Zwischen Rechtsgemeinschaft und Geopolitik: Europäische Sicherheitsordnung am Scheideweg

Europaflagge

Aus russischer Sicht wurde die europäische Spaltung nie wirklich überwunden, sondern für Moskau haben sich lediglich die Grenzen der Teilung Europas und der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zu eigenen strategischen Lasten immer weiter nach Osten verschoben.

Wer schon Mitte der 1970er Jahre das Ende der in Jalta vereinbarten europäischen Nachkriegsordnung und der durch das Potsdamer Abkommen im August 1945 faktisch besiegelten deutschen Teilung in weniger als zwei Jahrzehnten für möglich erachtet hätte, wäre wohl für einen unverbesserlichen Träumer gehalten worden. Jedoch, es war der mit der Unterzeichnung der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE, später OSZE) 1975 formalisierte „Helsinki-Prozess“, der die Saat für die politischen Um- und Aufbrüche an der Wende von den 1980er zu den 1990er Jahren legte.

Zu diesem Zeitpunkt mochte man sich in Europa ebenso wenig vorstellen, dass wiederum kaum 20 Jahre später ein ähnlich gravierender Wandel – nur unter deutlich negativeren Vorzeichen – vonstattengehen würde.

Bereits im Frühjahr 2007, als Russlands Präsident Putin anlässlich der Münchener Sicherheitskonferenz die NATO-Erweiterung als eine „Provokation für Russland“[1] verurteilte, zeichnete sich dieser Wandel ab, und die Verschlechterung des politischen Klimas verstärkte sich weiter, als der Westen die vom russischen Ministerpräsidenten Medwedew am 5. Juni 2008 vorgetragene Offerte eines neuen europaweiten vertraglichen Sicherheitssystems[2] nicht aufnahm und die NATO stattdessen, von Putins „Warnungen“ unbeeindruckt, im darauffolgenden Jahr beim Bukarester NATO-Gipfel auch Georgien und der Ukraine den Beitritt zum westlichen Bündnis in Aussicht stellte.[3]

Die seither zu beobachtende Abkühlung in den Ost-West-Beziehungen fand ihren vorläufigen Höhepunkt in der Annexion der Krim im Jahre 2014 und in der seither anhaltenden, mehr oder weniger offenen, russischen Unterstützung für separatistische Bestrebungen in der Ostukraine. In Reaktion auf die Annexion der Krim wurde Russland aus den wichtigsten Kooperations- und Konsultationsforen mit den westlichen Staaten, von der G8-Gruppe bis hin zum NATO-Russland-Rat, ausgeschlossen. Eine neue Runde des Wettrüstens begann, wechselseitig verhängte Sanktionen trübten die Atmosphäre der Zusammenarbeit weiter ein, wiederholte militärische Provokationen wechseln sich seither ab, von unangekündigten russischen Patrouillenflügen mit scharfer Bewaffnung über der Ost- und Nordsee angefangen bis hin zur angekündigten Stationierung amerikanischer Kampfpanzer in Polen und im Baltikum.

Im Scheitern der europäischen Einigung in den Jahren nach 1990 liegen die Ursachen für die heute zu beobachtenden Risse Europas. Wenn sich die oben beschriebenen Zyklen sicherheitspolitischen Wandels mit einer Zeitleiste von zwei Jahrzehnten fortsetzen, welche Brüche hätte Europa dann – gemessen an den Einschnitten nach 2007 – in etwa zehn Jahren zu erwarten, falls sich der seither zu beobachtende Zerfall der europäischen Sicherheitsordnung unvermindert fortsetzt? Ist das weitere Abdriften Europas in eine geopolitische Auseinandersetzung um Einflusszonen und territoriale Vorherrschaften zu befürchten? Oder bestehen noch Chancen, Europa zu einer Friedensordnung zu entwickeln bzw. wenigstens als Sicherheitsordnung und Rechtegemeinschaft zu erhalten?

Verschobene Bruchlinien europäischer Zusammenarbeit: Der Westen und Russland

Der über die sogenannte „Ukraine-Krise“ offen zutage getretene neue Bruch im Ost-West-Verhältnis kam, bei genauerer Betrachtung, nicht von ungefähr. Tatsächlich schuf die 1990 erfolgte feierliche Unterzeichnung der OSZE-Charta von Paris[4] mit ihrer Vision eines freien und geeinten Europas von Vancouver bis Wladiwostok von Anfang an ein Trugbild, weil die Auffassungen, wie sie in die Tat umzusetzen war, grundsätzlich einander zuwiderliefen.

Weder hatte der Westen ernsthaft im Sinn, zu irgendeinem künftigen Zeitpunkt sein kollektives Verteidigungssystem ohne Russland – die NATO – durch ein kollektives Sicherheitssystem mit Russland zu ersetzen, noch hatte Russland die Absicht, den ehemaligen Ostblockstaaten – vor allem aber nicht den früheren Republiken der Sowjetunion – freizustellen, sich irgendwann, und schon gar nicht ohne Zustimmung Russlands, für eine Mitgliedschaft in der EU oder gar der NATO zu entscheiden. Zwar hatten der amerikanische Präsident Bill Clinton 2005 und russische Kreml-Berater sogar noch 2010 die Möglichkeit einer russischen Mitgliedschaft in der NATO in den Raum gestellt, jedoch mochten letztlich weder Moskau noch Washington diese Option wirklich verfolgen[5]. Russland sah sich auf Augenhöhe mit den USA als eine Art Garantiemacht für ein kollektives Sicherheitssystem ohne NATO, letztere aber suchte ihre neue Rolle nach dem Ende des Ost-West-Konflikts – nicht zuletzt vor dem Hintergrund offen artikulierter Interessen ihrer Mitglieder und früherer Warschauer Pakt-Staaten, die NATO als verlässlichen und bewährten Anker zu behalten, sowohl für eine enge euroatlantische Partnerschaft mit den USA als auch gegen etwaige künftige militärische Risiken. Russland erhielt zwar ebenfalls Zugang zum „Wartezimmer“ für einen NATO-Beitritt[6] – die sogenannte „Partnerschaft für den Frieden“ – sah im westlichen Bündnis jedoch stets eher eine potentielle Bedrohung seiner europäischen Interessen und setzte auf eine strategische Partnerschaft mit den USA. Für diesen Zweck war Moskau anfangs noch zu weiteren Verhandlungen zur bilateralen Rüstungskontrolle mit den USA bereit.

Gelang es dem Westen im Zuge der Erweiterung der NATO zunächst noch, Russland mit Kooperationsangeboten konzessionsbereit zu stimmen, deuteten sich grundlegende Friktionen bereits mit den US-geführten „Koalitionen der Willigen“ (Kosovo, Afghanistan, Irak) an, und sie setzten sich mit den Entscheidungen zur Aufkündigung des Vertrages zur Beschränkung strategischer Raketenverteidigung sowie zur Errichtung eines vorgelagerten sogenannten „Raketen-Abwehrschirmes“ in Europa fort.[7] Erst aber das Angebot zur NATO-Mitgliedschaft und zur EU-Assoziierung der Ukraine bedeutete für Russland ein Überschreiten des politisch Zumutbaren. Nicht außer Acht gelassen darf allerdings, dass letztlich auch die bereits vollzogenen Erweiterungsrunden der NATO und EU in Russland zu keinem Zeitpunkt als Vorteil, sondern stets als einseitiges Zugeständnis betrachtet wurden. Aus russischer Sicht wurde insofern die europäische Spaltung nie wirklich überwunden, sondern für Moskau haben sich lediglich die Grenzen der Teilung Europas und der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit zu eigenen strategischen Lasten immer weiter nach Osten verschoben.

Unverkennbar ist, dass der Westen die Ambitionen zu weiteren Beitritten seiner östlichen Nachbarn nicht hat zurückweisen wollen oder können, auch weil keinem Drittstaat – insbesondere nicht Russland – diesbezüglich ein Veto zugestanden werden sollte. Der Westen hat aber auch nicht die konstanten russischen Wahrnehmungen entkräften können, dass insbesondere die NATO, und vor allem die USA, einseitige strategische Vorteile aus der Erweiterung für sich ziehen wollten. Jaap de Hoop Scheffers Kommentar zu Putins Rede im Jahre 2007, dass Russland sich doch nicht sorgen solle, „wenn Demokratie und Rechtsstaat näher an die eigenen Grenzen rücken“, untermauerte nur den Verdacht der russischen Führung, dass der Westen Russland weiterhin als Gegenmacht verstand und weder eine enge Partnerschaft noch die Sicherheitsinteressen Russlands ernsthaft in Betracht ziehen wollte.[8] Das Misstrauen wurde noch weiter verstärkt, nachdem US-Präsident Barack Obama im Zuge der Ukraine-Krise Moskau mit seiner Formel von der „Regionalmacht Russland“ öffentlich gedemütigt hatte.[9]

Russland wiederum hat seinerseits immer auf einer exklusiven Vorzugsstellung und -behandlung im Vergleich zu seinen westlichen Nachbarn bestanden, und damit gerade dort die Furcht vor einer beabsichtigten Restauration imperialer Vormundschaft genährt. Moskaus Versuch, seine Ordnungsansprüche durch territoriale Kontrolle, vor allem auch unter Zuhilfenahme militärischer Präsenz, durchzusetzen – angefangen von  Transnistrien (Moldau), über Abchasien und Südossetien (Georgien), bis hin zu Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan (innerhalb der Russischen Föderation) und schließlich der Krim und Ostukraine (Ukraine) – hat das Vertrauen in die Berechenbarkeit Russlands als verlässlichen Sicherheitspartner erschüttert, zuvorderst natürlich bei den unmittelbaren Nachbarn, aber auch im westlichen Europa und in den USA. Ein „Archipel von Hybriden“ sei entstanden, durch den Russland seine geopolitische Interessenssphäre zu schützen und zu halten sucht.[10]

Und so ist heute in vielen europäischen Ländern kaum mehr von Sicherheit mit Russland die Rede, sondern von Abschreckung und Sicherheit vor Russland, unter direkter Bezugnahme auf ein fast 50 Jahre altes strategisches Konzept der NATO noch aus den Zeiten des Kalten Krieges, den Pierre-Harmel-Bericht von 1968.[11] Der Harmel-Bericht suchte seinerzeit, das Abschreckungskonzept der NATO durch eine Dialogkomponente zu ergänzen. Die heutige Referenz erfolgt unter umgekehrten Vorzeichen.

Russland sieht dadurch möglicherweise seine traditionellen Einkreisungsängste bestätigt, jedenfalls formuliert es solche auch öffentlich. Zutreffend ist allerdings auch, dass antiwestliche Vorhaltungen und nationalistische Rhetorik in der russischen Außen- und Sicherheitspolitik mit einer seit Jahren bereits zunehmenden Verstärkung autokratischer Entwicklungen in der russischen Innen- und Gesellschaftspolitik einhergehen und nun verstärkt zu deren Legitimierung herangezogen werden. Die russische Führung wirft dem Westen die Anstiftung ehemals „verbündeter“ Staaten vor, sich von Russland abzuwenden[12], und benutzt diese Vorwürfe aber zugleich, um eigene geopolitische Expansionsbestrebungen außen- wie auch innenpolitisch zu rechtfertigen.

Für einige seit der NATO-Erweiterung westlich verankerte Länder, darunter die baltischen Staaten, Polen und auch die Slowakei, sind die schärfere Abgrenzung zu Russland und eine dezidierte Politik der kollektiven Abschreckung der NATO gegenüber Russland bereits seit den frühen 1990er Jahren konstitutiv, weil sich für sie darin schon immer der einzig tragfähige Weg manifestierte, eine Rückkehr russischer Vorherrschaft über ihre Länder auf Dauer zu verhindern. Ihr Interesse an dauerhaften Vorausstationierungen von NATO-Truppen und Streitkräften, vor allem der USA, ist so alt wie das Ende des Ost-West-Konflikts – es scheint nur heute, infolge der russischen Ukrainepolitik, auch innerhalb der NATO erstmals insgesamt konsensfähig. Russlands „hybride Kriegführung“[13], seine politische und auch militärische Unterstützung von Sezessionsbestrebungen  in den östlichen Teilen der Ukraine, haben dazu beigetragen, indem sie die Solidarität des Westens mit der Ukraine offen herausforderten und die Idee einer europäischen kollektiven Sicherheitsgemeinschaft mit Russland in weite Ferne gerückt haben.

Jedoch, die westlichen Positionen sind in der Reaktion auf den heraufziehenden neuen Ost-West-Konflikt uneinheitlich, zum Teil sogar widersprüchlich. So hat vielerorts Enttäuschung über mangelnden Reformeifer und Willen der politischen Führung in der Ukraine zur Umsetzung der Minsker Vereinbarungen um sich gegriffen, zum anderen ist für den Westen die Kooperation mit Moskau in wichtigen sicherheitspolitischen Fragen (Syrien, Nichtverbreitung, Terrorbekämpfung) schlichtweg unabdingbar. Hinzu kommt eine sich immer mehr ausweitende Krise der europäischen Binnenintegration sowie der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Es scheint, als würden die westeuropäischen Staaten – selbst konfrontiert mit einer Fülle schwieriger, aber für sich sehr unterschiedlich stark auswirkender, krisenhafter Entwicklungen (Extremismus und Terrorismus, wirtschaftliche Rezession, Finanzprobleme, Flüchtlingskrise, Erosion von Demokratie, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit, fortschreitende politische Polarisierung u.a.) – weder den Willen noch die Kraft aufbringen wollen, sich den Tendenzen zunehmender Fragmentierung in der europäischen Zusammenarbeit zu widersetzen. Nationale Interessen gewinnen in Teilen Europas zunehmend die Oberhand, und selbst Alleingänge einzelner Staaten sind zu beobachten. Und so nehmen selbst im Verhältnis zu Russland und zur Fortsetzung der Sanktionspolitik gegenüber der Führung in Moskau die politischen Differenzen zwischen den Mitgliedern in der NATO und in der EU erkennbar zu.

Der polnische Außenminister Witold Waszczykowsk sieht in Russland eine „größere Bedrohung“ für Europa als den sogenannten Islamischen Staat und plädiert für noch schärfere Abgrenzung.[14] Hingegen haben Griechenland, Österreich, Ungarn und vor allem Italien im Dezember 2015 erkennen lassen, dass sie an der unbefristeten Fortsetzung der Sanktionen gegen Russland kein Interesse besitzen.[15] Deutschland setzt sich vor dem Hintergrund der multiplen Krisen in der Welt für eine rasche Rückkehr Russlands in die G8 ein und betont die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit mit Moskau sowohl im Rahmen des NATO-Russland-Rates als auch im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Hinsichtlich der Lage in Syrien und bei der Bekämpfung der Terrororganisation Daesh bzw. Islamischer Staat (IS) ist Russland tatsächlich längst wieder ein wichtiger politischer und auch militärischer Partner, wenngleich die bilateralen Spannungen vor allem zwischen der Türkei und Russland offenbaren, dass sich auch hier nationale Partikularinteressen auf die Möglichkeiten sicherheitspartnerschaftlicher Zusammenarbeit nachteilig auswirken. Das Vertrauen jedoch, daran gibt es keinen Zweifel, ist nachhaltig zerstört. Anlässlich der erstmaligen Wiederaufnahme des NATO-Russland-Rates nach fast zweijähriger Funkstille, ließ der russische NATO-Botschafter Alexander Gruschko den Westen wissen: „Wir haben (…) keine Projekte, die uns wieder zurückführen zu verbesserten Beziehungen in Bereichen, wo wir gemeinsame Interessen haben.“[16]

Europa steht heute buchstäblich am Scheideweg, und die Entwicklungsrichtung ist inmitten einer umfassenden Krise unbestimmter als je zuvor in den zurückliegenden Jahrzehnten. Dass Europa bereits in einen neuen Kalten Krieg zwischen Ost und West hineingerutscht sei, wie vom russischen Ministerpräsidenten Dimitri Medwedew auf der jüngsten Münchener Sicherheitskonferenz im Frühjahr 2016 insinuiert[17], ist zwar nicht ausgemacht. Auch ist ungewiss, ob die Verschiebung der Bruchlinien nach Osten, welche infolge der NATO-Osterweiterung und der militärisch untersetzten russischen Geopolitik entstanden sind, die europäische Zukunft tatsächlich dauerhaft prägend bestimmen wird.

Wenn aber eine vorläufige Lehre aus den jüngsten Entwicklungen in Europa (Stichworte: Bekämpfung Terrorismus, nukleare Nichtverbreitung, Flüchtlingskrise) gezogen werden kann, dann ist es die folgende: Europa hat weder in der Vergangenheit davon profitiert, noch wird es in der Zukunft aus einer Konfrontation mit Russland in Bereichen gemeinsamer strategischer Interessen irgendwelchen Nutzen ziehen. Anders gefasst: in Grundfragen europäischer Sicherheit bedarf es auch künftig einer konstruktiven Zusammenarbeit aller Staaten in Europa unter Beteiligung Russlands.

Europäische Sicherheitspolitik als Krisenmanagement?

Während sich die Anzeichen für die Ausbreitung von Geopolitik in Europa verdichten (wie im Falle der genannten regionalen Konflikte an der russischen Peripherie, hinzu kommen die Spannungen in der Türkei und im Nahen/Mittleren Osten), bestehen die Gründe, welche gegen eine neuerliche Aufteilung Europas in Einflusszonen konkurrierender Staaten sprechen, unverändert fort.

Zum einen sind dagegen manifeste europäische Erfahrungen ins Feld zu führen. Das stete Ringen um geopolitische Vorherrschaft trug zweifellos Mitverantwortung für die an Kriegen nicht mangelnde Geschichte Europas in den zurückliegenden Jahrhunderten. Die längste Friedensperiode auf dem Kontinent seit dem Ende des 30-jährigen Krieges war nicht zuletzt auch das Ergebnis einer Jahrzehnte währenden strategischen Einsicht unter den Siegermächten des II. Weltkrieges, dass die Risiken eines neuerlichen Krieges in Europa die Aussichten auf etwaige Positionsgewinne gegeneinander um Vieles überragten. Die wechselseitige nukleare Abschreckung der beiden militärischen Blöcke hatte daran gewiss ihren zähmenden Anteil, jedoch scheinen die Lehren daraus für Konflikte an der Peripherie Europas heute offenbar nicht (mehr) zu gelten, obwohl sich im Grundsatz nichts daran geändert hat: dass jeder bewaffnete Konflikt unter Beteiligung von atomwaffenbesitzenden Staaten die Gefahr auch ihres Einsatzes birgt und dass jeder militärische Konflikt zwischen atomwaffenbesitzenden Staaten in Europa das Risiko der Eskalation bis hin zur völligen Verwüstung mit sich bringen würde.

Wenn schon nicht die positiven Erfahrungen der europäischen Sicherheitskooperation ausreichen, um politische Vernunft walten zu lassen, so sollten doch wenigstens die unabweislichen Gefahren eines militärischen Großkonflikts die Neigung zu geopolitischen Rivalitäten zügeln. Europa hat mit der Verrechtlichung und Verregelung seiner Beziehungen nicht nur sehr gute Erfahrungen gemacht, sondern seine rechtsgestützte Ordnung der Europäischen Union immer auch als Vorbild für ein internationales Sicherheitssystem erachtet und propagiert. Der Friedensnobelpreis wurde der Europäischen Union vor allem wegen ihres inneren Friedens zuerkannt. Nachhaltigkeit und Glaubwürdigkeit dieses Modells stehen jetzt aber auf dem Spiel.

Ein zweiter Aspekt, der gegen geopolitische Ambitionen spricht, scheint vor dem Hintergrund aktueller und akuter Krisen fast in den Hintergrund geraten zu sein. Die Vielzahl von globalen Problemen und Herausforderungen stehen weiterhin, zum Teil mit anwachsender Dringlichkeit auf der Tagesordnung. Keines der bekannten Risiken, angefangen von den Folgen des Klimawandels bis hin zur Ausbreitung staatlicher Fragilität, wurde bisher auch nur in Ansätzen durch geopolitische Macht- und Einflussverschiebungen befördert oder gar gelöst. Im Gegenteil: Fortschritte, welche in Teilbereichen und einzelnen Regionen erreicht worden sind, etwa bei der Armutsbekämpfung oder bei der Verringerung der Kindersterblichkeit[18], waren nur möglich, weil in langwierigen Verhandlungen zwischen den Staaten kooperative Vereinbarungen erzielt wurden. Globale Probleme können weder in nationalen Alleingängen noch auf Kosten Dritter bewältigt werden. Weder machen sie vor territorialen Grenzen halt, noch lassen sie sich mit Hilfe militärischer Mittel hegen.

Drittens sind auch die Gefährdungen europäischer Sicherheit im engeren Sinne – etwa durch die drohende Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln und Raketentechnologien, durch die Zerstörung von Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle und nicht zuletzt durch transnational operierenden Terrorismus – nicht mithilfe der Verstärkung nationaler Verteidigung oder der Einschränkung von Freizügigkeit und bürgerlichen Freiheiten – zu mindern. Für jede der genannten Gefährdungen gibt es zur grenzüberschreitenden Kooperation keine plausible, gar bessere Alternative. Auch hier im Gegenteil: Rüstungskontrolle gründet naturgemäß auf einem Mindestmaß an wechselseitiger Verlässlichkeit in der Zusammenarbeit, aus der, über Jahre hinweg, allmählich Vertrauen wachsen kann. Geopolitische Ambitionen zerstören hingegen dieses Vertrauen, und sie nähren Zweifel an der Berechenbarkeit des Gegenübers. Ähnliches gilt für den Umgang mit Terrorgefährdungen. Die Erosion der Kooperation zwischen den Staaten und der Verlust rechtsstaatlicher Autorität verringern die Hemmschwellen für die Anwendung von Gewalt innerhalb und zwischen den Staaten und tragen dadurch zum Nährboden für die Entstehung und Ausbreitung von Terrorismus bei. Die Schwächung der Rechtsgemeinschaft unterminiert dabei unvermeidlich auch den sie tragenden Rechtsstaat. Gleiches gilt freilich auch in umgekehrter Richtung.

Und so wird schließlich, viertens, auch die erkennbare Anfälligkeit des demokratischen Rechtsstaates unter den Umständen einer sich vertiefenden wie ausbreitenden systemischen Krise – von der Unterwanderung des Sozialstaates bis hin zur Finanzkrise, der Flüchtlingskrise und der Zunahme politischer Fragmentierung – zur Quelle von systemischer Destabilisierung.

Die großen Herausforderungen europäischer Friedens- und Sicherheitspolitik sind durch Krisenmanagement nicht zu bewältigen. Wenn letzteres dazu führte, sich auf die Notwendigkeit strategischer Gemeinsamkeit und Zusammenarbeit zu besinnen, könnte Krisenmanagement ein Schritt zur allmählichen Wiederherstellung von Vertrauen sein. Die Wiederaufnahme des NATO-Russland-Rates deutet auf eine solche Möglichkeit hin, auch die erwogene Rückkehr zum Format der G8. Gegenläufige Tendenzen sind aber ebenso nicht zu übersehen, insofern bedarf es mutiger Initiativen in politischer Verantwortung, um dem europaweit verstärkenden Trend von Populismus und Opportunismus als Fixpunkt politischen Handelns in essentiellen außen- und sicherheitspolitischen Fragen entgegenzuwirken.

Emanzipation vs. Gefolgschaft: Europas transatlantische Beziehungen

Die USA sind, nicht nur politisch betrachtet, ein wichtiger Teil Europas. Sie sind bis zum heutigen Tage die Führungsmacht der NATO und stellen den Oberkommandierenden der alliierten Streitkräfte in Europa. Sie sind teilnehmender Staat der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und im Rahmen der getroffenen Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung (z.B. Open-Skies-Vertrag, Wiener Dokument[19]) ein wichtiger Garant für die europäische Sicherheitsarchitektur. In strategischer Hinsicht werden die USA in vielen Staaten Europas zudem als eine ausgleichende bzw. als eine Schutzmacht gegenüber Russland wahrgenommen.

Das transatlantische Verhältnis war in den zurückliegenden Jahren nicht immer konfliktfrei und ist es auch heute nicht. Während die US-Sicherheitspolitik traditionell im Spannungsfeld zwischen isolationistischen und interventionistischen Bestrebungen mäandert (die in den Debatten während der US-Wahlkampagnen 2016 erneut sichtbar wurden[20]), hat es die europäische Seite noch immer nicht geschafft, einen wirklich starken, mitgestaltenden europäischen Kräftepol im euroatlantischen Verhältnis zu entwickeln.

Hierfür gibt es viele Gründe. Einer der wichtigeren darunter ist dem Umstand geschuldet, dass die europäischen Partner einerseits zum Teil sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Rolle der USA in Europa und in der gemeinsamen Allianz besitzen, andererseits in den USA – nicht zuletzt wegen der mangelnden Einigkeit ihrer europäischen Partner – die Neigung zu bilateralen Abmachungen, gelegentlich sogar zu einem vormundschaftlichen Verhältnis, weit verbreitet ist. Der schwache Einigungswille unter den Europäern – gleichwohl ob in Fragen der Sicherheit, der Wirtschafts- und Handelbeziehungen oder im Bereich der Währungspolitik – überlässt den USA vor allem in Krisenzeiten eine stärkere politische Gestaltungsmacht, welche diese angesichts diverser Interessenkonflikte im transatlantischen Verhältnis aber gar nicht unbedingt wahrnehmen wollen. Mehr als in der Vergangenheit setzen die USA andere geopolitische Prioritäten und messen strategischen Kooperationen in anderen Weltregionen ähnliche oder gar eine bevorzugte Bedeutung bei. Will Europa sich in der Partnerschaft mit den USA politisch emanzipieren und der Gefahr oktroyierter Gefolgschaft entgehen, wird es nicht umhin kommen, sich gemeinschaftlicher Ziele sowohl in Europa als auch im transatlantischen Verhältnis zu besinnen und diese dann auch konsequent zu verfolgen. Auch hier gilt, dass keine vernünftige Alternative zu einem kooperativen Grundmuster europäischer Politik existiert. 

Quo vadis Europa?

Eingangs dieses Textes wurde gefragt, in welchem Zustand sich Europa in etwa zehn Jahren befinden könnte, wenn sich die beobachteten Zyklen europäischer Umbrüche fortsetzen. Ein genauerer Blick in die Vergangenheit lässt uns wissen und hoffen, dass die beobachteten Zyklen keine naturgesetzlichen Grundlagen besitzen. Nach dem Einmarsch russischer Truppen in Afghanistan drohte eine Eiszeit in den Ost-West-Beziehungen, welche die Kriegsgefahr in Europa ungeachtet des Helsinki-Prozesses in kürzester Zeit rapide erhöhte. Dass die Früchte des Helsinki-Prozesses dennoch geerntet werden konnten, lag am Mut der polnischen Solidarnosc-Bewegung und anderer oppositioneller Gruppen in Mittel- und Osteuropa, an den politischen Einsichten und Reformbestrebungen des russischen Parteiführers Gorbatschow sowie am Verhandlungsgeschick Präsident Reagans und auch am vernünftigen Miteinander in der deutsch-deutschen Politik in den 1980er Jahren.

Die Terroranschläge in New York im September 2001 hätten in ähnlicher Weise eine Zäsur bedeuten und – diesmal unter positiven Vorzeichen – neuen Schwung in die internationale Zusammenarbeit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts bringen können. Die plötzliche Chance einer weltweiten Koalition gegen Terrorismus wurde jedoch vergeben und die in der Folge getroffenen strategischen Entscheidungen in Ost und West trugen nicht unwesentlich zum späteren Aufkommen von Geopolitik bei.

Ähnlich wie in den 1980er Jahren gilt aber auch heute, dass die Möglichkeit zur Umkehr fortbesteht. Woran es aktuell zu fehlen scheint, ist der politische Mut, sich den negativen Trends und dem Zeitgeist populistischen Handelns entgegenzustellen. Die erfolgreichen Akteure der 1980er Jahre übernahmen eigene Verantwortung zur Überwindung der Konfrontation zwischen Ost und West im Wissen um den Preis eines möglichen persönlichen Scheiterns. Entsprechende Lehren für die Gegenwart zu ziehen, ist geboten, steht vielerorts allerdings noch aus.

 

Dieser Beitrag erschien in unserer Publikation "Europa und die neue Weltunordnung: Analysen und Positionen zur europäischen Außen- und Sicherheitspolitik".

 

[2] Speech of the Russian President Dimitry Medvedev at a Meeting with German Political, Parliamentarian and Civic Leaders, Berlin, 5. Juni 2008. http://archive/kremlin/ru/eng/speeches/2008/06/05/2203_type82912type829… (Zugriff am 21.04.2016)

[3] NATO-Gipfelerklärung von Bukarest, Abs. 23. http://www.nato.diplo.de/Vertretung/nato/de/06/Gipfelerklaerungen/Gipfe… l (Zugriff am 15. 04. 2016)

[4] Charta von Paris für ein neues Europa. http://www.osce.org/de/mc/39518?download=true. (Zugriff am 15. 04. 2016)

[5] Ein diesbezüglicher Brief Bill Clintons an Präsident Jelzin wurde im April 1995 bekannt, von den NATO-Partnern jedoch umgehend verworfen. Vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9180697.html. Der russische Vorstoß im Jahre 2010 reagierte auf die Offerte der NATO gegenüber Georgien und die Ukraine. Er sah drei Optionen, darunter anstelle einer vollen Mitgliedschaft in der Allianz wenigstens die Bildung einer gemeinsamen Verteidigungsunion vor. Vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/sicherheitspolitik-kreml-liebaeug… (Zugriff am 21.04.2016)

[6] Die Formulierung vom „Wartezimmer“ stammt vom Warschauer Politikexperten Ryzard Zieba und sie war auf die Bedeutung der „Partnerschaft für den Frieden“ für Polen gemünzt. Vgl. Hans-Joachim Gießmann: Sicherheitspolitik in Ostmitteleuropa, Baden-Baden 1995, S. 79.

[7] Russland kündigte daraufhin 2013 die Stationierung eigener neuer Raketen im Gebiet Kaliningrad an.

[9] Nikolaus Busse: „Rede in Den Haag: Obama verspottet Russland als Regionalmacht“, FAZ E-Paper. http://www.faz.net/aktuell/politik/rede-in-den-haag-obama-verspottet-ru… (Zugriff am 17.04. 2016)

[10] Andreas Wittkowsky: Verschleppte Konflikte im OSZE-Raum: Deeskalation und Prävention als Prioritären 2016, ZIF-Policy Briefing, Februar 2016, S. 1

[11] Claudia Major/Jeffrey Rathke: NATO needs Deterrence and Dialogue, SWP Comments C18 April 2016, S. 1-4

[13] „Hybride Kriegführung“ beschreibt eine Mischform offen oder verdeckt zur Anwendung gebrachter Formen regulärer und irregulärer, militärischer und nichtmilitärischer Mittel zum Zweck, die völkerrechtlich binäre Regelung von Zuständen des Kriegs und des Friedens zu verwischen. Vgl. Florian Schauer, Alte Neue Kriege. Thesen zur hybriden Kriegführung. www.bmvg.de/portal/a/bmvg/ (Zugriff am 20.04.2016)

[16] Spiegel-Online, „NATO und Russland trennen grundlegende Differenzen“. http://www.spiegel.de/politik/ausland/nato-und-russland-gespraeche-werd… (Zugriff am 20.04.2016)

[17] Dmitry Medvedev’s speech. http://government.ru/en/news/21784/ (Zugriff am 15.04.2016)

[18] Vgl. OXFAM Factsheet. Die Millenium-Entwicklungsziele: Was wurde bisher erreicht? https://www.oxfam.de/system/files/mdg_fact_sheet_final.pdf

[19] Der Vertrag über den „offenen Himmel“ schreibt wechselseitige Rechte der Vertragsstaaten zur Durchführung von Beobachtungsflügen vor, das Wiener Dokument enthält verbindliche Regelungen zur Vertrauensbildung und Sicherheit im gesamten Raum der OSZE.

[20] Andreas Mink: „Sieben Männer gegen Hillary Clinton“, Neue Zürcher Zeitung, 23.04.2015.