In der Falle der Projektlosigkeit: Die Europäische Union managt sich tiefer in die Krise

Europaflagge, Zerreißprobe

Integration braucht Projekte, nicht zuletzt, um die Ambitionen europäischer Staaten und ihrer politischen Führung an sich zu binden. Gelingt dies nicht, schwindet der politische Zusammenhalt der EU weiter.

Es ist das Gegenbild früherer Krisenszenarien, welches heute die politischen Lähmungserscheinungen der Europäischen Union ausmacht. Der EU-Binnenmarkt ist nicht zum Spielball globaler Konzerne geworden; die sozialen und ökologischen Normen und Standards in der EU sind nicht in eine Abwärtsspirale gezwungen worden; Europas Bürokratie ist kein Moloch auf dem Weg zum Superstaat; politische Entscheidungen in Brüssel sind nicht demokratischer Kontrolle auf europäischer wie nationaler Ebene entzogen; Europas Außenpolitik ist nicht militarisiert. Dies sind nicht eingetretene Entwürfe erwarteter Krisen – im Vergleich zur heutigen Lage muten sie beinahe harmlos an.

Die besondere Herausforderung der Europapolitik in der Staatsschuldenkrise oder der Flüchtlingskrise liegt weniger in der Schwierigkeit der Lage, sondern in der scheinbaren Unmöglichkeit ihrer europäischen Bearbeitung. Beide große Krisen besitzen ihren schwierigsten Punkt im Zerfall politischen Zusammenhalts unter den EU-Staaten selbst. Die Akteure nehmen die Unterschiedlichkeit ihrer Interessen stärker wahr als die Chancen gemeinsamen Handelns, nicht zuletzt weil sie die politisch-institutionellen Konsequenzen einer europäischen Lösung fürchten. So fokussiert die Euro-Krisenreaktion auf die Konditionalität von Finanzhilfen, die ihrerseits Zeit kaufen, verfehlt jedoch das Kernproblem umfassender Governance-Reform der Staaten als gemeinschaftliche Initiative. So priorisiert die Reaktion auf die große Zahl flüchtender Menschen die Reduzierung der Ankunftszahlen, aber nicht die Entwicklung gemeinsamer Instrumente nach innen wie außen. Auf diese Weise verliert die europäische Politik ihr früheres Momentum, auf Krisen mit einer Verstärkung der Integration zu reagieren und auf diesem Wege zu wachsen. Integration schrumpft; die Europäische Union entwickelt ein „Weimar-Syndrom“ – sie organisiert europäisches politisches Handeln für eine Minderheit von Europäern.

Diese Schwäche europäischer Politik unterscheidet sich von der Phase der Ernüchterung in den 1990er Jahren. Die Jahre zwischen dem Vertrag von Maastricht und dem Vertrag von Nizza waren geprägt durch die fortschreitende Erosion der politischen Ambition, die Einheit des Kontinents politisch zu gestalten und Europa unter dem Dach einer handlungsfähigen Union zu integrieren. In Maastricht stand im Kern noch das Reformpotential der 1980er Jahre zur Entscheidung; diese Europäische Union war nicht die Antwort auf den Fall der Berliner Mauer, als die sie ausgegeben wurde. Die Folgeschritte litten unter der Wucht des Wandels im neuen Europa. Ihnen fehlte eine weiter reichende Idee für die Gestaltung einer EU in XXL, und mit jedem Schritt wuchs die Skepsis der Akteure wie der öffentlichen Meinung.

Als Außenminister hat Joschka Fischer versucht, diese Erosion mit seinen Überlegungen zur Finalität von Integration aufzuhalten und Ambition in den Prozess der Entwicklung einer großen EU zurückzuholen. Seine Humboldt-Rede im Jahr 2000 steht exemplarisch für den Versuch einer Reihe von Akteuren, Europa wieder stärker vom Ziel her zu denken, um dadurch Klarheit über die Zwischenschritte zu gewinnen. Der Verfassungskonvent hatte die Aufgabe, eben diese Ableitung der Zwischenschritte konkret zu formulieren. Mit dem Scheitern seines Entwurfs fiel die Europäische Politik auf ein „institutional engineering“ zurück und konsolidierte Bausteine der Reformdebatten im Vertrag von Lissabon. Der hybride Charakter der EU als gleichzeitig supranationale und intergouvernementale Ordnung wurde nicht überwunden, sondern vertieft, und zwar an beiden Enden.

Was als Wiedergewinnung der Balance zwischen zentripetalen und zentrifugalen Kräften gedacht war, hat zumindest bislang ihr Ziel verfehlt. Auf absehbare Zeit erscheint die zentripetale Dynamik der Integration gebrochen, auch wenn der Wandel durch den Theaterdonner der Spitzenkandidaturen und die Nominierung der derzeitigen Kommissionspräsidenten verdeckt wird. Die Symbolik dieses Akts übertrifft seinen Gehalt deutlich. Unterdessen gerät die Substanz der Integration zur Dispositionsmasse, dies zeigen die mit der britischen Androhung eines Austritts erzwungenen „Verhandlungen“ über eine Reform der EU. Die Balance zwischen Gemeinschaftsinteresse und Gemeinschaftsorientierung einerseits und nationalem Interesse und Positionswahrung andererseits ist tief gestört.

Folgen einer Präsidialisierung europäischer Politik

Als Verhandlungssystem zwischen Staaten ist die Europäische Union weit gekommen. Von den ersten Schritten einer außenpolitisch motivierten Gründung einer Teilwirtschaftsgemeinschaft ausgehend hat sie ein System entwickelt, in dem sich im Zentrum eine depolitisierte Hohe Behörde und der Ministerrat gegenüberstanden. Den Rat dominierten die Außenminister; unter ihren nationalen Kabinettskollegen waren ansonsten allenfalls die Agrarminister nennenswert im Entscheidungssystem der Integration präsent. Der Integrationsfortschritt hat diese Konstruktion tiefgreifend gewandelt. Neben den Allgemeinen Rat sind zahlreiche Fachministerräte getreten; es gibt in den Regierungen der Mitgliedstaaten kaum ein Ressort, das nicht über eine der Ratsformationen in der Brüsseler Gesetzgebungsmaschine vertreten wäre. In dieser Entwicklung hat der Allgemeine Rat zugleich seine zentrale Stellung eingebüßt; seine wichtigste Rolle besteht heute in der Positionsabstimmung der Mitgliedstaaten durch ihre Ständigen Vertreter; dass diesem Rat auf Ministerebene die Außenminister angehören, ist beinahe zum Anachronismus geworden, denn diese haben im Alltag der Europapolitik ihre führende Rolle verloren. Wichtiges Gegenüber der Räte ist heute das Europäische Parlament, denn über das Mitentscheidungsverfahren für weite Teile der Gemeinschaftspolitik sind Rat und Parlament als Gesetzgebungskammern verknüpft. Die Europäische Kommission erscheint ihrerseits deutlich stärker politisiert, denn sie hängt zunehmend stärker von der Unterstützung durch das Europäische Parlament ab. Diese Entwicklung wiederum ist entscheidend geprägt durch die Etablierung eines neuen Entscheidungszentrums der Mitgliedstaaten, den Europäischen Rat, der nach Jahrzehnten einer informellen Existenz mit dem Vertrag von Lissabon zur vollwertigen Institution geworden ist.

Die EU ist parlamentarischer und zugleich zum Handlungsfeld der Innenpolitik geworden. Interessanterweise werden die vielfältigen Interessen, Besitzstände und Anliegen weniger durch die Mitglieder des Europäischen Parlaments als durch die verschiedensten Ratsformationen und durch den Europäischen Rat ins EU-System hineingetragen. Die Regierungschefs sind in hohem Maße in die Innenpolitik ihres Landes eingebunden, mehr noch: sie repräsentieren die Innenpolitik wie kein anderer Akteur. Zwar können sie die Haltung ihrer Regierung qua Position leichter verändern als ein Minister, doch stehen sie unter deutlich höherer Beobachtung ihrer Öffentlichkeit. Mit den Regierungschefs verbinden sich also Darstellungs- und Statusbedürfnis nationaler Politik.

Im politischen Zentrum der heutigen EU steht damit eine Institution, in der politische Steuerung und Entscheidung den besonderen Gesetzen von Gipfelpolitik unterliegt. In seinem ersten Jahrzehnt, als informelle Zusammenkunft der Regierungschefs, hat das Gremium Entscheidungsblockaden gerade wegen der Privatheit seines Charakters überwinden können; heute muss der Europäische Rat unter praktisch gegenteiligen Bedingungen das Gleiche erreichen. Seine Agenda wird zunehmend länger und der Sitzungsrhythmus dichter, da mehr und mehr Entscheidungen auf die oberste Ebene bugsiert werden.

Diese Zuspitzung der Integrationspolitik auf den Europäischen Rat erfolgte weder zwangsläufig noch zufällig. Vielmehr speist sie sich aus dem über die 1990er Jahre wachsenden, tiefen Unbehagen der Regierungen mit dem politischen System, das sie selbst geschaffen haben. Dass Parlament und Rat zu einem Zwei-Kammer-System zusammenwachsen würden und damit der Kommission über die Zeit die Rolle einer Regierung zukommen würde, gehörte zwar zur Sonntagsrhetorik der Europapolitik, doch mit dem Vertrag von Maastricht und den Folgeverträgen wurde die Perspektive erheblich konkreter, während sich zugleich die diffuse Unterstützung für „Europa“ in der Öffentlichkeit vieler Staaten abschwächte.

In dieser Lage sollte die Betonung der Rolle der Staaten, ihre Abbildung im System durch den Europäischen Rat und die starke Betonung von dessen Rolle beruhigend wirken. Nationale politische Entscheider suchten ihre Kontrolle der Integration zu demonstrieren; den Europäischen Rat vermittelten sie als Sicherung gegen einen „europäischen Superstaat“ ebenso wie gegen eine Majorisierung der eigenen Europapolitik durch die der anderen. In dieser Inszenierung liegt ein gutes Stück an Rückwärtsgewandtheit, denn mit der Bekämpfung von EU-Skepsis durch den Nachweis von Kontrolle haben die Regierungen zugleich eine Erkenntnis aus sechs Jahrzehnten Integration in den Schatten gedrängt: Mit der Besetzung des Entscheidungszentrums durch den Europäischen Rat kehrt das zwischendurch funktional ausdifferenzierte politische System der EU scheinbar zu seinem Ursprung zurück – der im Konsens der Staaten getroffenen Entscheidung. Dass dies alles so nicht stimmt, es entsprechender Entscheidungen in Kommission, Rat und Parlament bedarf, wird gern verdrängt und in der breiteren Öffentlichkeit auch wenig wahrgenommen.

Aus dem Blick gerät damit auch eine wesentliche Leistung von Integration. Sie hat die schwindende Handlungsfähigkeit nationaler Politik in Bezug auf wesentliche Leistungsbereiche wie Sicherheit und Wohlfahrt kompensiert. Durch die Entwicklung der EU haben ihre Mitglieder an gemeinsamer Souveränität gewonnen, was sie faktisch an nationaler Souveränität verloren hatten. Integration hat den Nationalstaat in einer Umgebung wachsender Interdependenz stimmig gehalten – „Europa“ war dabei so erfolgreich, dass sich die Wahrnehmung des Problems völlig gedreht hat, weg von der Kapazitätslücke des Nationalstaats hin zur Beschränkung nationaler Handlungsfähigkeit durch die EU. Es kommt nicht von ungefähr, dass populistische Strömungen überall in der EU die Rückverlagerung von Souveränität fordern; ihre Führer haben den Vorgang erkannt, ziehen nur den völlig falschen Schluss.

Bewahrung als Vision

Es ist diese Europäische Union, deren innere Integrationsdynamik versiegt ist, die als Schicksalsgemeinschaft konzipiert wurde und sich nun in den Ansprüchen ihrer Mitglieder an die Nutzengemeinschaft verfängt. Ihre Handlungsschwäche rührt weniger aus Konfrontation durch Veto-Akteure von innen oder außen, vielmehr aus der Erosion ihres inneren Zusammenhalts und ihres äußeren Umfelds. Die Europäische Integration zerbricht nicht, doch sie bröckelt und verliert an Stabilität.

In ihrem Umfeld wächst die Kluft der wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen dem Raum der EU und ihrer Nachbarschaft. Im Osten wie im Süden werden die Europäer mit schwindender Staatlichkeit oder autoritärer Herrschaft, neuen Machtansprüchen und ideologischer Aufladung der zahlreichen sozialen und politischen Konflikte konfrontiert. Die Anreizsysteme europäischer Nachbarschaftspolitik funktionieren nicht und der Versuch, die Auswirkungen von Konflikten in der Nachbarschaft auf Europa zu begrenzen, greift nicht länger.

Die Staatsschuldenkrise wie die Flüchtlingskrise haben die Schwachstelle der Europapolitik aufgezeigt. Sie liegt im Minimalismus eines Krisenmanagements, das sich im Grundsatz an der Bewahrung des Status quo ausrichtet. Mit Mühen erreicht die europäische Politik ein Maß an Krisenreaktion, das ein Auseinanderfallen verhindert, aber auch nicht mehr. In der Schuldenkrise schuf die Krisenreaktion den am stärksten getroffenen Staaten Zeit zur Konsolidierung ihrer Schuldenposition, beharrte jedoch auf der Vorstellung, dass die erforderliche Strukturreform allein auf Ebene der betroffenen Mitgliedstaaten zu leisten sei. In der Flüchtlingskrise erreichte die Krisenreaktion eine Dämpfung des Zuwanderungsdrucks, verfehlte jedoch die Entwicklung wirksamer Solidarmechanismen nach innen und effektiver humanitärer Handlungsfähigkeit nach außen. In diese Reihe minimalistischen Krisenmanagements ließe sich auch der Umgang mit den britischen Forderungen nach Reform oder Austritt einordnen: Cameron erhielt eine Reihe von Zusagen, die den Gehalt der Integration ein wenig verwässern, sich zugleich aber als Erfolg seiner Forderungen interpretieren lassen – ein Erfolg, dessen Inhalt für den Ausgang des Referendums jedoch nicht entscheidend ist.

Unter diesen Umständen ist die Bewahrung des Bestehenden zum Leitbild der Europapolitik avanciert. Der Status quo als Vision – diese Vorstellung bringt den tiefgreifenden Wandel der Lage Europas auf den Punkt. Sie wird bestimmt von der Verunsicherung der Eliten angesichts des Entzugs diffuser Akzeptanz durch die Öffentlichkeit, von der gewachsenen Heterogenität der Europäischen Union mit ihrer Vielfalt an Interessen und Ansprüchen und vom Verlust früherer Konsenskoalitionen unter den Mitgliedstaaten. Die heutige Europäische Union ist politisch fragmentierter denn je zuvor; es fehlen die Gestaltungsmehrheiten, die Zahl der Veto-Akteure dagegen ist groß. Koalitionen bilden sich vielfach ad hoc, traditionelle Handlungsachsen haben an Wirkung eingebüßt.

In den Stagnationsphasen der Europapolitik der 1970er und 1980er Jahre sind die Krisenanalysen in Regierungs- und Expertenkreisen immer wieder zur Schlussfolgerung gelangt, Europäische Integration vertrage den Stillstand nicht. Ob in die Metapher des Fahrrads gekleidet, dessen Stabilität Vorwärtsbewegung verlangt, oder in der Gegenüberstellung von Fortschritt oder Verfall – zu dieser Zeit galt der Status quo als nicht haltbar. Und wenig spricht bislang dafür, dass die mit dem Vertrag von Lissabon zum Stillstand gekommene EU in dieser Position verharren kann. Die Anzeichen sprechen für einen Verfall im Stillstand, nicht zuletzt deshalb, weil die inneren wie äußeren Rahmenbedingungen und Bestimmungsfaktoren der Europäischen Union nicht still stehen, sondern sich dynamisch verändern. Erfolgreicher Managementminimalismus mag die Vorstellung nähren, die Integrationsdichte sei im Status quo zu bewahren, doch als Strategie erscheint der Ansatz riskant. Die Europapolitik ist in ihrer Folge extrem ergebnisabhängig geworden, und die Kalküle der beteiligten Akteure haben sich extrem in Richtung Nutzenmaximierung verschoben.

Integration braucht Projekte

Ein triftiger Grund für eine Strategie der Bewahrung könnte die Behauptung ihrer Alternativlosigkeit sein: Offenkundiger Integrationsbedarf trifft auf die politisch-institutionelle Unmöglichkeit seiner Umsetzung. Dies ist in der Tat ein Merkmal der gegenwärtigen Lage, denn die Hürden einer Vertragsänderung liegen ebenso hoch (Konventverfahren und Regierungskonferenz) wie die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns in der Ratifikation (Referenden).

Wenn Integration dennoch Projekte braucht, um aus Krisenlagen Chancen zu generieren, dann müssen Initiativen und ihre Träger anders gedacht werden als in der traditionellen Entwicklungslogik der Europapolitik. Das in der Flüchtlingskrise ins Zentrum der politischen Aufmerksamkeit gerückte Schengen-System kann als gutes Beispiel für Alternativstrategien dienen. Schengen gäbe es nicht ohne den Versuch einiger EU-Staaten, den Stillstand auf Ebene der Gemeinschaft durch eine Fortschrittsinitiative außerhalb der Verträge zu überwinden. Schengen war ein Avantgardeprojekt, durch das seine Initiatoren die Zukunft der Gemeinschaft vorzeichneten – nicht perfekt, aber konsequent.

In diesem Sinne braucht auch die heutige Europäische Union Initiativen, die auf die Fehlstellen des Krisenmanagements zielen und gemeinschaftliche Anliegen realisieren, zu deren Verwirklichung die EU insgesamt nicht in der Lage zu sein scheint. Zwei Beispiele aus unterschiedlichen Feldern der Europapolitik verdeutlichen das Potential von Integrationsinitiativen: eine Governance-Initiative nach innen und die Schaffung einer zivilen humanitären Interventionsfähigkeit nach außen.

Eine Governance-Initiative für Europa

Die Schuldenkrise hat deutlich gemacht, dass der Integrationsimpuls der Währungsunion in einer stärker intergouvernemental geprägten EU überschätzt und der Anpassungsbedarf innerhalb der Mitgliedstaaten unterschätzt wurde. Dass die hinter den Stabilitätsregeln liegende Erwartung rationaler und umfassend handlungsfähiger politischer Akteure übersteigert war, zeigte sich erst in der Vertiefung der Finanzkrise zur Staatsschuldenkrise. In den Jahren zuvor hatte der Zinseffekt des Euro die Adaptionsschwäche vieler EU-Staaten kaschiert. So blieb unbeachtet, dass die Qualität nationaler Rechtssetzung, die Nachhaltigkeit des Systems sozialer Sicherheit und die Effektivität öffentlicher Verwaltung, vor allem aber die Reformkapazität des politischen Systems zu entscheidenden Stellhebeln der Wettbewerbsfähigkeit der Euro-Staaten geworden war. Unter den Bedingungen des Euro wird „gutes Regieren“ zum Bestandteil der Integrationsfähigkeit der Mitgliedstaaten.

Im Krisenmanagement hat es sich als unzureichend erwiesen, schwierige Strukturreformen hauptsächlich durch fiskalische Konditionalität und Controlling-Instrumente zu steuern. Die souveränitätsschonend gedachte Betonung nationaler Eigenverantwortung hat ihr Gegenteil bewirkt, nämlich die Wahrnehmung des Verlusts von Autonomie verstärkt und die politischen Konflikte vertieft. In der griechischen Krise bedeutet dies, die Voraussetzung weiterer Hilfsleistungen – die Überwindung der Staatsschwäche Griechenlands – nicht allein durch technische Institutionen überwachen zu lassen, sondern direkt und gemeinsam anzugehen.

Parallel zum Hilfsprogramm sollten EU-Staaten eine mitgliedstaatliche Initiative unternehmen und die Unterstützung innerer Reformen mit Griechenland zu einer umfassenden Transformationspartnerschaft ausbauen. Gemeinsam sollten die Partner eine neue Ordnung für Griechenland entwickeln und zusammen das schaffen, was die Griechen nie hatten: ein modernes, demokratisches, Regel getragenes und effektives Regierungs- und Verwaltungssystem, das Vertrauen verdient und Gesetzestreue verlangen kann. Als Vorbild können die zahlreichen Twinning-Projekte der EU zur Unterstützung der Transformation in Mittel- und Osteuropa dienen.
Europapolitisch sinnvoll wäre zudem, die spezifische Initiative zugunsten der Transformation Griechenlands durch eine EU-weite Governance-Initiative der Mitgliedstaaten zu ergänzen, ein Gemeinschaftsprogramm zur Verbesserung der Regierungsqualität. Es sollte sich nicht auf die üblichen Elemente wie Benchmarking und „best practices“ beschränken, sondern die Reformkooperation der EU-Staaten untereinander anregen. Nach dem Modell des Kohäsionsfonds sollte ein Governance-Fonds auf EU-Ebene oder für die Eurozone geschaffen werden, um den reformbedingten Investitionsaufwand mitzufinanzieren.

Eine zivile humanitäre Interventionsfähigkeit für Europa

Die Konflikte im Nahen Osten und die Flüchtlingskrise belegen, dass die Europäer bessere außenpolitische Instrumente der Krisenbewältigung benötigen. Diplomatische Mittel greifen nicht in Situationen von Regierungsschwäche und Staatsversagen, militärische Mittel sind zumeist erst auf einer Stufe der Eskalation zu rechtfertigen, in der begrenzte Militäreinsätze selbst bereits nicht mehr hinreichend wirken. Eine umfassende Intervention von außen mit dem Ziel des anschließenden staatlichen Neuaufbaus hat bisher in keinem Fall zum intendierten Erfolg geführt. Europa braucht deshalb stärkere Fähigkeiten im Zwischenraum der beiden Pole: Krisenfrüherkennung und -prävention, schnellere und sichtbarere humanitäre Hilfe (nicht zuletzt um die Spannung zwischen normativer und realpolitischer Ebene zu reduzieren), Hilfe beim Wiederaufbau. Dabei müssen sich die Europäer unbedingt von der Fiktion des Exports ihres eigenen Modells lösen; Frieden, Stabilität und Entwicklung sind wichtigere Voraussetzungen für den Wunsch der Menschen auf ein besseres Leben als plurale Demokratie – letztere kann und soll folgen, allerdings auf der Basis von Entscheidungen der Betroffenen selbst.

Ein sichtbares Instrument jenseits des Minimalismus  im Krisenmanagement wäre die Entscheidung zum Aufbau einer stehenden humanitären Interventionsfähigkeit für Europa als Projekt einer Gruppe von Mitgliedstaaten. Diese zivile Truppe hätte den Auftrag im weiteren Raum der europäischen Nachbarschaft schnell und umfassend humanitäre Hilfe im Namen Europas zu leisten. Das hieße, gemeinsam mit betroffenen Staaten und in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen eine hinreichende und rasche Versorgung von Flüchtlingen zu gewährleisten, die neben Unterkunft und Ernährung auch ausreichende medizinische Hilfe sowie Bildungs- und Ausbildungsangebote umfasst. Im Unterschied zu den Vereinten Nationen, die ihre Mittel für Flüchtlingsarbeit erst einwerben müssen, wäre die europäische Organisation auf einem festen Budget von ca. sieben Mrd. Euro zu begründen, sie würde eine stehende Planungs-, Koordinations- und Führungsstruktur schaffen und den Kern der Einsatzkräfte vor Ort vorhalten. Zu ihren Ressourcen sollten auch mobile Hospitäler und Lufttransportfähigkeiten gehören.

Die derzeitige Krisenstrategie setzt auf das Management der Fluchtbewegungen durch die Türkei, deren Verhalten mit dem nötigen Minimum an finanziellen Leistungen gesteuert werden soll. Nach dem hier angerissenen Ansatz würden die Träger der humanitären Interventionsfähigkeit der Türkei, aber auch dem Libanon und Jordanien anbieten, Flüchtlingshilfe vor Ort gemeinsam zu betreiben, unter europäischer Flagge leistungsfähige Lager und Versorgungseinrichtungen zu schaffen und dafür deutlich mehr Budget als bisher vorhanden zu mobilisieren. Europa will und kann die Konfliktlage im weiteren Nahen Osten nicht militärisch kontrollieren, und es will und kann die Konfliktfolgen nicht umfassend über Wanderung in die EU verarbeiten. Unter diesen Bedingungen gilt es, die Werte und Normen europäischer Politik zu bewahren, in dem Europa den von Krieg und Zerstörung bedrohten Menschen wirksam hilft.

Beide der so skizzierten Initiativen bewegen sich im Rahmen der weiteren Zielsetzung der europäischen Verträge; beide sind unter den derzeitigen Bedingungen auf Ebene der 28 Mitgliedstaaten kaum zu realisieren. Das Governance-Projekt wie die humanitäre Eingreiftruppe sind jedoch als Initiative einer Gestaltungsgruppe politisch, rechtlich und institutionell umsetzbar. Entsprechende Projekte erforderten die Zusammenführung einer handlungswilligen Koalition auf der Basis einer integrationspolitischen Grundsatzentscheidung. Beide Vorhaben verfolgen anspruchsvolle Ziele, die sich nicht mit technischen Instrumenten oder symbolischen Handlungen erreichen lassen. Vielmehr setzen sie integrationspolitische Signale, die politisch gedeckt sein müssten.
Die Fallbeispiele sollen verdeutlichen, wo ein politisches Momentum in einer im Wesentlichen intergouvernemental verfassten und präsidial agierenden EU liegt. Der Ausweg aus der blockierten Integrationsvertiefung liegt in einer kalkulierten Initiative einer Gruppe von Staaten, die Integration über gemeinsames Handeln in den Bereichen  voranbringen, in denen mitgliedstaatliche Ressourcen und Handlungsfähigkeit hinreichend vorhanden sind, aber bisher nicht europapolitisch genutzt werden. Entscheidend ist, dass diese Initiativen auf Zielvorstellungen und Interessen der EU insgesamt bezogen sind und damit eine mögliche Zukunft der Integrationspolitik vorwegnehmen. Erst daraus erwächst ihr integrationspolitischer Impuls.

Integration braucht Projekte, nicht zuletzt, um die Ambitionen europäischer Staaten und ihrer politischen Führung an sich zu binden. Gelingt dies nicht, schwindet der politische Zusammenhalt der EU weiter. Wo kein Angebot zum opt-in besteht, bestimmt die Neigung zum opt-out das politische Klima. Vor allem Deutschland und Frankreich, die letzte verbliebene politikfeldübergreifende Gestaltungskoalition der EU müssen entscheiden, welche Perspektive sie für Europa wollen: den Minimalismus der Projektlosigkeit oder die Schwierigkeiten und Chancen der Avantgarde. Auf beiden Wegen können sie Europa führen, aber nur über die Initiative einer Avantgarde können sie Europa eine Richtung geben.

 

Dieser Beitrag erschien in unserer Publikation "Europa und die neue Weltunordnung: Analysen und Positionen zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitik".