
Am 21. November 2013 gab die ukrainische Regierung bekannt, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union vorerst nicht unterzeichnen zu wollen. Der damalige Investigativjournalist und heutige Parlamentsabgeordnete Mustaja Najem und andere riefen daraufhin zu friedlichen Protesten auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew auf. Der pro-europäische Protest wurde kurze Zeit später zu einer breiten Protestbewegung gegen den Präsidenten und seine Regierung. Fünf Jahre danach diskutierten ukrainische und europäische Gäste die Bilanz des Maidan für die Ukraine und Europa (Videomitschnitt). Mattia Nelles, Zentrum für Liberale Moderne, sprach mit Mustafa Najem, wie er das Erbe des Maidans bewertet - auch mit Blick auf das Superwahljahr 2019.
Was hat sich 5 Jahre nach dem Maidan verändert und wie kann man dieser Veränderung an praktischen Beispielen festmachen?
Zunächst möchte ich sagen, dass wir das Verhältnis zwischen Regierung und Volk verändert haben. Fünf Jahre nach dem Maidan kann man beobachten, dass die Rechenschaftspflicht und Transparenz der Regierung viel höher sind als je zuvor. Wir haben eine Art Explosion der ukrainischen Zivilgesellschaft auf allen Ebenen des Landes erlebt. Ein zweites Thema, das für uns sehr wichtig ist, sind die Reformen zur Korruptionsbekämpfung. Wir haben uns neue Institutionen gegeben. Natürlich waren diese bisher nicht in der Lage, die Korruption in dieser kurzen Zeit zu beseitigen und nicht alle dieser neuen Institutionen funktionieren sehr gut.
Vielmehr haben wir gesehen, dass das Problem bei der Korruptionsbekämpfung darin besteht, hohe Persönlichkeiten des alten und gegenwärtigen Systems ins Gefängnis zu bringen. Die Probleme sind die Gerichte, die nach wie vor von alten Richtern besetzt sind. Genau deswegen haben wir jetzt ein neues Antikorruptionsgericht geschaffen. Jetzt bleibt es abzuwarten, wer dort als Richter bestätigt wird. Aber die Erwartungen sind groß.
Vor fünf Jahren hatten wir das große Ziel, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu bekommen. Wir haben das Abkommen bekommen und vor allem ist es uns gelungen, einen visafreien Zugang nach Europa zu erhalten. Das war für uns von zentraler Bedeutung.
Wenn wir tiefer in die Details der Reformen gehen, denke ich, dass eine der erfolgreichsten die Dezentralisierung ist. Sie macht die Kommunen viel unabhängiger von der Zentralmacht. Plötzlich sind die Städte fast gänzlich für den Haushalt, die lokale Politik und die Strategien verantwortlich. Ich denke, als Resultat dieser Reform enstehen viele neue, junge Führungskräfte, Politiker und eine neue Zivilgesellschaft auf lokaler Ebene eben nicht nur in Kiew.
Wir sind von einem der korruptesten Länder zu einem Land mit einem preisgekrönten und extrem transparenten Online-Beschaffungssystem übergegangen. Das ist eine der sichtbarsten Errungenschaften von Maidan.
Maidan: Die Ukraine und Europa fünf Jahre danach - Panel 1 - Heinrich-Böll-Stiftung

Ich könnte mit anderen kleinen Reformen fortfahren, von denen viele kompliziert sind und trotz Stocken immer noch umgesetzt werden, wie Energieeffizienz, Polizeireform und Reformen des Sicherheitssektors. All diese Fragen sind die Ergebnisse des Maidans.
Im Wesentlichen haben wir in den letzten vier Jahren mehr Reformen durchgeführt als in allen Jahren seit der Unabhängigkeit zusammen.
Trotzdem bin ich frustriert über die Monopole der Oligarchen, die immer noch die Medien und große Teile der Wirtschaft, einschließlich Energie, sowie große Teile der Fertigung kontrollieren. Leider ist es uns nicht gelungen, das System zu verändern. Als ich und andere nach Maidan in die Politik gegangen sind, stießen wir auf einen sehr starken Widerstand des etablierten Systems. Ich habe keine Ahnung, wie man sie ohne erhebliche Ressourcen und Zugang zu den Medien bekämpfen kann.
Was sind Hoffnungen und Ängste für das Jahr 2019?
Ich denke, die beste Nachricht über 2019 ist, dass kaum etwas vorherzusehen ist. Wenn man nicht weiß, wer die nächsten Wahlen gewinnen wird, ist das ein Zeichen für einen demokratischen Prozess, oder? Die schlechte Nachricht ist, dass das alte System lebt und leider immer noch sehr mächtig ist. Die alte Garde gibt Hunderte von Millionen für politische Werbung der verschiedensten Kandidaten, Berater und Agitatoren offline und online aus. Also, ich denke, dass der Widerstand des Systems die größte Bedrohung für 2019 ist.
Die größte Hoffnung für uns ist, dass viele Menschen, die sich 2004 und 2013 organisiert haben, bereit und viel reifer sind. Ich denke, wir werden herausfinden, wie wir unsere Anstrengungen bündeln können. Letztendlich müssen wir die Kraft sein, die das System bedroht und die Ideale der Revolution der Würde verwirklichen.
In den nächsten Wochen werden wir versuchen, eine Bewegung zu schaffen.
Wir werden versuchen, die Menschen zu finden, die wir vor vier Jahren verloren haben und die von den Ergebnissen enttäuscht sind. Es wird eine Bewegung von Menschen sein, die nicht enttäuscht sind, um diejenigen zu inspirieren, die enttäuscht sind. Wenn die Revolution nicht herausfinden wird, wie sie zur Evolution werden kann und eben beharrlich, spürbare Veränderungen herbeiführt, steht uns in drei oder sieben Jahren ein weiterer Maidan bevor.
Maidan: Die Ukraine und Europa fünf Jahre danach - Panel 2 - Heinrich-Böll-Stiftung

Wann werden Sie Ihre genauen Pläne bekannt geben?
Das Kriegsrecht hat unsere Strategie verändert. Und jetzt versuchen wir, unsere Strategie mit den Fraktionen, Parteien und Einzelpersonen abzustimmen, die sich derzeit auf die Präsidentschaftswahlen vorbereiten. Ich denke, in diesem Jahr werden wir es bekannt geben und die Hauptaktivität wird Anfang nächsten Jahres beginnen. Wir haben nicht so viel Zeit und Ressourcen wie Macron, aber wir werden es versuchen, und wir werden die gleiche Technologie und Strategie wie Obama, Sanders und später Macron verwenden.
- Interview: Arkady Ostrowsky
- Interview: Andrij Waskowycz
- Interview: Andrij Portnow