Berlin im Covid-19-Modus: Im Garten

Kolumne

Die Einschränkungen für das Leben außerhalb des Schreibtischs kamen recht gelegen. Sie schrieb an ihrem Roman. Der ist nun abgeschlossen. Jetzt heißt es: Zurück ins Leben. Stück für Stück zurück in die neue alte Realität.

Lesedauer: 7 Minuten
Bild von einem Planschbecken im Garten und ein Selfie von Mirna Funk

Zurück ins Leben

Zurück ins Leben heißt es für viele Länder und Menschen aktuell. Stück für Stück öffnen die letzten verschlossenen Läden. Stück für Stück werden die Masken abgenommen, ja selbst Urlaube werden geplant. Stück für Stück dürfen die Restaurants länger geöffnet haben. Stück für Stück dürfen die Kinder wieder in die Kindergärten und Schulen. Stück für Stück zurück in die neue alte Realität.

Das heißt es auch für mich. Aber aus anderen Gründen. Denn gestern war ein besonderer Tag. Ich habe die letzte Bearbeitungsrunde für meinen neuen Roman beendet und danach ein bisschen geweint. Wie man das so macht. Er erscheint im Frühjahr 2020 bei dtv. Es ist mein zweiter Roman. Und wie einige möglicherweise längst wissen, ist der zweite Roman der schlimmste. Am Anfang weiß man nicht mehr, wie man überhaupt jemals den ersten zustande bekommen hat und danach ist man voller Furcht vor den Kritikern, weil diese den zweiten entweder total ignorieren oder gnadenlos auseinandernehmen. Diese unsicheren letzten anderthalb Jahre und meine neuen, ziemlich schwarzen Zukunftsaussichten spielen aber für das Gefühl, das ich gestern hatte keine Rolle. Denn gestern ging es nur um die Geschichte und die Protagonisten, mit denen ich immerhin 18 Monate verbracht habe, und die ich verabschieden musste. Bye bye Nike. Bye bye Noam. Bye bye Trang, Maayan, Yseult, Rosa, Lea and Dora. Bye bye Gewalt und transgenerationale Weitergabe von Traumata. Bye bye Bruchstellen des Lebens, die es gilt anzunehmen und auszuhalten und eben nicht zu verleugnen. Bye bye Inhalt meines Lebens. Denn das war und ist natürlich das Romanschreiben.

Es hat mich jeden einzelnen Tag der letzten anderthalb Jahre füllen lassen. Ich habe die Geburtstage meiner besten Freunde verpasst, Abendessen, Mittagessen und Partys. Ich habe wirklich nichts, also nichts weiter getan als zu arbeiten. Anderthalb Jahre lang. Das nächste Wochenende wird das erste Wochenende seit so langer Zeit sein, an dem ich frei habe. An dem ich frei bin, aber mich vermutlich nicht besonders frei fühlen werde, sondern vielmehr ein kleines bisschen einsam. Verlassen von meinen Protagonisten, verlassen von meiner Geschichte.

Das liegt daran, dass es für eine Schriftstellerin nichts Schöneres gibt als kein Teil der realen Welt sein zu müssen. Zumindest geht es mir so. Ich liebe es in meinen Büchern und Texten zu leben, ich liebe auch eine gute Ausrede dafür zu haben, nicht am Alltag teilnehmen zu müssen. „Ich muss schreiben, tut mir leid. Ich kann heute nicht mit euch ins Konzert kommen!“ ist die beste Ausrede der Welt. Es gibt niemanden, der daraufhin enttäuscht wäre. Wirklich niemanden. Alle haben großes Verständnis. Jene, die selbst schreiben (Oh mein Gott die Arme schreibt einen Roman, was für ein Alptraum!) und jene, die nicht schreiben (WTF, einen Roman? Keine Ahnung, wie man sowas überhaupt hinbekommt).

Ich habe meinen Text liebevoll verabschiedet und überlasse ihn nun seinem eigenen Schicksal. Einem, das ihn auf eine Reise schicken wird. Einem, das ihn in viele verschiedene Hände spült. In Hände, die meinen Text lieben und hassen und bescheuert und egal und irgendwie okay, aber nicht besonders gut finden werden. Meine Protagonisten, die ich immer liebe wie mein eigenes Kind sind jetzt auf sich gestellt. Ihr Leben hängt nun nicht mehr von mir ab, meines aber von ihnen schon. Wie bei einer richtigen Mutter eben.

Corona lieben

Jetzt liege ich auf der Sonnenliege. M., der Partner meiner guten Freundin B., steht am Grill. B. spritzt die Kinder im kleinen Kinderypool nass. Die Vögel zwitschern. Die Bienen summen. Ich nippe an meinem Weißwein und denke immer noch ein bisschen wehmütig an Noam und Nike und Trang und Maayan und Dora und Rosa und Lea und Yseult. Es ist 14 Uhr. M. wendet ein Stück Steak und danach ein Würstchen. Alles findet in Slowmotion statt. Er sagt: „Ich liebe Corona“, und ich nicke bestätigend. Egal, wen ich in den letzten Tagen und Wochen getroffen habe: Alle lieben Corona. Sie lieben die Entschleunigung, die Ruhe und den fehlenden Druck. Natürlich lieben sie die Situation, weil sie privilegiert sind. Das ist vollkommen klar. Millionen Menschen in der ganzen Welt fragen sich gerade, während ich es mir mit einem Weißwein in der Hand auf einer Sonnenliege in einem Garten außerhalb von Berlin bequem mache und den Grillgeruch eines gut angebratenen Steaks einatme, wie sie ihr nächstes Stück Brot kaufen sollen. Darum weiß ich. Das möchte ich an dieser Stelle laut und deutlich sagen.

Aber in meinem Leben gibt es niemanden, der wegen Corona seinen Job verloren hat. Viele haben zudem von den staatlichen Hilfen profitiert. Und trotzdem ist es nicht nur die Situation, die vielleicht für einige einfacher ist, es ist auch eine spezielle Art, dem Leben zu begegnen. Denn M. hat ein Restaurant. Drei Monate war es geschlossen. Und B. ist Moderatorin. Normalerweise bei großen Veranstaltungen. Außerdem sind beide Musiker und treten regelmäßig auf. Das heißt, sie gehören sehr wohl zu der Gruppe, die am meisten unter den Einschränkungen leiden müsste. Aber sie leiden nicht, sie haben sich angepasst. B. moderiert jetzt mehr im Radio. M. hat sofort einen Essenlieferservice auf die Beine gestellt. Sie meckern nicht, sie schimpfen nicht, sie machen niemanden für irgendetwas verantwortlich. Sie haben sich nicht auf eine Seite schlagen müssen, um sich innerlich stabiler zu fühlen. Sie leben mit der Unsicherheit wissend darum, dass es so etwas wie Sicherheit auch schon vorher nie gegeben hat. Was die Zukunft bringen wird, empfangen sie mit offenen Armen, nicht mit verschränkten.

Auch ich verliere seit Corona jeden Monat 3000 Euro durch die fehlenden Veranstaltungen. Einen Großteil meiner Umsätze habe ich bis Februar durch die Teilnahme an Panels, Moderationsjobs, Vorträgen und Lesungen gemacht. Als im März klar wurde, dass es dieses Geld bis Ende des Jahres nicht mehr geben wird, habe ich sofort umgedacht. Ich habe in meinen Sozialen Netzwerken gepostet, dass ich jetzt freie Text-Jobs annehme. (Ja, man kann sich bei mir melden!!!) Und bis jetzt konnte ich die Veranstaltungsausfälle jeden Monat mit dem Texten von Webseiten, Broschüren, Pressemitteilungen und ähnlichem reinholen.

Letzte Woche veranstaltete ich sogar meine erste Zoom-Lesung. Innerhalb von 36 Stunden verkaufte ich 300 Karten á 5 Euro. Am Montagabend saß ich dann in meiner Küche vor dem Bildschirm. Mit mir 300 Menschen aus der ganzen Welt. Eine der schönsten Erfahrungen meines Lebens. Das muss ich wirklich sagen.

B. wirft meiner Tochter einen Wasserball zu. Meine Tochter wirft den Wasserball zu B.‘s Tochter und die wiederum zu ihrer kleinen Schwester. B. ruft: „Ich liebe Corona!“, und ich trinke einen großen Schluck von meinem Weißwein, schließe die Augen und stelle mir vor von nun an, niemals wieder ins Büro gehen zu müssen, keine unnötigen Reisen mehr für Events zu unternehmen und mein Leben von einem Liegestuhl aus in einem Garten führen zu können, um wieder an einem neuen Roman zu arbeiten. Dem dritten dann.



Mirna Funk wurde 1981 in Ostberlin geboren. Sie arbeitet als freie Autorin, schreibt über Kultur und ihr Leben zwischen Berlin und Tel Aviv. 2015 erschien ihr Debütroman "Winternähe", für den sie mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis 2015 für das beste deutschsprachige Debüt ausgezeichnet wurde.


Über die Kolumne:

Berlin ist eine Arche. Menschen aus den verschiedensten Ländern sind in die Stadt gekommen, auf der Flucht vor unerträglichen Verhältnissen, homophoben Kleinstädten, Krieg und politischer Verfolgung oder weil sie hier einfach nur leben oder studieren wollen bzw. Arbeit gefunden haben. Berliner:innen sind so vielfältig wie ihre Herkünfte. So entstanden und entstehen in der Stadt die verschiedensten Communitys, manche abgeschottet, andere offen. Durch die Coronakrise kommt uns derzeit das laute, Tag und Nacht lebendige Berlin wie ein Ort aus ferner Zeit vor.

In der Kolumne, die in den nächsten Wochen immer donnerstags hier veröffentlicht wird, erzählen Frauen über ihr Berlin und wie sich ihr Verhältnis während des Lockdowns und der Zeit danach zur Stadt und speziell zu ihren Lieblingsorten verändert. Die Schriftstellerin Annett Gröschner kuratiert gemeinsam mit Annette Maennel die Reihe.