Mehr Kollateralschäden als politische Wirkung?

Kommentar

Der Druck auf Myanmars führende Militärs wegen ihrer Rolle bei der Verfolgung und Vertreibung der muslimischen Rohingya wächst.  Ein aktuell von der EU diskutierter Entzug von Handelspräferenzen droht jedoch Kollateralschäden zu verursachen.

Foto einer Textilfabrik in Myanmar

Seit August 2017 flohen über 700.000 Rohingya aus dem Norden des Rakhine State in Myanmar über die Grenze nach Bangladesh. Dies war Folge von „Säuberungsoperationen“ des Militärs, die mit schweren Menschenrechtsverletzungen (Erschießungen, Vergewaltigungen etc.) einhergingen und vermutlich tausenden von Rohingya das Leben kosteten. Obwohl entsprechende Vereinbarungen bestehen, ist mit einer Repatriierung der Flüchtlinge in absehbarer Zeit nicht zu rechnen.

Druck auf das Militär wächst

Gut ein Jahr nach diesen Ereignissen hat sich der internationale Druck auf Myanmar verstärkt: Am 27.8.2018 veröffentlichte der UN-Menschenrechtsrat den umfangreichen Bericht der Independent Fact-Finding Mission on Myanmar, der anhand von Interviews, Satellitenaufnahmen und zahlreichen anderen Quellen schwerwiegende Menschenrechts­verletzungen aufzeigt, die die Armee nicht nur in Rakhine, sondern auch in Kachin und Nord-Shan (andere Bundesstaaten, in denen seit Jahren Krieg geführt wird) begangen hat. Der Bericht kulminiert in der Empfehlung, namentlich benannte führende Militärs wegen eines Anfangsverdachts auf Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen anzuklagen.

Am 25.9. 2018 beschloss der Menschenrechtsrat daraufhin die Einrichtung eines „unabhängigen Mechanismus“ zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und zur Vorbereitung zukünftiger Strafverfahren. Derweil leitete die Chefanklägerin des Internationale Strafgerichtshof am 19.9.2018 formelle Vorermittlungen wegen der Vertreibung der Rohingya ein, nachdem der Gerichtshof über seine eigene Zuständigkeit in der Sache entschieden hatte. (Myanmar hat das Rom-Statut, das die völkerrechtliche Grundlage für die Arbeit des Gerichtshof bildet, nicht unterzeichnet, doch ausschlaggebend war hier die Tatsache, dass die Rohingya-Flüchtlinge sich im Unterzeichnerstaat Bangladesch aufhalten.)

Das U.S. Department of State veröffentlichte am 24.8. eine eigene Dokumentation über Gräueltaten in Rakhine State, die aufbauend auf eigenen Ermittlungen ebenfalls schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen aufzeigt, auch wenn sie den Begriff „Genozid“ vermeidet.

Der Druck auf Myanmars Militär hat durch diese Strafandrohungen stark zugenommen. Schon vorher hatten westliche Staaten gezielte Sanktionen gegen führende Generäle (insbesondere Einreiseverbote und Einfrieren von Vermögenswerten) verhängt. Das seit Jahren bestehende Verbot von Waffenlieferungen war ohnehin nie aufgehoben worden.

Sanktionen können politische Macht des Militärs beschränken

Die Militärs kontrollieren entsprechend der von ihnen 2008 erlassenen Verfassung ein Viertel der Parlamentssitze sowie drei strategische Ministerien (für Inneres, Verteidigung und Grenzangelegenheiten). Im Rahmen einer Doppelherrschaft, die sie de facto mit der Ende 2015 gewählten Regierung unter Staatsrätin Aung San Suu Kyi bilden, tragen sie die primäre Verantwortung für die Menschenrechtsverletzungen in Rakhine und anderen Landesteilen. Dabei trägt, nach Auffassung von Beobachtern, vor allem außerhalb Myanmars, die Staatsrätin mit ihrem Schweigen zu diesen Menschenrechtsverletzungen, selbst eine Mitverantwortung. Ein konstruktiver internationaler Dialog findet kaum noch statt. Gespräche zwischen Armee und dem Westen gibt es gar nicht mehr.

Ob gezielte Sanktionen und die Androhung internationaler Strafverfahren Myanmars Regierung zu einer Änderung ihrer Politik bewegen, muss sich noch zeigen. Doch sie stärken die Legitimität derjenigen Kräfte in Myanmar (auch und gerade außerhalb der Regierungspartei, etwa in den ethnischen Organisationen), die ernsthaft daran arbeiten, die politische Macht des Militärs einzuschränken. Zudem ist unstrittig, dass die Sanktionen „die Richtigen“ treffen, ohne breitflächig Wirtschaft und Gesellschaft des Landes in Mitleidenschaft zu ziehen.

Handelspräferenzen schaffen verbesserte Arbeitsbedingungen

Derweil spitzt sich in Brüssel in den EU-Institutionen eine andere Sanktionsdebatte zu. Ihr Gegenstand sind die Handelspräferenzen, die Myanmar als Entwicklungsland („Least Developed Country“) unter der „Everything But Arms“-Regelung (EBA) erhält. Sie erlauben dem Land den zollfreien Export aller nichtmilitärischen Güter in die EU.

Diese Handelspräferenzen haben in den vergangenen sechs Jahren den Export von Bekleidung aus Myanmar in die EU rasch anwachsen lassen. Unter den Kunden sind große deutsche oder in Deutschland aktive Einzelhandelsunternehmen wie Adidas, C&A, H&M und Primark.

Der Bekleidungssektor Myanmars exportierte 2017 Güter im Wert von 2,7 Mrd. US-Dollar, wovon fast die Hälfte in die EU ging; dies ist der Löwenanteil des Gesamtexports Myanmars in die EU. Der Bekleidungssektor umfasst mehrere hundert Unternehmen und beschäftigt rund 400.000 (nach anderen Schätzungen gar 450.000) Menschen, und ca. 80% von ihnen sind Frauen.

Die Löhne in Myanmar sind nach wie vor gering – der Mindestlohn liegt bei ca. 2,75 Euro pro Tag, und die meisten Arbeiterinnen im Bekleidungssektor bringen es selbst mit Überstunden kaum auf 100 Euro im Monat. Doch aufgrund öffentlichen Drucks und durch Intervention aus dem Ausland sind zumindest die Arbeitsbedingungen und Sicherheitsstandard deutlich verbessert – zumindest bei denjenigen Firmen, die in die EU exportieren und dafür durch die Einkaufsorganisationen auf die Einhaltung spezifischer Mindeststandards verpflichtet werden. Deutsche Entwicklungsorganisationen – auch mit Unterstützung der EU – arbeiten etwa mit der Myanmar Garment Manufacturers Association zusammen, um Firmen in Myanmar fit für den europäischen Markt zu machen. Zugleich unterstützen sie Bildungsmaßnahmen für Arbeiterinnen und Arbeiter, um deren Rechte und Verhandlungsfähigkeit zu stärken.

Entzug der EBA-Präferenzen durch die EU?

EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström droht, Myanmar aus dem EBA-System herauszunehmen; eine wertebasierte EU-Handelspolitik dürfe massive Menschenrechtsverletzungen wie in Myanmar nicht hinnehmen. Vorbild dafür ist der Fall Kambodscha, dessen Regierung die letzten Wahlen massiv manipuliert hat. Hier hat das formelle Verfahren zum Entzug von EBA-Präferenzen bereits begonnen. Ende Oktober entsandte die EU eine Delegation nach Myanmar, die in ihrer Abschlusserklärung die Drohung eines Entzugs der Handelspräferenzen aufrechterhielt.

Ein Entzug der EBA-Präferenzen für Myanmar hätte nach Einschätzung von lokalen wie internationalen Fachleuten einen drastischen Rückgang oder gar Zusammenbruch der Bekleidungsexporte in die EU zur Folge, denn bislang wiegt vor allem die Zollfreiheit andere Standortnachteile Myanmars wie schlechte Infrastruktur und geringere Produktivität auf.

Bereits heute schreckt die durch die Rohingya-Krise verschärfte Unsicherheit vor allem westliche Investoren ab. Produkte aus Myanmar stellen schon jetzt ein Reputationsrisiko für importierende Firmen in Europa dar. Der Entzug der EBA-Präferenzen würde einen der wenigen Wirtschaftssektoren des Landes schwer beschädigen, der in großer Zahl Arbeitsplätze schafft.

Politische Auswirkungen sind nicht absehbar

Dies würde die Militärs im Land nicht wirklich treffen, denn anders als im Bergbau und in der Bauindustrie Myanmars ist die Bekleidungsindustrie – soweit bekannt – nicht vorrangig im Besitz von Militärs und ihren Seilschaften („Cronies“). Stattdessen kommen viele der Investitionen in diesem Sektor aus China und Korea und nutzen Myanmar als Sprungbrett für den Export nach Europa.

Unter diesen Umständen ist völlig unklar, wie der Entzug der EBA-Präferenzen und der absehbare Kollaps der Bekleidungsindustrie in Myanmar Regierung und Militärs zum Politikwechsel bewegen oder die Militärs gar aus der politischen Macht drängen könnte. Schon haben, vom Militär unterstützt, populistische Kampagnen begonnen, die gegen ausländische Einmischung protestieren; wenn wirtschaftliche Verwerfungen dazu kommen, droht eine weitere Solidarisierung mit der Armee unter nationalistischen Vorzeichen.

In der Praxis könnte der Entzug der EBA-Präferenzen eine ähnliche Wirkung entfalten wie flächendeckende Handelssanktionen, nämlich hunderttausende von Arbeitsplätzen in der Bekleidungsindustrie kosten, ohne dass dies einen Rohingya-Flüchtling zurück aus Bangladesch oder einen General vor Gericht bringen würde.

Experten sprechen sich gegen Handelssanktionen aus

Entsprechend haben sich zahlreiche mit dem Land vertraute Akteure – von westlichen Botschaften bis hin zu Menschenrechtsorganisationen, einschließlich Amnesty International – gegen Handelssanktionen ausgesprochen. Auch der Bericht für den UN-Menschenrechtsrat (p. 421) lehnt „allgemeine Wirtschaftssanktionen“ explizit ab, weil diese in der Vergangenheit wenig Wirkung auf die Verantwortlichen zeigten, aber zur Armut im Land beitrugen.

Dies sollte sich die EU zu Herzen nehmen. Eine menschenrechtsorientierte Handelspolitik, die substanzielle wirtschaftliche und soziale Kollateralschäden in Kauf nimmt, ohne zeigen zu können, wie sie dadurch ihre menschenrechtlichen Ziele erreichen will, macht keinen Sinn, sondern vergrößert nur die Summe des Unglücks in dieser Welt.