Ungarn: „Keine Gesellschaft kann eine derartige Polarisierung gesund überleben“

Interview

Der Soziologe Bulcsú Hunyadi führt den Wahlerfolg von Viktor Orbáns Partei Fidesz in Ungarn auf vier Faktoren zurück: ein unfaires institutionelles System, eine politische Feindbild-Rhetorik, eine staatlich finanzierte Fake-News-Industrie und das Versagen der Oppositionsparteien.

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Polizei vor dem Parlament in Ungarn

Nach dem landesweiten Wahlsieg Viktor Orbáns führte unsere Büroleiterin Eva van de Rakt ein Gespräch mit dem Soziologen Bulcsú Hunyadi, der für den Think Tank Political Capital mit Sitz in Budapest arbeitet.

Eva van de Rakt: Herr Hunyadi, das Wahlbündnis aus Orbáns Partei Fidesz und der Christlich-Demokratischen Volkspartei KDNP erzielte mit aller Wahrscheinlichkeit das dritte Mal in Folge eine Zweidrittelmehrheit der Mandate. Das amtliche Endergebnis wird voraussichtlich am Wochenende bekannt gegeben. Von den abgegebenen Zweitstimmen erhielt Fidesz-KDNP fast die Hälfte. Was sind die Gründe für diesen landesweiten Wahlsieg? Mit welchen Themen konnte Viktor Orbán während der Kampagne punkten?

Bulcsú Hunyadi: Nach dem vorläufigen Ergebnis gewann die Regierungspartei Fidesz mit 48 Prozent der in Ungarn abgegebenen Zweitstimmen eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit in der Nationalversammlung, verglichen mit fast 53 Prozent in 2010 und rund 44 Prozent in 2014. Gegenüber 2014 entspricht das einem Stimmenzuwachs von über 360.000 Stimmen. Jobbik erhielt ungefähr die gleiche Anzahl an Zweitstimmen wie 2014, während die links-liberal-grünen Oppositionsparteien lediglich die gleiche Anzahl an Stimmen neu unter sich verteilten, die sie vor vier Jahren hatten. Nur die grüne Partei LMP konnte ihre Unterstützung um rund 96.000 Stimmen erhöhen.

Der unmittelbare Grund für den massiven Sieg von Fidesz ist die Anti-Einwanderungskampagne der Partei und der Regierung, die Angst und Hass gegen Flüchtlinge und Migranten schürte. Außerdem konnte die Regierung mit einfachen Botschaften und durch die Darstellung dieser Wahl als eine „Schicksalswahl“ ihre Wählerschaft erfolgreich mobilisieren und neue Wählerinnen und Wähler dazugewinnen, vor allem in ländlichen Gebieten.

Der landesweite Sieg von Fidesz basiert außerdem auf vier Faktoren. Erstens auf einem unfairen institutionellen System, einschließlich des Wahlsystems und der Medienlandschaft, das auf die Interessen von Fidesz zugeschnitten ist, den Zielen von Fidesz dient und den Handlungsspielraum unabhängiger Akteurinnen und Akteure einschränkt. Zweitens auf einer politischen Rhetorik, die auf Identitätspolitik, Verschwörungstheorien und Feindbilder setzt. Drittens auf einer massiv staatlich finanzierten Fake-News-Industrie und viertens auf dem Versagen der Oppositionsparteien, eine glaubwürdige und attraktive politische Alternative zu bieten und miteinander zu kooperieren.

 

Bulcsú Hunyadi ist Analyst am Political Capital und the Social Development Institute

Mit ihrem Medienimperium, das als Propagandanetzwerk funktioniert, schuf die Regierung in einigen Regionen des Landes, vor allem in Dörfern und Kleinstädten, regelrechte Informationsghettos, in dem nur die Kampagne der Regierung sichtbar war. In Bezug auf das unfaire institutionelle System ist das Wahlsystem, dessen Elemente die Regierungspartei begünstigen, ein bekanntes Beispiel. Aber es ist nur ein Teil des Puzzles.

Staatliche Institutionen funktionieren in Ungarn zurzeit als Vollzieher der Parteiinteressen von Fidesz. Korruptionsfälle mit Verbindungen zu Regierungskreisen werden von den Behörden, insbesondere von der Generalstaatsanwaltschaft, nicht ordnungsgemäß untersucht, der Rechnungshof bestraft für angebliche Unregelmäßigkeiten in der Kampagnenfinanzierung nur die Oppositionsparteien, die Wahlbehörde hat in den letzten Jahren Volksabstimmungen mit allen Mitteln verhindert. Das sind nur einige der vielen Beispiele.

Zweitstärkste Partei wurde mit über 19 Prozent die rechtsextreme Partei Jobbik, allerdings erhielt sie höchstwahrscheinlich nur eines der insgesamt 106 Direktmandate, die die ungarische Wählerschaft mit der Erststimme wählt. Der Parteivorsitzende Gábor Vona ist schon zurückgetreten. Wer wählte Jobbik?

In der Wählerschaft von Jobbik sind überproportional Männer vertreten, die unter 40 sind, Fachabitur haben, Vollzeit als Arbeiter beschäftigt sind, in Kleinstädten wohnen und nicht religiös sind. Insgesamt ist die Wählerschaft der Partei seit dem Beginn des Neupositionierungsversuchs im Jahr 2013, demzufolge Jobbik sich als eine gemäßigte konservative Partei verkauft, demographisch gesehen bunter geworden. Auch ideologisch hat sich die Wählerschaft maßgeblich verändert: Wählerinnen und Wähler von Jobbik ordnen sich heutzutage weniger radikal, weniger rechts und liberaler ein. Sie sind gegenüber den anderen Oppositionsparteien viel offener und Fidesz gegenüber kritischer.

Gleichzeitig unterstützen heutzutage Schlüsselfiguren der rechtsradikalen Szene öfters Fidesz, wie unter anderem die Europaabgeordnete Krisztina Morvai, die 2014 noch über die Liste von Jobbik ins Europaparlament gewählt wurde, und György Budaházy, der wegen der Verübung terroristischer Handlungen gegen linksliberale Politiker und andere Personen 2016 in erster Instanz zu 13 Jahre Haft verurteilt worden ist.

Die Opposition ist für die Niederlage mitverantwortlich

Drei Mitte-links-Landeslisten schafften den Einzug ins Parlament: Die MSZP-P (Wahlbündnis der Sozialistischen Partei und der Partei „Dialog“), LMP (grüne Partei) sowie die DK (Demokratische Koalition). Wie bewerten Sie den Wahlkampf dieser Parteien?

Die Verteilung der Stimmen zeigt, dass die linken und liberalen Oppositionsparteien kaum mehr Unterstützung in den ländlichen Regionen Ungarns haben. Die grüne LMP ist die einzige demokratische Oppositionspartei, die mehr als 50 Prozent ihrer Stimmen in kleineren Städten und Gemeinden bekommen hat. Teilweise liegt die Erklärung dafür in den Medienverhältnissen und den institutionellen Barrieren, die ich schon erwähnt habe.

Die Parteien haben dieses Ergebnis aber natürlich auch selbst verschuldet. Erstens haben sie es in den letzten Jahren verfehlt, politische Arbeit vor Ort zu leisten, die Probleme der Menschen anzupacken, Wählerinnen und Wähler persönlich anzusprechen sowie bekannte und glaubhafte Kandidatinnen und Kandidaten aufzubauen. Diese Parteien sind in den ländlichen Regionen kaum präsent. Zweitens vermochten es die Oppositionsparteien nicht, eine attraktive Alternative zu der Vision und dem Weltbild Viktor Orbáns zu bieten. Drittens sind die Oppositionsparteien nicht ehrlich zu den Wählerinnen und Wähler.

Sie waren mehrheitlich mit sich selbst beschäftigt, setzten auf Konkurrenz untereinander und redeten trotzdem darüber, wie sie nach der Wahl regieren wollen. Obwohl der größten der demokratischen Oppositionsparteien, dem Bündnis MSZP-P, vor der Wahl im Durchschnitt etwa 13 Prozent Unterstützung prognostiziert wurde. Statt also ehrlich darüber nachzudenken und zu reden, dass sie nur gemeinsam erfolgreich sein können, hatten sie ihre individuellen Interessen im Blick und wollten eine größere Portion aus der gleichen Torte bekommen. Wahrscheinlich, weil sie selbst nicht an die Möglichkeit glaubten, die Wahl gewinnen zu können.

Die Annahme vieler Kommentator/innen, dass eine höhere Wahlbeteiligung vor allem der Opposition nutzen könnte, hat sich nicht bestätigt, im Gegenteil: Fidesz-KDNP gewann über 90 Direktmandate. Nur in Budapest verlor die Regierung einige Mandate. Von den 88 Direktmandaten außerhalb Budapests wird Fidesz-KDNP wahrscheinlich 85 erhalten. Warum konnten die Mitte-links-Oppositionsparteien außerhalb Budapests die Wählerschaft nicht überzeugen?

Die Wahl spaltete das Land in die Hauptstadt und die ländlichen Gebiete. Während die linken und liberalen Oppositionsparteien aus den ländlichen Regionen fast verschwunden sind, gewann Fidesz in den Gemeinden deutlich hinzu. Die Anzahl der Fidesz-Wähler/innen nahm bei Personen ab, die höher ausgebildet sind, einen höheren sozialen Status haben und in der Hauptstadt leben. Gleichzeitig nahm die Popularität von Fidesz maßgeblich bei der Wählerschaft zu, die in Dörfern und Kleinstädten lebt, die weniger gebildet und älter ist.

In erster Linie ist das die Konsequenz der Regierungskampagne, die sich ausschließlich auf die heraufbeschworene Bedrohung durch Migration konzentrierte. Durch sein Mediennetzwerk schuf Fidesz vor allem in Dörfern und Kleinstädten eine parallele Realität, in die keine andere Nachricht als die Botschaften von Fidesz eindringen konnte.

Welche politischen Konsequenzen müssen die Mitte-links-Parteien Ihrer Meinung nach aus den Wahlergebnissen ziehen?

Diejenigen, die wirklich einen Wandel herbeiführen wollen, müssen ihre ganze Strategie und ihren politischen Werkzeugkasten überdenken, attraktive Visionen erarbeiten, die Menschen persönlich ansprechen und lokale Strukturen aufbauen. Eine der größten Herausforderungen ist die Frage, wie sie die mediale Übermacht des Fidesz brechen können, also in Informationsghettos eindringen und die hysterisierte Debatte wieder versachlichen können.

Außerdem müssen sie auch einen Weg finden, wie sie miteinander besser zusammenarbeiten können, denn eine fragmentierte Opposition wird in vier Jahren höchstwahrscheinlich wieder vor dem gleichen Problem stehen: Das Wahlsystem begünstigt die größte rechtsnationale Partei und benachteiligt kleinere, miteinander rivalisierende Parteien.

Die Regierung schürt Hass gegen die von ihr erfundenen Feindbilder

Welche ersten Schritte sind von der Regierung zu erwarten?

Mit Rücksicht auf den landesweiten Wahlsieg und den damit einhergehenden starken Regierungsauftrag, den Fidesz von der Wählerschaft erhalten hat, wird sich der Regierungsstil nicht ändern. Die hohe Wahlbeteiligung und die überzeugende Mehrheit in der Nationalversammlung geben der Regierung die notwendige Legitimation, das in den letzten acht Jahren aufgebaute politische System zu vollenden.

Die Regierung wird den Raum für unabhängige Akteurinnen und Akteure einschließlich der unabhängigen Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen weiter einschränken. Sie wird weiterhin Feindbilder, Verschwörungstheorien und Fehlinformationen einsetzen.

Welche Auswirkungen wird diese Wahl Ihrer Ansicht nach auf die ungarische Gesellschaft haben?

Die ungarische Gesellschaft ist in einem desolaten Zustand. Armut hat sich verbreitet, viele Menschen haben keine Aussicht auf ein besseres Leben, in vielen Teilen der ländlichen Regionen mangelt es an Arbeitsmöglichkeiten. Vor allem die Einwohnerinnen und Einwohner dieser Regionen haben große Sorgen und Befürchtungen. Die Daten zeigen, dass die Kampagne von Fidesz vor allem bei diesen Wählerinnen und Wählern auf Resonanz stoß.

Die letzten Jahre haben die Gesellschaft weiter polarisiert. Die Menschen aus einander politisch entgegenstehenden Lagern haben ein negatives Bild voneinander, glauben an die Stigmatisierung, die die Parteien verbreiten. Der ungarischen Gesellschaft mangelt es traditionell an Vertrauen, sowohl in Institutionen als auch in Mitmenschen. Dieser Vertrauensmangel hat durch diese Wahl nur zugenommen. Außerdem schürt die Regierung ständig Hass gegen die von ihr erfundenen Feindbilder wie Asylsuchende, Migranten, Aktivist/innen von Zivilorganisationen, kritische Journalist/innen und viele mehr.

Jeder, der sich nicht in die Reihe stellt und öffentlichen Einfluss hat, wird stigmatisiert. Diese Woche hat die Fidesz-nahe Wochenzeitung Figyelő angebliche „Soros-Agenten“ in Ungarn aufgelistet, darunter geschätzte Akademikerinnen und Akademiker, auch schon längst Verstorbene, und Vertreterinnen und Vertreter von Organisationen, die sich  für benachteiligte Menschen einsetzen. Auf Dauer kann keine Gesellschaft eine derartige Polarisierung gesund überleben.

Herr Hunyadi, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Weitere Informationen und Hintergrund-Artikel zur Lage in Ungarn finden Sie in unserem Dossier "Focus on Hungary".