Planet Berlin im Covid-19-Modus: Landwehrkanal

Kolumne

Fernanda Thome wollte nur ein paar Monate in Berlin bleiben und ist noch immer da. Die Journalistin vermisst hin und wieder São Paulo, fühlt sich aber in Berlin – auch in Zeiten der Pandemie – pudelwohl. Und vertraut dabei auf den Samen für einen politischen Wandel.

Bild vom Landwehrkanal in Berlin, dazu ein Selfie von Fernanda Thome

Berlin: eine gute Ruhe

Meine Liebesgeschichte mit Berlin ist ein Klischee. Ich wollte nur ein paar Monate bleiben und bin immer noch da. Manchmal vermisse ich die unkontrollierte Megalopolis-Energie São Paulos, auch wenn das Leben dort von einem endlosen und grauen Horizont versperrt ist. Oder, wie der Musiker Caetano Veloso es einmal formuliert hat, die konkrete Poesie seiner Straßenecken hart ist.

In Berlin sieht die Realität anders aus. In den Grenzen seiner Viertel mit ihren niedrigen Gebäuden und dem offenen Himmel blieb eine fast provinzielle Lebensqualität erhalten, eine gute Ruhe, die einer unvergleichlichen kulturellen Vielfalt und einer pulsierenden kosmopolitischen Seele nicht abträglich ist. Das Verhältnis zu den Nachbarn ist familiär und das Leben im öffentlichen Raum hat etwas sorgloses. Berlin ist keine Monsterstadt, die diejenigen verschlingt, die in ihr leben, sondern ein großzügiger Körper, mit dem man spielt und Freude hat. Auch in Zeiten einer Pandemie.

Schwangerschaft und Isolation: ein Zustand des Schwindels

Ich hatte gerade erfahren, dass ich schwanger bin, als die Ausgangsbeschränkungen begannen. Während sich die ganze Welt da draußen wegen des neuen Virus’ in einem unvergleichlichen Ausnahmezustand befand, begann mein Körper Spuren einer ungewohnten Transformation zu zeigen. Die aufeinanderprallenden Realitäten versetzten mich zunächst in einen Zustand des Schwindels, eine Mischung aus dissonanten Empfindungen – der brutalen Realität der eskalierenden Zahl der Todesopfer in den Nachrichten einerseits und der Idee der Mutterschaft, die mich in freudige Neugier versetzte, andererseits.

Erschöpft auf dem Sofa liegend, fragte ich mich, was diese unbesiegbare Müdigkeit bedeutete. Ist es ein Symptom dafür, dass mein Körper das Virus bekämpft oder dass er neue Lungen, Mund und Füße bildet? Zum ersten Mal ein kleines Herz in meiner Gebärmutter schlagen zu hören, war ein unbeschreibliches Gefühl – das ich wegen der Vorsichtsmaßnahmen der Praxis leider nicht mit meinem Partner teilen konnte. In Kurzarbeit versetzt zu werden, ohne zu wissen, welche Folgen das für die Berechnung meines Elterngeldes haben würde, brachte mich in einen Zustand der Wachsamkeit und Unsicherheit. Es waren Tage des Lachens und Weinens, von einer zusätzlichen Dosis Hormone verstärkt.

Inzwischen ist, wie für viele, diese erste Wolke verblasst. Und zu meiner großen Überraschung sehe ich neben den neuen Ängsten und Ungewissheiten eine viel größere und solidere Kraft wachsen. Ein Lebensimpuls, den mein Vater, der Biologe ist, die Intelligenz der Natur nennt. Trotz allem fühle ich mich einzigartig mächtig. Auch der Frühling, der unserer globalen Krise völlig gleichgültig gegenübersteht, bricht aus. In ihm finde ich Zuflucht.

Landwehrkanal

Ich habe seit einiger Zeit die Angewohnheit, den gesamten Bereich des Landwehrkanals von Treptow über Neukölln und Kreuzberg entlang zu laufen. Seine quasi wilde Vegetation verblüfft und blendet mich nach wie vor. In São Paulo bin ich mit Gehwegen aufgewachsen, die durch die unbezähmbare Kraft der Gummibäume zerstört wurden, gewöhnt an die seltene Schönheit, die die purpurnen Blüten des Ipê im August den Ufern eines toten Flusses verleihen, die in der größten Stadt der südlichen Hemisphäre den Beginn des Winters ankündigen.

Heute macht der süße Geruch der Linden an warmen Tagen oder das Schwingen der Kastanienkerzen im Wind, dass ich mich in Berlin zu Hause fühle. Trotz der Angst, dass sie wegen des ausbleibenden Regens krank werden könnten, manifestieren die Bäume entlang des Kanals in ihrem Frühlingszustand ein privilegiertes Maß an Gesundheit, ein Gegengift gegen die Nebenwirkungen der zunehmenden Prekarität unserer Zeit, die der Coronavirus noch verstärkt.

An den Ufern dieses engen Gewässers sind die Tragödien der Pandemie unsichtbar, die Veränderungen, die sie mit sich bringt, bleiben diskret. Das bunte Kreuzköllner Leben scheint unerschütterbar. An den Nachmittagen sind so viele Menschen entlang des Kanals unterwegs, dass die Atmosphäre eher wie ein Festival wirkt – kollektiver Urlaub ohne Touristen. Und während es praktisch unmöglich ist, den empfohlenen Abstand einzuhalten, kommt es zu bemerkenswerten Initiativen. Kürzlich richtete die anonyme Aktivistengruppe "Einfach So" in der Nähe der Lohmühlenbrücke eine kleine schwimmende Bühne ein, auf der Künstler vor einem Publikum auftreten, das am Ufer oder in dicht aneinander gedrängten Schlauchbooten sitzt. Temporär sonntags in eine autofreie Straße verwandelt, ist das Paul-Lincke-Ufer nicht mehr nur Schauplatz für Boccia-Spiele, sondern hat sich in eine Spielstraße verwandelt.

Zurück zur Realität

Auf meinem kurzen Rückweg nach Hause lässt mich Kreuzberg nicht vergessen, dass dies hier eine exklusive Blase ist und dass es jenseits davon weit weniger sichere Realitäten gibt. Plakate fordern, dass niemand zurückgelassen werden soll. Und wie so oft im Moment denke ich an das weit entfernte, gnadenlose São Paulo, derzeit das Epizentrum von Covid-19 in Lateinamerika. Dort, wo einige der am dichtesten besiedelten Stadtviertel Brasiliens existieren, in denen Isolierungsmaßnahmen keine Option und die hygienischen Bedingungen schlecht sind, kann das Virus sich unkontrolliert ausbreiten. Ein trostloses Szenario. Und während das Gesundheitssystem kollabiert und die Anzahl der Todesfälle täglich Rekorde bricht, fragt uns ein sadistischer brasilianischer Präsident: "Na und?“

Es ist schwierig vorauszusagen, wohin wir gehen. Gerade jetzt, wo die Zukunft in meinem Bauch wächst, möchte ich glauben, dass die durch die Pandemie ausgelöste Krise uns erschüttern und solidarischer werden lassen könnte. Konformismus mit den bestehenden Verhältnissen ist für mich keine Option mehr. Es wäre diesem Kind gegenüber zu ungerecht. Selbst in einer dystopischen Realität heißt es Lücken zu finden, in denen die Samen des politischen Wandels Platz finden. Heute weiß ich, dass sie tatsächlich wachsen und eine unvorstellbare Stärke entwickeln können.



Fernanda Thome wurde in São Paulo, Brasilien, geboren, wo sie Soziale Kommunikation studierte und als Journalistin arbeitete, bis sie 2008 nach Berlin zog. Nach ausgiebigen Erfahrungen in verschiedenen Branchen, beschloss sie, dass es Zeit ist, wieder zu schreiben. Seit 2018 studiert Fernanda Kulturjournalismus an der Universität der Künste Berlin.


Über die Kolumne:

Berlin ist eine Arche. Menschen aus den verschiedensten Ländern sind in die Stadt gekommen, auf der Flucht vor unerträglichen Verhältnissen, homophoben Kleinstädten, Krieg und politischer Verfolgung oder weil sie hier einfach nur leben oder studieren wollen bzw. Arbeit gefunden haben. Berliner:innen sind so vielfältig wie ihre Herkünfte. So entstanden und entstehen in der Stadt die verschiedensten Communitys, manche abgeschottet, andere offen. Durch die Coronakrise kommt uns derzeit das laute, Tag und Nacht lebendige Berlin wie ein Ort aus ferner Zeit vor.

In der Kolumne, die in den nächsten Wochen immer donnerstags hier veröffentlicht wird, erzählen Frauen über ihr Berlin und wie sich ihr Verhältnis während des Lockdowns und der Zeit danach zur Stadt und speziell zu ihren Lieblingsorten verändert. Die Schriftstellerin Annett Gröschner kuratiert gemeinsam mit Annette Maennel die Reihe.