Mach was oder halt den Mund!

Portrait

Dolly Kikon betreibt feministische Wissenschaft und unterstützt die politische Teilhabe von Frauen in der Naga-Gemeinschaft (Indien).

Portrait Dolly Kikon

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers "No Women - No Peace: 20 Jahre UNSR Resolution 1325 zu Frauen, Frieden und Sicherheit"

„Nehmen Sie spontan irgendeines meiner Werke zur Hand – in jedem werden Sie ein geschlechtsspezifisches Grundgerüst erkennen. Sie werden die Stimme einer Frau, eines Mädchens oder eines Jungen heraushören. Die Gleichberechtigung der Geschlechter liegt mir sehr am Herzen und ich thematisiere sie in allem was ich schreibe“, beginnt Dolly Kikon das Interview. Ihr politisches Engagement nahm seinen Anfang mit dem Protest gegen das drakonische Sonderermächtigungsgesetz für das indische Militär AFSPA (Armed Forces Special Power Act), das den indischen Streitkräften in sogenannten „gestörten Gebieten“ (in den früheren indischen Bundesstaaten Jammu und Kashmir sowie Nagaland, Manipur, Assam und Arunachal Pradesh im Nordosten) völlige Straffreiheit gewährt. Damals konnte Kikon nicht ahnen, dass ihre Forderung nach Aufhebung dieses Gesetzes nur der Beginn einer langen Karriere als Aktivistin und feministischer Wissenschaftlerin sein würde.

Im Ruf nach Sicherheit steckt die Angst vor Bedrohung

Auch heute, als Hochschuldozentin für Anthropologie und Entwicklungsstudien an der Universität von Melbourne in Australien, kann Kikon die Verteidiger/innen des AFSPA nicht verstehen. „Recht ist nicht gleichbedeutend mit Gerechtigkeit. Wie kann es sein, dass neben all den guten Bestimmungen, die wir haben, dort ein solches außerkonstitutionelles Gesetz existieren kann, das unsere Bürger/innen traumatisiert und zulässt, dass wir unser eigenes Land aus der Luft bombardieren?“ Was Bürokrat/innen, Politiker/innen und Friedensaktivist/innen als „bewaffnete Konfliktzonen” bezeichnen, nennt Indien „gestörte Gebiete“. Hier gelten undemokratische Gesetze wie das AFSPA, es kommt zu gewaltsamen staatlichen oder staatlich geförderten Aktionen und es herrscht eine starke Militarisierung – alles im Namen der Sicherheit. Doch für Kikon bestehen keine Zweifel daran, dass hinter diesem Ruf nach Sicherheit die Angst vor Bedrohung steckt. „Indien stellt seine Bürger/innen noch immer unter Generalverdacht, und das seit seiner Unabhängigkeit in 1947! Das spiegelt doch Unsicherheiten und Ängste hinsichtlich der eigenen Fähigkeit ein Land zu führen wider.“ Indiens Kultur der Straffreiheit, die tief verwurzelt ist im postkolonialen Fundament, muss endlich problematisiert werden. „Wir können keine Gesetze wie das AFSPA bestehen lassen und dann von den Menschen erwarten, dass sie sich wie treue Bürger/innen verhalten.“

Mein Selbstverständnis ist davon geprägt, als Frau innerhalb einer Stammesgemeinschaft aufgewachsen zu sein

In ihrem ersten Buch "Living with Oil and Coal" untersucht Kikon die Zusammenhänge von Rohstoffgewinnung, Sicherheit und Menschenrechtsverletzungen. Darin argumentiert sie, dass die Sicherheit nicht den Bürger/innen eines Landes, sondern den Waren gewährt wird. „Einerseits wird der Nordosten Indiens als Ort der Gewalt und Unsicherheit gebrandmarkt, in dem Unternehmen nicht gedeihen. Gleichzeitig aber florieren seit dem 19. Jahrhundert Waren aus genau dieser Region, wie der Assam-Tee, weiterhin als globale Marke – und das sogar inmitten von bewaffneten Aufständen und Gewalt. Erklären Sie mir, wie das sein kann.“

Kikon stammt aus Dimapur, der größten Stadt in Nagaland, einem der am schnellsten wachsenden urbanen Zentren im Nordosten Indiens. Sie hat als erste ihrer Familie einen Universitätsabschluss. „Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, wird mir bewusst, dass ich mich selbst weniger durch meine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft (die der Lotha Naga) definierte, sondern dass mein Selbstverständnis vielmehr davon geprägt war, dass ich innerhalb einer Stammesgemeinschaft als Frau aufwuchs.“ Als Kind erlebte sie, wie ihre alleinerziehende Mutter unter dem Stigma einer geschiedenen Frau zu leiden hatte. Dies machte sie skeptisch und sie begann zu hinterfragen: Warum waren Frauen immer an allem schuld? Warum wurden die Männer der Familie nie für irgendetwas verantwortlich gemacht? Diese Fragen beschäftigten sie von klein auf. Die Erwachsene führt den Gedanken weiter aus. „Saubermachen beispielsweise (Wasser holen, Boden wischen, Möbel abstauben) ist ein endloser, unerbittlicher Prozess, in dem ich als Frau nie Perfektion erlangen kann. Ganz gleich wie makellos ich heute die Möbel geputzt habe – es wird wieder staubig werden. Aber dennoch ist meine Kompetenz als Frau daran gebunden, dass ich die Kunst der Haushaltsführung perfektioniere.”

„An der Universität und bei meiner Auseinandersetzung mit Genderkonzepten und -theorien wurde ich an meine eigenen Erfahrungen erinnert. Mein Studium gab mir das Vokabular an die Hand, um meine Erfahrungen artikulieren zu können.“ Zugleich mahnt Kikon zur Vorsicht. „Aber durch unser Ausdrucksvermögen laufen wir Gefahr, stumpfsinnig und abstrakt zu werden. Ich muss in der Lage sein, Gender und Gleichberechtigung sowohl einem Fünfjährigen als auch einem 23-jährigen zu erklären. Und das, was dann die Verbindung schafft, sind Handlungen und keine Worte.“ Wann und wie soll man denn dann mit Gendersensibilisierung anfangen? Kikon muss lachen: Sensibilität gegenüber einem Thema bedeute, sich diesem vorsichtig anzunähern und einfühlsam damit umzugehen. Aber bei Gender-Themen braucht es nicht Vorsicht, sondern Zügigkeit. „Wenn von Gender-Sensibilität die Rede ist, vor allem in der Entwicklungspolitik, dann geht es eigentlich darum, dass eine schnelle Lösung, ein Patentrezept gefunden werden soll. Aber das funktioniert nicht. Gendergerechte Politik ist und braucht eine sehr tief verankerte politische Verbindlichkeit.“

Betrachtet man Geschlechtergerechtigkeit unter den Gesichtspunkten Macht, Einfluss und Autorität, kommt noch ein anderer Aspekt hinzu. „Gleichberechtigung bedeutet schlicht, dass allen die gleichen Möglichkeiten offenstehen und keine Gruppe benachteiligt wird.“ Deshalb unterstützt Kikon die politische Teilhabe von Frauen in der Naga-Gemeinschaft und setzt sich zudem intensiv mit den herrschenden Gewohnheitsrechten auseinander, die Frauen aus den traditionellen Räten ausschließen. „Mein Kritikpunkt bezieht sich darauf, dass man sich nicht einfach auf Kultur berufen kann, um eine sehr wichtige Gruppe von der Beteiligung abzuhalten.“

Intergenerationelle Traumata in Konfliktgebieten

Ihre Monografie "Life and Dignity: Women’s Testimonies of Sexual Violence in Dimapur" ist für Kikon von großer persönlicher Bedeutung. Als sie sich vor 20 Jahren für Recherchen in die Konfliktgebiete in den Nordosten begab, erschütterten sie ihre Erlebnisse dort nachhaltig. „Nachdem die indische Armee ein Dorf überfallen und Frauen sexuell belästigt und vergewaltigt hatte, machten die Überlebenden der Übergriffe ihre Aussagen. Aber gleichzeitig gingen sie ihrem alltäglichen Leben nach – sie kümmerten sich um ihre Kinder, arbeiteten auf dem Feld, kochten. Die Normalisierung der sexuellen Gewalt hat mich traumatisiert.“ Kikon begriff, dass die Familien glaubten, sie würden durch ihr Schweigen die Überlebenden schützen. Doch dies hatte über Jahrzehnte den Boden für eine Kultur der Straflosigkeit geebnet, in der geschlechtsspezifische Gewalt normalisiert wird. Ein Punkt, den sie in ihrer Abhandlung über sexuelle Gewalt in Dimapur besonders hervorhebt. Ebenso wie die Frauen sind auch Männer aus Gebieten mit bewaffneten Konflikten traumatisiert. Und die Traumata sind generationsübergreifend. „In Nagaland besteht beispielsweise seit 1997 ein Waffenstillstand. Aber die große Unsicherheit, dass der Staat den Konflikt wieder aufnehmen könnte, schwebt wie ein Damokles-Schwert über den Köpfen der Menschen.“

„Kleine Jungs sind sehr leichte Opfer. Aber welche Möglichkeiten der Wiedergutmachung, der Entschädigung oder der Beratung gibt es für sie?“ Internationale Instrumente und politische Maßnahmen sind grundsätzlich heteronormativ und beziehen männliche Opfer selten – wenn überhaupt – in ihren Geltungsbereich ein. „Die Wortwahl ist deshalb sehr wichtig. Der genderspezifische Blickwinkel ist immer zielführender.“

An dieser Stelle kommt ein Instrument wie Resolution 1325 ins Spiel. Sie ist nicht nur eine Bekräftigung der Bedeutung von Frauen, Gender, Friedensverhandlungen und Friedensförderung im Hinblick auf bewaffnete Konfliktsituationen und Wiederaufbau, sondern sie gibt uns auch das Vokabular an die Hand, das der Aussöhnung Sinn verleiht. „Resolution 1325 ist eine Vision, eine Reihe an Leitprinzipien, mit der wir verstehen können, was es bedeutet, universelle Rechte einzufordern und für sie zu kämpfen. Organisationen, die in Konfliktzonen tätig sind, gründen ihre moralische Autorität auf diese Resolution.“ Natürlich greifen die Resolution und ihre Umsetzung in manchem zu kurz, räumt Kikon ein, doch wie ihre Mentor/innen mahnten, wann immer es nötig war, Kikon auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen: „Mach was oder halt den Mund. Kritisier‘ nicht nur rum. Echtes Engagement macht bescheiden.“

Ihr Buch "Life and Dignity" wurde auch künstlerisch umgesetzt und für zwei Theaterprojekte adaptiert, die geschlechtsspezifische Gewalt thematisieren. Bei „Requiem for Dead Sisters“ arbeitete Kikon mit den Künstlerinnen Rosumari Samsara and Lapdiang Syiem zusammen. Letztere koordinierte auch das zweite Stück, das von Abigail Nongsiej im Rahmen des Zubaan-Projektes zum Thema Straffreiheit aufgeführt wurde. „Auch solche Projekte gehören für mich zum Engagement dazu“, sagt Kikon.

Du kannst je nach Klasse, Kaste oder anderen Privilegien für die Politik sehr nachrangig sein

„Langwierige bewaffnete Konflikte, Militarisierung, eine stagnierende Wirtschaft, korrupte und ineffiziente Regierungsstrukturen und die rauen Bedingungen der selbstversorgenden Landwirtschaft in den Heimatdörfern oder kleinen Städten zwingen die Jugend, nach Perspektiven außerhalb ihrer Heimatregion zu suchen”, schreibt sie als Mitverfasserin in ihrem Buch Leaving the Land: Indigenous Migration and Affective Labour in India. „Die Generation, die nach dem Waffenstillstand 1997 geboren wurde, strebt nach anderen Dingen. Die jungen Menschen haben große Träume, sie wollen groß rauskommen.“ Ihre Ziele gleichen denen der Mittelklasse, die sich nach der Unabhängigkeit Indiens herausbildete. „Aber viele ihrer Hoffnungen wurden zerstört, und als Folge dessen flammen heute die Proteste der Mittelklasse überall auf.“ Das ist auch ursächlich für das plötzliche politische Erwachen vieler junger Menschen. „In Indien kannst du je nach Klasse, Kaste oder anderen Privilegien für die Politik sehr nachrangig sein. Bei denen, die sich jetzt erheben, gibt es eine Menge wieder gutzumachen, was Ungerechtigkeiten durch den Staat und Unterdrückung anbelangt.“

Als junge Erwachsene schämte sich Kikon dafür, aus Dimapur zu stammen. „Als ich für mein Studium nach Delhi kam, habe ich Leute aus großen Städten Indiens kennengelernt. Niemand kannte Nagaland und schon gar nicht Dimapur. Später ging ich nach Stanford, wo andere Mitstudierende aus New York und London kamen! Inzwischen habe ich es zu meinem persönlichen Projekt gemacht, herauszufinden, warum ich mich für meine Herkunft schäme, insbesondere, wo ich doch ständig erklären muss, warum ich einen indischen Pass habe oder warum ich nicht wie eine Inderin aussehe.“ Dimapur ist eine urbane, moderne Region. „Aber wenn du in Indien zu einer Stammesgemeinschaft gehörst, dann glauben die Leute automatisch, dass du mitten aus dem Dschungel kommst und in den Bäumen wohnst, nicht wahr? Kann ja nicht sein, dass du aus einer Stadt kommst!“ Mit diesen Vorstellungen setzt sie sich als Co-Autorin in dem bald erscheinenden Buch "Ceasefire City: Militarism, Capitalism, and Urbanism in Dimapur" auseinander.

Aus dem Englischen übersetzt von Petra Kogelnig und Karina Hermes