Autoritarismus in El Salvador in der Corona-Krise

Analyse

Abschaffung einiger grundlegender Menschenrechte, anhaltende Beschneidung der Pressefreiheit - die Coronakrise erweist sich für Präsident Bukele als idealer Kontext für die Verfestigung antidemokratischer Strukturen.

Menschen mit Mundschutz vor der Flagge El Salvadors

El Salvador befindet sich, wie mehrere zentralamerikanische Länder, am Rande einer Tragödie. Die Corona-Pandemie trifft auf ein Land mit immensen strukturelle Missständen, hervorgerufen durch Jahrhunderte der Ausbeutung von Mensch und Natur. Nach diktatorischen Regimen, Bürgerkrieg und des Beginns einer repräsentativen Parteiendemokratie bleiben dem Land nur wenige Alternativen: Mehr demokratische Bürgerbeteiligung oder die Rückkehr zur Diktatur.

Die politische Krise vor der Pandemie

El Salvadors Demokratie ist noch jung: Erst 1992 endete ein zwölfjähriger Bürgerkrieg und das ideologische Spektrum öffnete sich für die Repräsentation durch Parteien in freien Wahlen. Trotzdem begann ein dunkles Kapitel strafrechtlicher Amnestie und fehlender Aufarbeitung. Zudem wurde die Mehrheit der Bevölkerung von einer Privatisierungswelle infolge der Liberalisierung der Wirtschaft getroffen. Kriminelle Gruppierungen und Netzwerke der Korruption breiteten sich aus, die Emigration wurde für viele zur einzigen Option.

Die politischen Parteien FMLN und ARENA, die die beiden antagonistischen Lager des Bürgerkriegs repräsentierten und das Land in dessen Folge 30 Jahren lang abwechselnd regierten, waren unfähig, die wichtigsten strukturellen Probleme des Landes zu lösen: Armut und Ungleichheit, Umweltzerstörung, Gewalt und Missachtung der Menschenrechte – um nur einige zu nennen. Es war auch diese Unfähigkeit, die Nayib Bukele im Juni 2019 zur Präsidentschaft verhalf.

Als Präsident agiert Bukele als einzige und angeblich unbestechliche Befehlsfigur innerhalb seiner Regierung und fördert permanent den Konflikt zwischen den Staatsgewalten, um die Politik- und Parteienverdrossenheit anzuheizen, die ihn an die Macht gebracht hat. Bereits acht Monate nach seinem Amtsantritt offenbarte Bukele seinen autoritären Politikstil, als er am 9. Februar im Parlament das Militär aufmarschieren lies, damit die Abgeordneten einer von ihm geforderten Kreditaufnahme zur Aufstockung des staatlichen Sicherheitsapparats zustimmen.

Für die politische Kultur El Salvadors stellt Bukele eine seltsame Mischung dar: Sein unternehmerisches Erbe hat ihm auch ohne große akademische Bildung zu vielen Privilegien verholfen. Vormals an der Seite der linken Partei FMLN, bindet er sich jetzt auch an die extreme Rechte, die jegliche Opposition attackiert, die sich seinen autoritären Entscheidungen entgegenstellt. Medienmanipulationen, wie bei Trump oder Bolsonaro, sind fester Bestandteil seiner Kommunikationsstrategie. So repräsentiert der salvadorianische Präsident gleichzeitig den caudillismo, den die Mehrheit der Bevölkerung in Krisenzeiten fordert, und den Durchschnittsbürger, der nach seinen Instinkten, Emotionen oder dem „gesunden Menschenverstand“ handelt.

All dies führt zu Verachtung und sogar zu Angriffen auf Personen und Einrichtungen, die vor, während und nach der Pandemie zusammenarbeiten könnten, um die besten wissenschaftlichen Entscheidungen zu treffen. Der sich in Szene setzende Präsident zieht in der aktuellen Notsituation Trial-and-Error vor. Diese Praxis beginnt mit einem Akt der Gesetzesignoranz, verwandelt sich dann aber in mutwillige Nichteinhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung.

Globale Krise: Die COVID-19-Pandemie als Bedrohung für ein gefährdetes Land

In El Salvador, das bereits seit Jahrzehnten mit sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen und demokratischen Problemen kämpft, wird eine Pandemie für das Land und seine Bewohner/innen zur Existenzbedrohung. Die ersten Maßnahmen zur Bekämpfung von SARS-Cov-2 der Regierung Bukele waren daher drastisch, aber notwendig: Die Landesgrenzen wurden geschlossen, noch bevor überhaupt ein Fall von COVID-19 im Land bekannt war. Obwohl dies viele Menschen betraf, etwa an den Flughäfen und Grenzen, fügten sie sich den Auflagen zum Wohl der Allgemeinheit.

Gleichwohl verbreitete sich mit den Nachrichten des Präsidenten auf Twitter und den nationalen Radio- und Fernsehkanälen auch die Angst vor dem Tod durch Ansteckung. Das war der Hauptgrund dafür, dass die Bevölkerung der Ausgangssperre und häuslichen Quarantäne gehorchte. Die Regierung nimmt an, dass die Bevölkerung die Auflagen nur einhält, wenn Druck oder sogar Gewalt auf sie ausgeübt wird. Das hat zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung geführt, die Polizei- und Militärkontrollen zur Überprüfung der Einhaltung der Maßnahmen im öffentlichen Raum unumgänglich macht. Und das in einem Staat, in dem sich nicht einmal der Präsident an die demokratischen Gesetze hält, wie Bukele bei mehreren Anlässen bewiesen hat. Einseitige Entscheidungen der Regierung sind seit ihrem Amtsantritt im Juni 2019 Ausdruck des fehlenden Dialogs mit vielen organisierten Sektoren der Bevölkerung. Diese werden bezichtigt, ideologisch auf Seiten anderer Parteien zu stehen.

Zu den Maßnahmen in der Coronakrise gehörten neben der Grenzschließung auch die finanzielle Beihilfe von 300 Dollar für 70 Prozent der Bevölkerung, die Aussetzung der Zahlungen für Wasser, Energie und Telekommunikation sowie der Steuern für drei Monate. Für Menschen, die bei der Einreise ins Land möglicherweise infiziert waren, wurden Zentren zur Eindämmung des Virus eingerichtet. Jede dieser sogenannten Erfolgsmaßnahmen muss jedoch reflektiert und verbessert werden, um der Pandemie dauerhaft wirksam entgegenzutreten.

Die finanzielle Beihilfe beispielsweise setzte einen Kredit von zwei Milliarden Dollar voraus; sie erhöhte die Auslandsverschuldung El Salvadors noch weiter, die im Januar dieses Jahres bereits 71 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprach. Weil es sich bei den Finanzhilfen für die Bevölkerung um Einmalzahlungen handelt, ist zudem unklar, was die Mehrheit der Menschen tut, die ohne laufendes Einkommen im informellen Sektor arbeitet, wenn der Hunger die Angst vor dem Virus besiegt − vom logistischen Chaos zu schweigen, zu dem diese Maßnahme geführt hat. Die Regierung hätte solche Fehler vermeiden können, hätte sie diverse gesellschaftliche Akteur*innen an der Entscheidungsfindung beteiligt.

Die neu eingerichteten Zentren zur Eindämmung des Virus haben sich derweil zu Zentren der erzwungenen Isolation ohne solide Protokolle entwickelt, ohne Sicherheit zu gewährleisten, dass die betroffenen Personen nach 30 Tagen gesund nach Hause zurückkehren dürfen. Die Zentren stehen exemplarisch für die Krise des Gesundheitssystems, in dem Mediziner/innen und Pflegepersonal einer hohen Ansteckungsgefahr ausgesetzt, extrem erschöpft und zudem der Diskriminierung jener Menschen ausgesetzt sind, die durch die Kommunikation der Regierung eine irrationale Angst vor allen entwickeln, die einer Ansteckung verdächtigt werden.

Alles deutet darauf hin, dass die Lösung für den Präsidenten auf Gewalt basiert

Am meisten Unsicherheit bringt, wie schon vor der Pandemie, das Thema der territorialen Kontrolle mit sich, also die Bekämpfung der kriminellen Banden (Maras und Pandillas). Keine von Bukeles Vorgängerregierungen war in dieser Hinsicht erfolgreich. Die von einem salvadorianischen Journalisten als „Mafia der Armen“ bezeichneten Menschen sind nach wie vor der verwundbarste und gefährlichste Teil der Bevölkerung El Salvadors – die Ärmsten und am stärksten Ausgegrenzten, die zu einem Gebilde aus Macht und Gesetzlosigkeit werden; sie nutzen eine Gesellschaft aus, die seit Jahrzehnten auf Korruption, Ungleichheit und Klassenkampf beruht.

Die Regierung von Bukele hat ihre Art der Kontrolle angewandt und scheint bei der Bewältigung dieses historischen Problems eine Schlüsselrolle zu spielen: nie waren die Mordstatistiken so niedrig, wie in den letzten Monaten. Leider gilt dies nicht für den Schutz von Frauen. 13 Feminizide während der Quarantäne werden in den Tweets des Präsidenten nicht als wichtiges Thema betrachtet, und während der Pandemie gab es einen 70-prozentigen Anstieg von Berichten geschlechtsspezifischer Gewalt.

Eine Abmachung zwischen der Regierung und kriminellen Gruppen zur Verringerung der Mordrate konnte noch nicht belegt werden, die finanzielle Stärkung der Sicherheitsorgane und des Militärs unter Bukele spricht jedoch für sich. Nach einem Bericht der Onlinezeitung El Faro sah das staatliche Budget von 2019 hierfür gut 18 Prozent mehr vor als im Jahr davor. Gleichzeitig wurden Darlehensanträge gestellt, um militärische Ausrüstung zu kaufen. Alles deutet darauf hin, dass die Lösung des Problems für den Präsidenten und seine Regierung auf staatlicher Gegengewalt basiert und Gewalttaten und -missbrauch in Kauf genommen werden, wie es für Länder mit schwachen juristischen Institutionen typisch ist.

Während der Pandemie sind bei Polizei- und Militärkontrollen mehrere hundert Personen festgenommen worden, nachdem der Präsident über die nationalen Medien die Verschärfung der Ausgangssperre angekündigt hatte. Die Festgenommenen wurden in die neuen Eindämmungszentren gebracht – zur Strafe und nicht, weil sie infiziert waren. Die Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs erklärte am 15. April die Verfassungswidrigkeit dieser Festnahmen, Präsident Bukele missachtet dieses Urteil jedoch. Das treibt den salvadorianischen Rechtsstaat zunehmend in eine allgemeine Krise, die sich in Verwirrung und einer Tendenz zur Gesetzlosigkeit seitens der Bevölkerung sowie in verstärkter Repression seitens der bewaffneten Sicherheitskräfte in Komplizenschaft mit dem Präsidenten äußert.

Die Hauptbefürchtung ist, dass sich die autoritären Tendenzen nach der Pandemie fortsetzen

Diese Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit durch die derzeitige Regierung sind nicht neu und werden so lange andauern, wie der Präsident in der Bevölkerung Rückhalt genießt. Die Regierung wird versuchen, die Kontrolle über politische Konflikte zu behalten und sich gleichzeitig mit sozialen Maßnahmen den Rückhalt der Bevölkerung zu sichern – trotz Kollateralschäden durch die autoritäre Politik in der Bevölkerung selbst. Die Parteien im Parlament agieren in dieser Situation zaghaft, indem sie sich zwar gegen den Autoritarismus aussprechen, aber im Allgemeinen zugunsten des Präsidenten entscheiden und wegen der Pandemie den vom Präsidenten verordneten Ausnahmezustand unterstützen.

Die Gewalt in El Salvador könnte eine Zeitbombe sein. Am letzten Wochenende im April 2020 wurden sechsundsiebzig Morde in nur vier Tagen begangen, was den meisten vorhergegangenen positiven Berichten der Regierung widerspricht. Ob der neue Waffenstillstand ausgelaufen ist, die Wirtschaftskrise aufgrund der Pandemie die Bandenerpressungen beeinflusst, oder ob die Banden als politische Akteure alte und neue Forderungen an die Regierung stellen – niemand scheint zu wissen, was die Gründe dafür sind. Der Präsident hat seinerseits zum Ausdruck gebracht, dass seine Regierung und seine Streitkräfte hart darauf reagieren werden. Wenn man die vielen salvadorianischen Familien berücksichtigt, die bereits Angehörige durch das organisierte und politische Verbrechen verloren haben, könnten kurzfristig viele weitere Verbrechen und Missbräuche stattfinden. Die Kontrolle des Territoriums und eine wirksame Sozialpolitik seitens des Staates sind weiterhin die größten Herausforderungen, die durch die Pandemie noch verstärkt werden.

In diesem Szenario und in Anbetracht der Tatsache, dass das COVID-19-Virus in weiten Teilen der Welt nach wie vor ein Rätsel für die medizinische Versorgung darstellt, setzen einseitige Entscheidungen gefährdete Länder wie El Salvador einem maximalen Risiko aus. Die Gewohnheit des salvadorianischen Präsidenten, angesichts der Pandemie Angst und Schrecken zu verbreiten und zu behaupten, dass restriktive und intolerante Maßnahmen nur dem Gemeinwohl dienen, stellt auf lange Sicht einen psychosozialen Missbrauch dar, der starke Ähnlichkeiten mit dem Missbrauch durch Gewalt aufweist. Obwohl Restriktionen notwendig sind, bleibt die Abschaffung einiger grundlegender Menschenrechte zum Schutz der Gesundheit eine fehlerhafte These des Präsidenten und seiner Regierung: Das Recht auf Gesundheit und Menschenrechte schließen sich nicht aus, sondern ergänzen sich.

Die Hauptbefürchtung der progressiven Gesellschaftsteile ist, dass sich diese autoritären Tendenzen nach der Pandemie fortsetzen oder sogar verstärken. Die anhaltende Beschneidung der Pressefreiheit, etwa durch die Zensur von regierungskritischen Medien und Menschenrechtsorganisationen sind ein beständiges Symptom geschwächter Demokratien, die sich nach und nach in Diktaturen verwandeln. Vertreter/innen kritischer Onlinemedien, wie etwa El Faro, die Vereinigung von Journalist/innen in El Salvador (APES) und der Runde Tisch zum Schutz der Journalist/innen im Land, stimmen in ihren Aussagen überein, dass der Zugang zu Informationen blockiert wird und Journalist/innen vor und während der COVID-19-Krise wiederholt belästigt und schikaniert wurden. Dieses Warnsignal wird verstärkt durch massive Troll-Angriffe in Reaktion auf kritische Kommentare und Analysen in sozialen Netzwerken.

Alle vor uns liegenden Straßen tragen Warnbotschaften

Der Fall Ortega in Nicaragua liegt geographisch am nächsten, und abgesehen von den historischen Unterschieden gibt es gewisse Ähnlichkeiten zu den Bemühungen von Bukele in El Salvador, uneingeschränkte Macht zu erlangen. Für die Regierung Bukele symbolisieren der 9. Februar und der 15. April 2020 den Beginn von Schritt 4 aus dem Buch von Ece Temelkuran „How to Lose a Country in 7 Steps“: Juristische und politische Mechanismen abbauen, indem die legislative Gewalt bedroht und die richterliche Gewalt missachtet wird. Die Strömung des Populismus in Lateinamerika ist nach wie vor stark, wenn es darum geht, Wahlen zu gewinnen und sich in autokratischer Manier an der Macht zu halten – und dies als öffentliche Forderung im Sinne des Allgemeinwohls zu tarnen. Die Pandemie erweist sich als idealer Kontext bzw. Vorwand für solche antidemokratischen Szenarien.

Autokratie wird als ein Regierungssystem definiert, das die Macht in einer einzigen Figur konzentriert, deren Handlungen keinen rechtlichen oder gerichtlichen Beschränkungen unterliegen, und so die Rechtsstaatlichkeit bricht und beseitigt. Die salvadorianische Regierung zeigt durch die Handlungen, Botschaften und die Symbolik des amtierenden Präsidenten mit Unterstützung der Streitkräfte unmissverständlich, dass er und sein Vertrauenskreis absolute Macht für die einzige Möglichkeit halten, zu regieren. Als ein wesentlicher Indikator für diese Tendenz muss jede politische Analyse Bukeles Handlungen oder Versäumnisse als Schlüsselmomente untersuchen, um die Vorschläge und Meinungen eines Teils der Bevölkerung zu entkräften – jenes Teils, der sich seit Jahrzehnten dem Kampf für die Schaffung und Stärkung einer echten partizipativen Demokratie verschrieben hat.

Menschenrechtsorganisationen, Wirtschaftsinstitute, die für einen gerechten Wirtschafts- und Steuerpakt plädieren, progressive Think-Tanks, die mehr politische Partizipation fordern, Netzwerke zum Schutz der Umwelt, gefährdeter Gruppen und gegen Gewalt sind eindeutige und existierende Beispiele für das gesammelte Wissen und die Erfahrung, die für die Zukunft einer Nation von entscheidender Bedeutung sind. Nur mit ihrer Beteiligung im Dialog mit den staatlichen Organen, kann den akuten und chronischen Krisen, die die Pandemie nach und nach mit sich bringen wird, entgegengetreten werden.

Die für 2021 geplanten Parlaments- und Bürgermeister/innenwahlen könnten allerdings infolge der Pandemie als auch des autoritären Vorgehens der Regierung umgangen oder abgesagt werden. Vor dem Hintergrund, dass das oberste Ziel staatlichen Handelns der Schutz des Lebens ist, tragen alle vor uns liegenden Straßen Warnbotschaften für die verwundbare salvadorianische Demokratie − eine Demokratie, die nur ohne Autoritarismus überleben kann.

Aus dem Spanischen übersetzt von Susanne Brust.

Dieser Text erschien in ähnlicher Fassung zuerst in den Lateinamerika Nachrichten Nr. 551.