Myanmar vor dem Internationalen Gerichtshof

Kommentar

Die dreitägigen öffentlichen Verhandlungen vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag (10.-12.12.2019) in dem Verfahren, in dem Myanmar Genozid an den Rohingya vorgeworfen wird, haben viel internationale Aufmerksamkeit gefunden. Aber sie haben weder substanziell neue Erkenntnisse gebracht, noch sind neue Positionierungen erkennbar geworden. Vielmehr dokumentiert das Verfahren den Fortbestand des tiefen Grabens zwischen dem globalen Narrativ (dem der westlichen und der islamischen Welt, der Menschenrechtsorganisationen und des UN-Systems) und der Wahrnehmung und Präsentation der Ereignisse durch Myanmar. Über diesen Graben hinweg scheint derzeit kein Dialog möglich zu sein. Eine weitere Verschärfung des Konflikts ist absehbar, während die Rohingya-Flüchtlingskrise keiner Lösung näherkommt.

Aung San Suu Kyi vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Live Public Viewing am Mahabandoola Square in Yangon am Dienstagnachmittag, 10. Dezember 2019.  © Axel Harneit-Sievers
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Aung San Suu Kyi vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Live Public Viewing am Mahabandoola Square in Yangon am Dienstagnachmittag, 10. Dezember 2019. © Axel Harneit-Sievers

Derweil hat Staatsrätin Aung San Suu Kyi in Myanmar selbst durch ihren persönlichen Auftritt in Den Haag als „Verteidigerin der Nation“ ihre politische Basis im Vorfeld der für Ende 2020 anstehenden Wahlen zu mobilisieren und verbreitern gesucht – mit Erfolg, wie es derzeit aussieht.

Das Verfahren

Das westafrikanische Gambia hatte im Auftrag der Organisation für islamische Zusammenarbeit (OIC) das Verfahren vor dem IGH angestrengt. Seine Klage zielt darauf ab, die militärischen „Säuberungsmaßnahmen“ und die Massenvertreibung der Rohingya in Rakhine State im Jahr 2017 juristisch als „Genozid“ einstufen und das Gericht „vorläufige Maßnahmen“ anordnen zu lassen, also etwa eine Beendigung von diskriminierenden Praktiken gegenüber im Land verbliebenen Rohingya oder etwa ein Verbot von Baumaßnahmen, die materielle Beweise für einen Genozid beseitigen könnten.

Die Vertreter Gambias vor dem IGH begründeten ihren Fall vor allem unter Rückgriff auf den Bericht der vom UN-Menschenrechtsrat initiierten „International Fact Finding Mission on Myanmar“. Er dokumentiert zahlreiche Details über Gräuel- und Gewalttaten und kommt zu dem Schluss, es bestehe der begründete Anfangsverdacht, dass staatliche Akteure in Myanmar eine „genozidale Absicht“ verfolgen.

Falls der IGH in seinem Urteil diese Einstufung bestätigt und das Verhalten von Armee und Regierung Myanmars völkerrechtlich als Genozid bewertet würde, würde dies den internationalen Druck auf Myanmar wesentlich verschärfen. Wahrscheinlicher wird der IGH allerdings zunächst einzelne „vorläufige Maßnahmen“ anordnen, ohne eine schnelle Antwort auf die Frage zu liefern, ob in Myanmar tatsächlich ein Genozid vorliegt. Eine solche Klärung könnte Jahre dauern.

Im Gegenzug verfolgte Myanmar im Wesentlichen die Strategie vor dem IGH, einen Genozidvorwurf zurückzuweisen und die Flucht der Rohingya als Konsequenz regulärer militärischer Reaktionen auf Angriffe der Arakan Rohingya Salvation Army (ARSA) darzustellen. Sollte es in diesem Zusammenhang zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gekommen sein, so Aung San Suu Kyi, sei Myanmar willens und fähig, dagegen mit Mitteln der Militärgerichtsbarkeit vorzugehen – so wie es in einzelnen Fällen in der Vergangenheit bereits geschehen sei. Im Übrigen habe Myanmar seine eigene unabhängige Untersuchungskommission eingerichtet und sei gemeinsam mit Bangladesch und dem UN-Flüchtlingskommissariat dabei, die Repatriierung der Flüchtlinge vorzubereiten. (Es ist allerdings zweifelhaft, dass diese Maßnahmen auf Seiten Myanmars ernsthaft verfolgt werden.)

Damit präsentierten die Vertreter Myanmars auch in Den Haag dieselbe Sicht der Dinge, wie sie seit 2017 immer wieder von der Staatsrätin oder anderen Regierungsmitgliedern oder Militärführern zu hören ist. Der einzige Hinweis auf Kritik am Militär war die Feststellung Aung San Suu Kyis, es habe auch in Myanmar selbst viel Kritik an der vorzeitigen Freilassung von Soldaten gegeben, die nachgewiesenermaßen an einem Massaker in Rakhine im August 2017 beteiligt gewesen waren.

Die Staatsrätin argumentierte darüber hinaus, der Kampf gegen die ARSA sei nur eine unter vielen Counterinsurgency-Maßnahmen, wie sie die Armee Myanmars immer wieder durchführe. Sie zog eine vergleichende Linie zum Krieg der Arakan Army (der Untergrundorganisation der buddhistischen Rakhine) gegen die burmesische Armee, der – im Kern unabhängig vom Rohingya-Konflikt – seit Anfang 2019 stark eskaliert und aktuell die größte militärische Herausforderung der Regierung Myanmars darstellt.

Wie auch immer man die reale Bedrohung durch ARSA im August 2017 einschätzt: Es bestand ein groteskes Missverhältnis zwischen den Angriffen der ARSA und der massiven Gewaltanwendung durch das Militär und paramilitärische Gruppen gegen die Zivilbevölkerung der  Rohingya seit dem 25. August 2017. Aung San Suu Kyi lieferte vor dem IGH keinerlei Ansatzpunkte, dieses Missverhältnis zu erklären, und insofern erschien sie allein als Verteidigerin der Armee.

Aung San Suu Kyi hat die Möglichkeit einer Distanzierung vom Militär, wie sie der Auftritt in Den Haag zumindest grundsätzlich geboten hätte, nicht wahrgenommen; spätestens jetzt trägt sie damit die volle politische Mitverantwortung für dessen Vorgehen. Ein Vertreter Gambias wies Aung San Suu Kyi im Verfahrensverlauf speziell auf die zahlreich dokumentierten Morde und Vergewaltigungen von Rohingya-Frauen durch Armeeangehörige hin. Sie reagierte darauf in keiner erkennbaren Weise, weder unmittelbar noch in ihrem abschließenden Statement.

Kein Dialog

Insgesamt haben die dreitägigen Verhandlungen vor dem IGH einmal mehr gezeigt, dass es keinerlei ernsthaften Dialog zwischen Myanmar einerseits und dem Westen und dem UN-System andererseits über die Rohingya-Krise mehr gibt – diesmal jedoch dokumentiert auf höchster Ebene und im Livestream vor den Augen der Weltöffentlichkeit. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die dreitägige Konfrontation beider Narrative im Gerichtssaal irgendwelche Annäherungen oder Veränderungen im Verhalten der Beteiligten bewirkt hätte.

Da jegliche Basis für einen Dialog mit Myanmars Regierung und Militär zu fehlen scheint und auch die Beteuerung, Myanmar arbeite an einer Repatriierung der Flüchtlinge, wenig Glaubwürdigkeit besitzt, sind die Konsequenzen des IGH-Verfahrens absehbar: Im Westen und im UN-System werden sich Forderungen nach Erhöhung des Drucks auf Myanmar weiter verstärken, mit internationalen Strafverfahren und erweiterten Sanktionen (einschließlich des Entzugs der EU-Handelspräferenzen für Myanmar, die nach wie vor in der Diskussion sind). Hierzu hat Myanmar in Den Haag weitere Begründungen, aber keinerlei Gegenargumente geliefert.

Angesichts dieses Desasters bleibt die Frage, warum Aung San Suu Kyi überhaupt persönlich nach Den Haag gereist ist, um als „Agentin“ Myanmars vor Gericht aufzutreten – ein doch sehr ungewöhnliches und grundsätzlich risikoreiches Verhalten für ein de facto-Staatsoberhaupt in einem IGH-Verfahren.

Dies war offenkundig primär innenpolitischen Überlegungen geschuldet: Aung San Suu Kyi hat die sich mit dem IGH-Verfahren bietende Gelegenheit genutzt, um sich im Vorfeld der für November 2020 anstehenden Wahlen als „Mutter der Nation“ zu präsentieren. Aus dieser Perspektive vertrat sie ihr Land in einer schwierigen Situationen gegenüber einer Welt, die – so das weitreichende Verständnis in Myanmar – die Lage des Landes und insbesondere seine Bedrohung durch illegal eingewanderte Bengalis einfach nicht versteht.

Damit mobilisiert sie nicht nur ihre Anhängerschaft im burmesisch-sprachigen Kernland, sondern hat sogar Unterstützung zumindest in Teilen der ethnischen Minderheitenregionen erhalten, wenn auch nicht in den Staaten Rakhine und Kayin. All dies hat in deren Augen nichts mit Verteidigung der Rolle des Militärs zu tun – im Gegenteil: Anhängerinnen und Anhänger Aung San Suu Kyis sehen sie weiterhin als heroische Verteidigerin der Nation, die eingezwängt zwischen den machtvollen Militärs im Land und dem Unverständnis der internationalen Gemeinschaft versucht, eine demokratische Transition voranzubringen, die auf eine langfristige Verringerung der politischen Rolle des Militärs abzielt.

Dem Verlauf der Diskussion im Land und den zahlreichen Solidaritätsbekundungen zufolge scheint die Hoffnung Aung San Suu Kyis, das IGH-Verfahren zur Stärkung der eigenen politischen Position in Myanmar selbst zu nutzen, fürs Erste aufgegangen zu sein. Und es bleibt abzuwarten, ob sie durch die in Den Haag bewiesene Loyalität dem Militär politische Zugeständnisse abverlangen kann.

Wir wissen nicht, inwieweit Aung San Suu Kyi gehofft hat, in Den Haag die den Westen und die Weltöffentlichkeit von ihrer Sicht der Dinge überzeugen zu können. Sie hat dies nicht geschafft. Ihre Reputation im Westen hat noch weiter gelitten hat als es ohnehin schon der Fall war. Wir sollten davon ausgehen, dass dies für sie allenfalls von zweitrangiger Bedeutung ist, solange sie davon überzeugt ist, das Richtige für ihr Land zu tun.