobalegh mit dem Titel Limiting Space for Civil Society in Afghanistan: the implications of policies and legislations on NGOs